Читать книгу Nichts zu verlieren / In aller Stille - Sue Grafton - Страница 14

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Ich hielt an der Montebello-Apotheke, da ich schon mal in der Gegend war. Der Apotheker, auf dessen Namensschild »Carroll Sims« stand, war in den Fünfzigern, mittelgroß, mit freundlichen braunen Augen hinter einer freundlichen Schildpattbrille.

Er war gerade dabei, einer sehr alten Frau zu erklären, woraus ihre Medizin eigentlich bestand und wie sie eingenommen werden sollte. Die Erklärung verwirrte und ärgerte sie gleichzeitig, aber Sims war taktvoll und beantwortete ihre aufgeregten Fragen mit wohlwollender Güte. Ich konnte mir vorstellen, wie ihm die Leute ihre Warzen und Katzenbisse zeigten, ihm über die Theke hinweg Brustschmerzen und Harnsymptome beschrieben. Als ich an die Reihe kam, wünschte ich, ich hätte ein Wehwehchen gehabt, von dem ich ihm erzählen könnte. Statt dessen zeigte ich ihm meinen Ausweis.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Haben sie zufällig schon vor acht Jahren hier gearbeitet, als Laurence Fife ermordet wurde?«

»Aber sicher. Mir gehört der Laden. Sind Sie eine Bekannte von ihm?«

»Nein«, sagte ich. »Man hat mich beauftragt den ganzen Fall noch mal zu untersuchen. Ich hielt es für naheliegend, hier damit anzufangen.«

»Ich glaube nicht, daß ich Ihnen viel weiterhelfen kann. Ich kann Ihnen das Medikament nennen, das er genommen hat, die Dosierung, die Zahl der Ersatzpackungen, den Arzt, der es verschrieben hat, aber ich kann Ihnen nicht sagen, wie es vertauscht worden ist. Da bin ich überfragt. Ich kann einfach nicht sagen, wer das war.«

Die meisten Informationen, die mir Sims gab, kannte ich bereits. Laurence hatte ein Antihistaminikum namens HistaDril genommen, das er seit Jahren bekam. Etwa einmal jährlich suchte er einen Allergologen auf, und in der Zwischenzeit wurde das Rezept automatisch verlängert. Das einzige Neue, was Sims mir mitteilte, war, daß man HistaDril kürzlich wegen möglicher karzinogener Nebenwirkungen vom Markt genommen hatte.

»Mit anderen Worten, wenn Fife das Medikament noch ein paar Jahre geschluckt hätte, wäre er womöglich an Krebs erkrankt und sowieso gestorben.«

»Mag sein«, sagte der Apotheker. Wir starrten uns einen Moment lang an.

»Sie haben keine Ahnung, wer ihn umgebracht hat?« sagte ich.

»Nein.«

»Tja, ich glaube, das wär’s dann. Sind Sie bei dem Prozeß gewesen?«

»Nur als ich aussagte. Ich habe die Arzneiflasche als eine von hier identifiziert. Die Kapseln waren erst kurz vorher von Fife selbst geholt worden, und wir hatten dabei noch geplaudert. Er nahm HistaDril schon so lange, daß wir darüber kaum ein Wort verlieren mußten.«

»Wissen Sie noch, worüber Sie sich unterhalten haben?«

»Ach, das Übliche. Ich glaube, drüben hinter der Stadt hat es damals gebrannt, und wir sprachen eben darüber. Viele Leute mit Allergien waren besorgt wegen der erhöhten Luftverschmutzung.«

»Setzte sie ihm zu?«

»Sie setzte allen ein bißchen zu, aber ich entsinne mich nicht, daß er schlimmer dran war als sonst jemand.«

»Tja«, sagte ich, »ich danke Ihnen für Ihre Zeit. Rufen Sie mich an, falls ihnen noch irgendwas einfällt? Ich stehe im Telefonbuch.«

»Wenn mir was einfällt, klar«, sagte er.

Es war Mitte des Nachmittags, und mit Gwen war ich erst um sechs verabredet. Ich fühlte mich rastlos und unwohl. Stück für Stück suchte ich Hintergrundinformationen zusammen, aber bisher bewegte sich nichts. Ob je etwas dabei herauskam, war fraglich. Soweit es den Staat Kalifornien betraf, war Recht ergangen, und nur Nikki Fife stand dazu im Widerspruch. Nikki und der namenlose, gesichtslose Mörder von Laurence Fife, der acht Jahre strafrechtlicher Immunität genossen hatte, acht Jahre Freiheit, die zu stören ich jetzt beauftragt war. An irgendeinem Punkt mußte ich zwangsläufig jemandem auf den Schlips treten, und dieser Jemand würde nicht von mir erbaut sein.

Ich entschloß mich, hinter Marcia Threadgill herzuspionieren. Als sie über den Riß im Trottoir stolperte, war sie gerade aus dem Kunstgewerbeladen gekommen, wo sie sich die nötigen Utensilien gekauft hatte, um eine dieser mit diversen Muscheln beklebten Handtaschen aus Holz zu basteln. Ich stellte mir vor, wie sie Apfelsinenkisten auseinandernahm, raffinierte Mobiles aus Eierschachteln schuf, verziert mit Girlanden aus Plastikmaiglöckchen. Marcia Threadgill war sechsundzwanzig, und sie litt an schlechtem Geschmack. Der Inhaber des Kunstgewerbeladens hatte mich über ihre bisherigen Projekte aufgeklärt, und sie erinnerten mich durch und durch an meine Tante. Marcia Threadgill war im Grunde ihres Herzens billig. Sie modelte gemeinen Schrott in Weihnachtsgeschenke um. Das ist meiner Ansicht nach die Geisteshaltung, die zum Betrug an Versicherungsgesellschaften und zu anderen schlauen Tricks führt. Das ist die Sorte Mensch, die es fertigbringt, an Pepsi Cola zu schreiben, sie hätte ein Mausehaar in ihrem Drink gefunden, um sich damit einen Gratiskasten Limo zu verschaffen.

Ich parkte einige Häuser unterhalb ihrer Wohnung und holte mein Fernglas hervor. Ich rutschte ganz runter, visierte ihren Patio an, und dann fuhr ich in die Höhe. »Nicht zu fassen«, schnaubte ich.

An der Stelle des ekelhaften, braun verwelkten Farns befand sieh eine Hängepflanze von gewaltigen Ausmaßen, die gut und gern zwanzig Pfund wiegen mußte. Wie hatte sie es denn geschafft, die an einem Haken so hoch über ihrem Kopf zu befestigen? Ein Nachbar? Freund? Hatte sie es zufällig selbst getan? Ich konnte sogar das Preisschild erkennen, das an der Seite des Topfes klebte. Sie hatte sie für 29,95 Dollar in einem Gateway-Supermarkt gekauft, ein ganz schöner Preis, wenn man bedenkt, daß sie wahrscheinlich voller Fruchtfliegen waren.

»Mist«, sagte ich. Wo war ich, als sie diese Mama hochgewuchtet hatte? Zwanzig Pfund Edelgrün und feuchtes Erdreich an einer Kette in Schulterhöhe. Hatte sie sich auf einen Stuhl gestellt? Ich fuhr geradewegs zum nahen Gateway-Supermarkt und lief nach hinten zu den Naturerzeugnissen. Da waren fünf oder sechs solcher Pflanzen – Dumbowedel oder Elefantenzungen, wie immer die verdammten Dinger heißen. Ich hob eins. O mein Gott. Es war schlimmer als ich dachte. Sperrig und schwer, unmöglich ohne Hilfe zu bewältigen. Ich schnappte mir einen Film an der Kasse für »Zehn Teile oder weniger, keine Schecks« und lud meine Kamera. »Marcia, du Herrchen«, säuselte ich, »dir reiß ich den Arsch auf.«

Ich fuhr zurück zu ihrer Wohnung und holte das Fernglas wieder hervor. Kaum lag ich auf dem Rücken, das Glas auf ihren Patio gerichtet, da erschien Miss Threadgill selbst und zog so einen langen Plastikschlauch hinter sich her, der an ihren Wasserhahn angeschlossen sein mußte. Sie sprengte, sprühte, spritzte und zog weiter, bohrte einen Finger in die Erde, pflückte von einer anderen Topfpflanze auf dem Patiogeländer ein vergilbtes Blatt. Eine wahre Besessene anscheinend, die die Unterseite der Blätter nach Gott weiß was für Schädlingen untersuchte. Ich studierte ihr Gesicht. Sie sah aus, als hätte sie rund fünfundvierzig Dollar anläßlich einer kostenlosen Make-up-Vorführung in irgendeinem Kaufhaus ausgegeben. Mokka und Caramel auf den Augenlidern. Himbeer auf den Wangen. Lippenstift in Schokoladenfarbe. Ihre Fingernägel waren lang und annähernd in dem Ton der Kirschfüllung mancher Dosenbonbons lackiert, bei denen man sich wünscht, man hätte nicht so schnell hineingebissen.

Eine alte Frau in einem Nylon-Jerseykleid trat auf den Patio über dem von Marcia, und die beiden hatten eine Unterhaltung. Ich vermutete, daß es Grund zur Klage gab, denn keine von beiden sah glücklich aus, und schließlich stürzte Marcia davon. Die alte Dame schrie etwas hinter ihr her, das selbst als Pantomime noch schmutzig wirkte. Ich stieg aus, schloß den Wagen ab und nahm ein Klemmbrett und einen Kanzleiblock mit.

Marcias Wohnung hatte im Mieterverzeichnis die Nummer 2C. Die Wohnung über ihr lief auf den Namen Augusta White. Ich nahm lieber die Treppe als den Fahrstuhl und pausierte erst einmal vor Marcias Tür. Sie spielte aus vollem Rohr eine Barry-Manilow-Scheibe, und noch während ich zuhörte, drehte sie die Musik weiter auf. Ich ging eine Treppe höher und klopfte an Augustas Tür. Sie war im Nu da und reckte ihr Gesicht durch den Spalt wie ein Pekinese, mitsamt den dazugehörigen Glubschaugen, Stupsnase und Kinnbart. »Ja?« blaffte sie. Sie war mindestens achtzig Jahre alt.

»Ich bin von dem Gebäude nebenan«, sagte ich. »Wir hatten einige Klagen wegen des Lärms, und der Verwalter bat mich, das nachzuprüfen. Könnte ich Sie mal sprechen?« Ich hielt mein amtlich aussehendes Klemmbrett hoch.

»Augenblick.«

Sie trennte sich von der Tür und stampfte in die Küche, um ihren Besen zu holen. Ich hörte, wie sie ein paarmal auf den Küchenboden hämmerte. Von unten kam ein gewaltiger Schlag, als hätte Marcia Threadgill mit einem Kampfstiefel gegen die Decke gebolzt.

Augusta White stampfte zu mir zurück und blinzelte durch den Türspalt. »Sie sehen mir aus wie ein Grundstücksmakler«, sagte sie argwöhnisch.

»Na, ich bin aber keiner. Ehrlich.«

»Sie sehen trotzdem aus wie einer, also verschwinden Sie hier bloß mit Ihren Papieren. Ich kenne alle Leute nebenan, und Sie sind keiner davon.« Sie schlug die Tür zu und warf den Riegel vor.

Damit war das erledigt. Ich zuckte die Achseln und stieg die Treppe wieder hinunter. Von draußen nahm ich die Terrassen in Augenschein. Die Patios waren nach Pyramidenart versetzt, und in einer kurzen Vision sah ich mich an der Außenseite des Gebäudes emporklettern wie ein Hochparterrespezialist, um Marcia Threadgill aus nächster Nähe zu bespitzeln. Ich hatte wirklich gehofft, jemanden für eine direkte Auskunft über Miss Threadgill gewinnen zu können, aber im Moment mußte ich das mal zurückstellen. Ich machte ein paar Aufnahmen von der Hängepflanze, vorn günstigen Aussichtspunkt meines Wagens her, und hoffte, sie würde bald welken und an einem schlimmen Fall von Wurzelfäule eingehen. Ich wollte dabeisein, wenn sie eine neue aufhängte.

Ich fuhr zurück in meine Wohnung und warf ein paar Notizen hin. Da es erst Viertel vor fünf war, schlüpfte ich in meinen Joggingdreß: Shorts und ein altes baumwollenes Rollkragenhemd.

Ich bin wirklich kein Trimm-dich-Befürworter. Ich bin vielleicht nur einmal in meinem Leben in Form gewesen, und zwar, als ich mich für die Polizeischule qualifizierte, doch das Laufen hat etwas an sich, das eine masochistische Ader befriedigt. Es tut weh, und ich bin langsam, aber ich habe gute Schuhe und rieche meinen Schweiß gern. Ich laufe auf den anderthalb Meilen Gehsteig, die dem Strand folgen. Normalerweise ist die Luft dort etwas feucht und sehr sauber. Palmen säumen die breite Grasfläche zwischen dem Gehsteig und dem Sand, und immer sind auch andere Jogger da, die meistens sehr viel besser aussehen als ich. Ich machte zwei Meilen und hatte genug. Meine Waden schmerzten. Mein Brustkorb brannte. Ich schnaufte und keuchte, beugte mich aus der Taille vor, malte mir aus, daß alle möglichen Giftstoffe durch meine Poren und Lungen herausgepumpt wurden, eine richtige Entschlackung. Ich ging einen halben Block, und dann hörte ich ein Auto hupen. Charlie Scorsoni hielt am Straßenrand, in einem hellblauen 450 SL, der ihm sehr gut stand. Ich wischte mein nasses Gesicht am Hemdsärmel ab und ging zu seinem Wagen hinüber.

»Sie haben ganz rote Backen«, sagte er.

»Ich seh immer aus, als kriegte ich einen Anfall. Sie müßten mal sehen, was ich für Blicke einfange. Was tun Sie hier unten?«

»Ich habe Schuldgefühle. Weil ich Sie gestern nicht ausreden ließ. Hüpfen Sie rein.«

»Bloß nicht.« Ich lachte, während ich immer noch versuchte, zu Atem zu kommen. »Ich bin viel zu verschwitzt für Ihr Auto.«

»Und wenn ich Ihnen bis zuhause nachfahre?«

»Ist das ihr Ernst?«

»Klar«, sagte er. »Ich dachte, ich bin mal besonders nett, damit Sie mich nicht auf die Liste Ihrer möglichen Täter setzen.«

»Nützt nichts. Ich verdächtige jeden.«

Als ich aus der Dusche kam und meinen Kopf zur Badezimmertür rausstreckte, sah Scorsoni sich gerade die Bücher an, die sich auf meinem Schreibtisch stapelten. »Hatten Sie Zeit, die Schubladen zu durchsuchen?« fragte ich.

Er lächelte treuherzig. »Sie waren abgeschlossen.«

Ich lächelte und schloß die Badezimmertür wieder, um mich anzuziehen. Mir fiel auf, daß ich mich freute, ihn zu sehen, und das paßte nicht zu mir. Ich bin knallhart, was Männer angeht. Ich denke nicht oft, daß ein Mann von achtundvierzig Jahren »süß« ist, aber so kam er mir vor. Er war groß und hatte hübsche Locken in den Haaren, die randlose Brille brachte seine blauen Augen fast zum Leuchten. Das Grübchen in seinem Kinn schadete auch nichts.

Ich verließ das Bad und ging barfüßig zur Kochnische. »Möchten Sie ein Bier?«

Er saß inzwischen auf der Couch, blätterte in einem Buch über Autodiebstahl. »Sehr erlesener Geschmack«, sagte er. »Kann ich Sie nicht zu einem Drink einladen?«

»Ich muß um sechs wohin«, sagte ich.

»Dann tut’s auch ein Bier.«

Ich öffnete eins, gab es ihm und setzte mich mit untergeschlagenen Beinen an das andere Ende der Couch. »Sie müssen extra früher aus dem Büro sein. Ich bin geschmeichelt.«

»Ich geh heute abend noch mal hin. Ich habe einige Tage auswärts zu tun. Dafür muß ich meine Aktentasche packen und auch für Ruth noch ein paar Kleinigkeiten in Ordnung bringen.«

»Warum nehmen Sie sich dann Zeit für mich?«

Scorsoni gab mir ein spöttisches Lächeln mit einem kaum merklichen Anflug von Gereiztheit. »Gott, wie kratzbürstig. Warum soll ich mir keine Zeit für Sie nehmen? Wenn Nikki Laurence nicht ermordet hat, dann liegt mir eben auch daran, herauszufinden, wer es war und weiter nichts.«

»Sie glauben doch keine Sekunde, daß sie unschuldig ist.«

»Ich glaube, daß Sie es glauben«, erwiderte er.

Ich schaute ihn ernst an. »Ich kann Ihnen keine Informationen geben. Das verstehen Sie hoffentlich. Ich könnte jede Hilfe Ihrerseits gebrauchen, und wenn Sie einen guten Einfall haben, würde ich den sehr gern hören, aber es kann nicht gegenseitig sein.«

»Wollen Sie einen Anwalt über Klientenrechte belehren, ja? Du meine Güte, Millhone. Geben Sie mir eine Chance.«

»Schon gut, schon gut. Entschuldigung«, sagte ich. Ich sah auf seine großen Hände hinunter und wieder hoch in sein Gesicht. »Ich wollte mich nur nicht aushorchen lassen, das ist alles.«

Sein Gesichtsausdruck entspannte sich, und sein Lächeln war träge. »Sie sagten doch, Sie wüßten sowieso nichts«, betonte er, »was gibt’s denn dann zu holen? Sie sind so eine gottverdammte Meckerliese

Darüber lächelte ich. »Hören Sie, ich weiß nicht, wie meine Aussichten in dieser Sache sind. Ich habe noch kein Gefühl dafür, und das macht mich nervös.«

»Klar, und Sie arbeiten daran schon – wieviel – zwei Tage?«

»So ungefähr.«

»Dann geben Sie sich selber ruhig auch eine Chance.« Er nahm einen Schluck Bier und setzt die Flasche mit einem leichten Schlag auf dem Couchtisch ab. »Ich war gestern nicht ganz ehrlich zu Ihnen«, sagte er.

»Worüber?«

»Libby Glass. Ich wußte, wer sie war, und ich konnte mir auch denken, daß er eine Beziehung mit ihr hatte. Ich fand nur nicht, daß es Sie was angeht.«

»Ich verstehe nicht, was das jetzt noch ausmachen soll«, sagte ich.

»Das habe ich mir eben auch überlegt. Und vielleicht ist es für Ihren Fall wichtig – wer weiß? Ich glaube, seit er tot ist, habe ich dazu geneigt, ihn mit einer Reinheit auszustatten, wie er sie in Wirklichkeit nie besaß. Er hat eine Menge herumpoussiert. Aber sein Geschmack neigte normalerweise zur begüterten Klasse. Ältere Frauen. Diese schlanken, eleganten, die in den Adel einheiraten.«

»Und wie war Libby?«

»Ich weiß es im Grunde nicht. Ich habe sie einige Male getroffen, als sie unsere Steuererklärung aufsetzte. Sie machte einen ganz netten Eindruck. Jung. Sie kann nicht älter als fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig gewesen sein.«

»Hat er Ihnen gesagt, daß er ein Verhältnis mit ihr hatte?«

»Aber nein, woher? Mit seinen Flirts hat er meines Wissens nie angegeben.«

»Ein wahrer Gentleman«, sagte ich.

Scorsoni warf mir einen warnenden Blick zu.

»Es sollte nicht witzig sein«, sagte ich rasch. »Ich hörte schon, daß er über die Frauen in seinem Leben den Mund gehalten hat. Mehr war nicht gemeint.«

»Ja, das hat er. Er spielt immer mit verdeckten Karten. Deswegen war er auch ein guter Anwalt. Er gab sich nie eine Blöße, ließ sich nie durchschauen. In den letzten sechs Monaten vor seinem Tod war er allerdings merkwürdig – übervorsichtig. Es gab Momente, da dachte ich fast, er wäre nicht gesund, aber es war nichts Körperliches. Es war eine Art seelischer Schmerz, wenn Sie die Floskel verzeihen.«

»Sie haben an dem Abend ein Glas mit ihm getrunken, nicht wahr?«

»Wir waren abendessen. Unten im Bistro. Nikki war irgendwo außerhalb, und wir spielten Rakett und nahmen dann einen Happen zu uns. Es ging ihm ausgezeichnet, soweit ich das beurteilen konnte.«

»Hatte er sein Antiallergikum dabei?«

Scorsoni schüttelte den Kopf. »Er war ohnehin nicht sehr für Tabletten. Tylenol, wenn er Kopfschmerzen hatte, aber das kam selten vor. Sogar Nikki hat zugegeben, daß er die Allergiekapsel erst nahm, als er nach Hause kam. Es muß jemand gewesen sein, der dort Zugang hatte.«

»War Libby Glass mal hier?«

»Geschäftlich nicht, soviel ich weiß. Sie mag ihn hier besucht haben, aber mir hat er nie etwas davon gesagt. Warum?«

»Ich weiß nicht. Ich dachte nur, daß irgendwer sie quasi gleichzeitig vergiftet haben könnte. Sie starb zwar erst vier Tage später, aber das ist nicht schwer zu erklären, wenn sie sich das Medikament selbst verabreicht hat.«

»Von ihrem Tod habe ich nie viel mitbekommen. Ich glaube noch nicht einmal, daß es hier in den Zeitungen stand. Er ist allerdings in Los Angeles gewesen, das weiß ich. Anderthalb Wochen, bevor er starb.«

»Das ist interessant. Ich fahre sowieso da runter. Vielleicht kann ich das mal überprüfen.«

Er blickte auf seine Uhr. »Ich lasse Sie jetzt besser allein«, sagte er im Aufstehen. Ich stand auf und schlenderte mit ihm zur Tür; komisch, aber ich wollte eigentlich nicht, daß er ging.

»Wie haben Sie abgenommen?« sagte ich.

»Wo? Hier?« fragte er und klatschte sich auf die Taillengegend. Er beugte sich leicht zu mir, als hätte er vor, mir eine unfaßliche Diät aus Selbstkasteiung und Entsagung anzuvertrauen.

»Ich hab aufgehört mit Schokoriegeln. Die hatte ich immer in meiner Schreibtischlade«, flüsterte er verschwörerisch. »Snickers und Drei Musketiere, Hersheys Küßchen, die mit der Silberpackung und dem kleinen Papierkringel obendrauf? Hundert am Tag...«

Ich fühlte ein Lachen in mir aufsteigen, weil sein Ton so zärtlich war und er sich anhörte, als bekenne er eine heimliche Neigung zum Tragen von Strumpfhosen. Wenn ich mich ihm jetzt zuwandte, würde ich ihm näher sein, als ich glaubte bewältigen zu können.

»Marsriegel? Baby Ruth?« sagte ich.

»Ununterbrochen«, bestätigte er. Ich konnte fast die Wärme seines Gesichts spüren und blickte seitlich zu ihm hoch. Dann lachte er über sich, brach den Bann, und seine Augen hielten meine nur ein wenig länger fest, als sie es sollten. »Bis demnächst«, sagte er.

Wir gaben uns die Hand, als er ging. Ich wußte nicht, warum – vielleicht nur als Vorwand zum Anfassen. Selbst ein so beiläufiger Kontakt bewirkte, daß sich die Haare entlang meinem Arm aufstellten. Mein Frühwarnsystem gellte wie verrückt, und ich war mir nicht sicher, wie ich das deuten sollte. Es ist die gleiche Empfindung, die ich manchmal im zwanzigsten Stock habe, wenn ich ein Fenster öffne – die Vorstellung, ins Leere zu fallen, wird entsetzlich verlockend. Bei mir vergeht viel Zeit zwischen den Männern, und vielleicht war es mal wieder soweit. Nicht gut, dachte ich, nicht gut.

Nichts zu verlieren / In aller Stille

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