Читать книгу Nichts zu verlieren / In aller Stille - Sue Grafton - Страница 18

11

Оглавление

Haycraft & McNiece befanden sich im AVCO-Gebäude in Westwood, nicht weit von meinem Motel. Ich parkte auf einem teuren, an die Leichenhalle von Westwood Village grenzenden Parkplatz, nahm den Eingang bei der Wells Fargo Bank und fuhr mit dem Lift nach oben. Die Büros lagen unmittelbar rechts, als ich ausstieg. Ich stieß eine messingbeschriftete Tür aus massivem Teak auf. Das Innere bestand aus einem ungleichmäßig roten Fliesenboden, deckenhohen Spiegeln und rustikaler grauer Holztäfelung, an der hier und dort Sträuße aus getrocknetem Korn hingen. Die Empfangsdame saß hinter einem abgeteilten Korral zu meiner Linken. Ein Schild mit der Aufschrift »Allison, Empfangsdame« stand auf dem Eckpfosten des Zauns, die Lettern waren in das Holz eingebrannt wie mit einem glühenden Eisen. Ich gab ihr meine Karte.

»Ich möchte gern mit einem leitenden Angestellten sprechen«, sagte ich. »Ich untersuche den Mord an einer Prüferin, die mal hier gearbeitet hat.«

»Ach ja. Ich habe von ihr gehört«, sagte Allison. »Einen Moment.«

Sie war in den Zwanzigern, mit langen, dunklen Haaren. Sie trug Jeans und eine dünne Krawatte, ihr Westernhemd sah aus, als wäre es mit einer Menge Heu ausgestopft. Ihre Gürtelschnalle war geformt wie ein bockender Mustang.

»Was ist das hier? Ein Wildpark oder so?« fragte ich.

»Hm?«

Ich schüttelte den Kopf, da ich nicht gewillt war, das Thema weiterzuverfolgen, und sie klackte mit ihren hochhackigen Stiefeln durch eine Schwingtür. Kurz darauf kam sie wieder.

»Mr. McNiece ist nicht da, aber der Mann, mit dem Sie sprechen wollen, ist wahrscheinlich Garry Steinberg mit doppeltem R.«

»B-e-r-r-g?«

»Nein, G-a-r-r-y.«

»Ach so. Verzeihung.«

»Schon okay«, sagte sie. »Den Fehler machen alle.«

»Wäre es denn möglich, Mr. Steinberg zu sprechen? Nur ganz kurz.«

»Er ist diese Woche in New York«, sagte sie.

»Und Mr. Haycraft?«

»Er ist tot. Ich meine, also, der ist seit Jahren tot«, erklärte sie. »Darum sind wir jetzt eigentlich McNiece und McNiece, aber keiner will das ganze Firmenpapier ändern lassen. Der andere McNiece hat Sitzung.«

»Gibt es sonst noch jemand, der sich an sie erinnern könnte?«

»Ich glaube nicht. Tut mir leid.«

Sie reichte mir meine Karte zurück. Ich drehte sie um und kritzelte die Nummer meines Motels und meines Antwortdienstes in Santa Teresa drauf.

»Könnten Sie das Garry Steinberg geben, wenn er wieder da ist? Ich wäre für einen Anruf wirklich dankbar. Er kann’s als R-Gespräch machen, wenn ich nicht mehr hier im Motel bin.«

»Klar«, sagte sie. Sie setzte sich hin, und ich hätte schwören können, daß sie die Karte geradewegs in den Papierkorb bugsierte. Ich beobachtete sie einen Moment, und sie lächelte mich blöde an.

»Vielleicht könnten Sie sie ihm mit einer Notiz auf den Schreibtisch legen«, schlug ich vor.

Sie beugte sich leicht hinunter und kam wieder hoch, die Karte in der Hand. Sie spießte sie auf einen gefährlich aussehenden Metalldorn neben dem Telefon.

Ich betrachtete sie noch ein wenig länger. Daraufhin nahm sie die Karte vom Dorn und erhob sich.

»Ich leg sie mal auf seinen Schreibtisch«, sagte sie und klackte wieder los.

»Gute Idee«, fand ich.

Ich fuhr zurück zum Motel und führte ein paar Telefongespräche. Ruth in Charlie Scorsonis Büro sagte, er sei noch verreist, gab mir aber die Nummer seines Hotels in Denver. Ich rief an, doch er war nicht im Haus, also hinterließ ich meine Nummer am Nachrichtenschalter. Ich rief Nikki an und brachte sie auf den neuesten Stand, und danach sprach ich mit meinem Antwortdienst. Sie hatten keine Nachrichten. Ich zog meine Jog-gingsachen an und fuhr zum Strand hinunter, um zu laufen. Sehr schnell fügten sich die Dinge ja nicht ineinander. Bis jetzt kam es mir vor, als ob ich lauter Konfetti im Schoß hätte, und wie ich das alles zusammensetzen sollte, damit es ein Bild ergab, war mir wahrhaftig ein Rätsel. Die Zeit hatte die Fakten zerstückelt wie eine große Maschine, so daß nur feine Papierfädchen geblieben waren, um die Wirklichkeit zu rekonstruieren. Ich fühlte mich unbeholfen und reizbar, und ich mußte Dampf ablassen.

Ich parkte in der Nähe der Santa Monica Pier und joggte südwärts über die Promenade, einen asphaltierten Gehweg parallel zum Strand. Ich trottete an den alten Männern vorbei, die in ihre Schachpartien vertieft waren, vorbei an dünnen schwarzen Jungen, die mit unglaublicher Anmut Skateboard liefen oder vielmehr Boogie tanzten zu der verborgenen Musik ihrer Kopfhörer, vorbei an Gitarrespielern, Potrauchern und Faulenzern, deren Blicke mir verächtlich folgten. Dieser Streifen Plaster ist das letzte Überbleibsel der Drogenkultur der sechziger Jahre – die barfüßigen, schwerlidrigen und mürrischen jungen Leute, die manchmal jetzt wie siebenunddreißig statt wie siebzehn aussehen, aber immer noch mystisch und unnahbar. Ein Hund schloß sich mir an, lief neben mir her, ließ die Zunge hängen, rollte dann und wann glücklich die Augen zu mir hoch. Sein Fell war dick und borstig, in der Farbe von Malzkaramellen, und sein Schwanz ringelte sich wie eine Faschingströte. Er war eine von diesen Boulevardmischungen mit großem Kopf, kurzem Rumpf und kleinen Stummelbeinen, aber er schien sich seines Eigenwertes durchaus bewußt. Zusammen trotteten wir über die Promenade hinaus, vorbei an Ozone, Dudley, Paloma, Sunset, Thornton und Park; bis wir Wave Crest erreichten, hatte er das Interesse verloren und drehte ab, um sich an einer Partie Frisbee draußen am Strand zu beteiligen. Zuletzt sah ich ihn, wie er nach einem unglaublichen Sprung, mit dem er ein Frisbee mitten im Flug gefangen hatte, das Maul zu einem Grinsen verzog. Ich lächelte zurück. Er war einer der wenigen Hunde seit Jahren, die ich wirklich mochte.

Am Venice Boulevard machte ich kehrt, lief noch den größten Teil der Strecke und fing erst an zu gehen, als ich wieder die Pier erreichte. Der Meereswind linderte meine Körperhitze. Ich war außer Atem, aber nicht sehr verschwitzt. Mein Mund fühlte sich trocken an, die Wangen glühten. Es war kein langer Lauf gewesen, aber ich hatte mich etwas mehr ins Zeug gelegt als sonst, und meine Lungen brannten: Verbrennungsmotor in der Brust. Ich lief aus den gleichen Gründen, aus denen ich auch lernte, einen Wagen mit Knüppelschaltung zu fahren und meinen Kaffee schwarz zu trinken; der Tag konnte kommen, an dem irgendein unverhoffter Notfall mich zu einer solchen Härteprobe zwang. Dieser Dauerlauf war außerdem eine »Zugabe«, da ich bereits beschlossen hatte, mir wegen guten Betragens einen Tag freizunehmen. Zuviel Tugend hat eine zersetzende Wirkung. Ich stieg in mein Auto, als ich abgekühlt war, und fuhr auf dem Wilshire ostwärts, zurück in mein Motel.

Als ich die Tür meines Zimmers aufschloß, begann das Telefon zu läuten. Es war mein Kumpel in Las Vegas mit Sharon Napiers Adresse.

»Fantastisch«, sagte ich. »Dafür bin ich wirklich dankbar. Verrat mir, wohin ich mich wenden kann, wenn ich runterkomme, und ich bezahle dir was für deine Zeit.«

»Postlagernd ist am besten. Ich weiß nie, wo ich lande.«

»Alles klar. Wieviel?«

»Fünfzig Piepen. Ein Sonderpreis. Für dich. Sie ist nirgends verzeichnet, und es war nicht einfach.«

»Melde dich, wenn ich den Freundschaftsdienst erwidern kann«, sagte ich, wohl wissend, daß er es tun würde.

»Ach, und Kinsey«, sagte er, »sie ist Kartengeberin beim Blackjack im Fremont, aber sie verdient sich so einiges nebenbei, wie ich höre. Ich hab sie gestern abend in Aktion gesehen. Sie ist sehr raffiniert, aber mir macht sie nichts vor.«

»Tritt sie irgendwem auf die Zehen?«

»Nicht direkt, sie ist aber nahe dran. Du weißt, in dieser Stadt juckt es niemanden, was du tust, solange du nicht betrügst. Sie sollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.«

»Danke für den Hinweis«, sagte ich.

»Aber klar«, sagte er und hing ein.

Ich duschte und zog mir eine Hose und ein Hemd an, dann ging ich über die Straße und aß gebratene, in Ketchup ertränkte Muscheln mit einer Extraportion Fritten dazu. Ich trank noch zwei Tassen Kaffee und ging zurück auf mein Zimmer. Sowie ich die Tür hinter mir schloß, begann das Telefon zu läuten. Diesmal war es Charlie Scorsoni.

»Wie geht’s in Denver?« fragte ich, sobald er sich gemeldet hatte.

»Nicht schlecht. Wie geht’s in L. A.?«

»Ganz gut. Heute abend fahre ich nach Las Vegas.«

»Spielfieber?«

»Überhaupt nicht. Ich habe einen Hinweis auf Sharon.«

»Großartig. Sagen Sie ihr, sie soll mir meine sechshundert Dollar zurückzahlen.«

»Ja, ja. Klar. Mit Zinsen. Ich versuche rauszufinden, was sie über einen Mord weiß, und Sie wollen, daß ich mich mit ihr wegen alter Schulden streite.«

»Ich werde nie dazu kommen, das steht fest. Wann sind Sie wieder in Santa Teresa?«

»Samstag vielleicht. Auf der Rückfahrt über L. A. am Freitag will ich ein paar Kisten durchsehen, die Libby Glass gehörten. Aber ich nehme an, es wird nicht lange dauern. Wieso fragen Sie?«

»Ich wollte Sie doch zu einem Drink einladen«, sagte er. »Ich verlasse Denver übermorgen, werde also vor Ihnen wieder in der Stadt sein. Rufen Sie mich an, wenn Sie zurückkommen?«

Ich zögerte ein winziges bißchen. »Okay.«

»Ich meine, vergeben Sie sich nichts, Millhone«, sagte er sarkastisch.

Ich lachte. »Ich rufe an. Ich schwör’s.«

»Wunderbar. Bis dann.«

Nachdem ich eingehängt hatte, merkte ich, daß ein albernes Lächeln sich viel länger auf meinem Gesicht hielt, als es sollte. Was war nur an diesem Mann?

Las Vegas ist etwa sechs Autostunden von L. A. entfernt, und ich entschied, ich könnte eigentlich gleich losfahren. Es war kurz nach sieben und noch nicht dunkel, also warf ich meine Sachen auf den Rücksitz und sagte Arlette, ich würde für zwei Tage weg sein.

»Soll ich Ihre Anrufe weiterleiten, oder was?« fragte sie.

»Ich rufe Sie an, wenn ich dort bin, und lasse Sie wissen, wo man mich erreichen kann.«

Ich fuhr auf dem San Diego Freeway nach Norden, bog auf den Ventura, dem ich ostwärts folgte, bis er in den Colorado Freeway überging, eine der wenigen freundlichen Straßen im ganzen Autobahnnetz von L. A. Der Colorado ist breit und spärlich befahren, er durchschneidet die nördliche Grenze des Stadtgebiets von Los Angeles. Auf dem Colorado ist es möglich, die Fahrspur zu wechseln, ohne daß man Angstzustände bekommt, und die robuste Barriere, die den nach Osten gehenden Verkehr von dem nach Westen trennt, bietet die beruhigende Gewähr, daß keine Autos leichtfertig herüberschlenkern und einem frontal auf den Kühler knallen. Vom Colorado bog ich schräg nach Süden, fuhr auf den San Bernardino Freeway und nahm die 15 nordostwärts, eine lange, unregelmäßige Diagonale in Richtung Las Vegas. Wenn ich Glück hatte, konnte ich mit Sharon Napier reden und dann weiter nach Süden zum Saltonsee fahren, wo Greg lebte. Auf dem Rückweg konnte ich den Kreis mit einem Schwenk nach Claremont schließen, um kurz mit seiner Schwester Diane zu plaudern. Noch war ich nicht sicher, was mir die Reise bringen würde, aber ich mußte die Grundlagen meiner Untersuchung vervollständigen. Und Sharon Napier erwies sich bestimmt als interessant.

Ich fahre gerne nachts. Schaulust ist nicht meine Sache, und wenn ich durch das Land fahre, verlocken mich die Sehenswürdigkeiten der Natur niemals zu Umwegen. Ich habe kein Interesse für dreißig Meter hohe Felsen in der Form krummhalsiger Kürbisse. Ich bin nicht wild darauf, jn Gräben hineinzustarren, die von ehemaligen Flüssen gebildet wurden, und ich staune nicht über Löcher im Erdboden, wo einst Meteore niedergegangen sind. Fahre ich irgendwohin, sieht das für mich immer ziemlich gleich aus. Ich starre auf die betonierte Fahrbahn. Ich beobachte den gelben Strich. Ich hänge mich an dicke Brummis und an Pkws, in denen kleine Kinder auf dem Rücksitz schlafen, und ich trete das Pedal durch, bis ich mein Ziel erreiche.

Nichts zu verlieren / In aller Stille

Подняться наверх