Читать книгу Ein neuer Anfang für die Liebe - Susan Anne Mason - Страница 10

Kapitel 5

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Bei Schichtende schmerzte Julia nicht nur der Rücken, sondern auch die Knie. Dankenswerterweise war Dr. Clayborne kurz nach Mr Aspinalls Gehen eilig zu einem ärztlichen Notfall aufgebrochen und hatte keine Gelegenheit gehabt, sie nach ihrer Beziehung zu ihm zu fragen. Mit etwas Glück vergaß er einfach alles über Quinten Aspinall.

Das hatte zumindest Julia vor.

Als sie das Krankenhaus verließ, stieß sie einen tiefen Seufzer aus. Der Weg nach Hause schien ihr plötzlich mehr zu sein, als sie ertragen konnte. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich heute viel müder als sonst. So sehr, dass ihr wirklich alle Knochen wehtaten. Doch ihr blieb nichts anderes übrig, als zu laufen, denn um diese Uhrzeit fuhren die Straßenbahnen nicht mehr.

Die Straßen kamen ihr heute besonders düster vor und sie zwang ihre Füße dazu, schneller zu gehen. Noch nie zuvor hatte sie sich auf dem Heimweg unsicher gefühlt, doch heute war ihr alles zu viel. Der Besuch von Mr Aspinall hatte sie wohl mehr aufgewühlt als gedacht.

Für einen kurzen Augenblick erlaubte sie ihren Gedanken, zurück nach Brentwood Manor zu wandern, wo sie die letzten Jahre zusammen mit ihrer Cousine Amelia gelebt hatte. Obgleich ihre Väter Brüder waren, hatten sie die zwei Mädchen auf vollkommen unterschiedliche Weise erzogen. Julias Vater war der Jüngere der beiden und daher nicht der Erbe von Brentwood Manor gewesen – stattdessen war er Priester geworden. Julia hatte deshalb ihre Kinderjahre in unterschiedlichen, sehr schlichten Pfarrhäusern verbracht.

Bis zu dem Tag, an dem ihre Eltern bei einem tragischen Kutschenunfall ums Leben gekommen waren und Julia nach Brentwood geschickt worden war!

Mit großer Fürsorge brachte Amelia Julia alles bei, was die Etikette verlangte, aber Julia empfand diese Regeln als sehr einschränkend und machte sich stets Sorgen, auf die eine oder andere Weise einen Fehler zu begehen.

Wie zum Beispiel das eine Mal, als sie den attraktiven jungen Mann in Uniform im großen Saal gesehen und zu Amelia geflüstert hatte: „Meine Güte! Der Kammerdiener deines Vaters ist aber wirklich ein Hübscher, findest du nicht auch?“

Mit weit aufgerissenen Augen sah Amelia sie an. „Um Himmels Willen, Julia, er ist ein Bediensteter! Du kannst dir einen von den vielen reichen Männern aussuchen. Aber um unsere Bediensteten brauchst du dich wirklich nicht zu kümmern. Es sei denn, sie sollen dir deine Taschen tragen.“ Das hatte Amelia so laut erwidert, dass Julia sich sicher war, er musste es auch gehört haben.

Ein Gefühl von Demütigung überkam sie und brannte in ihren Wangen. Seit jenem Moment hatte sie sich gemerkt, nie wieder ein Wort über einen Bediensteten zu verlieren.

Wie unglaublich merkwürdig – und eher besorgniserregend –, dass nach all diesen Jahren nun genau dieser Kammerdiener ihres Onkels hier in Kanada nach ihr Ausschau hielt.

Die laute Hupe eines Autos holte Julia aus ihren Gedanken zurück. Die Laternen in diesem Teil der Gegend waren nur sehr spärlich gesät und Julia wurde es mit jedem Schritt unbehaglicher zumute. Schließlich kam sie bei ihrem Gebäude an und freute sich, dass einige der anderen Mieter auf dem Bordstein saßen und rauchten – vermutlich um den beengenden, muffigen Zimmern wenigstens für eine Weile zu entkommen.

„’n Abend, Miss Holloway“, rief ein Mann ihr zu. „Heute haben Sie aber lang gearbeitet.“

„Das habe ich, ja, Mr Wood“, erwiderte sie und hielt kurz vor der Treppe inne, um dem älteren Herrn ein Lächeln zu schenken. „Wie geht es Mrs Wood? Hat sie die Erkältung inzwischen überstanden?“ Die Gattin dieses Mannes hatte beinahe den ganzen Winter lang unter einer Bronchitis gelitten und der Husten verfolgte sie auch noch jetzt in den Frühling hinein.

„Endlich geht es ihr wieder besser. Sie hat mir aufgetragen, Ihnen noch einmal herzlich für die Suppe zu danken, die Sie vorbeigebracht haben“, sagte er und zwinkerte ihr mit seinen faltigen Augen zu.

„Das habe ich doch gern getan.“ Letzte Woche hatte Julia bei der Suppenküche um eine Extraration gebeten, die sie mit den Woods geteilt hatte. „Ich muss jetzt leider gehen – auch wenn ich mich gern noch etwas mit Ihnen unterhalten hätte! Morgen erwartet mich nämlich eine Frühschicht.“

„Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht“, erwiderte Mr Blackmore. „Aber haben Sie acht vor Ketchum! Er hat wieder nach Ihnen gefragt.“

Julias Magen verkrampfte sich. Sie war diesem Mann immer noch den Rest der Miete schuldig – ganz zu schweigen von den letzten zwei Monatsmieten. „Vielen Dank für die Warnung. Ich werde mich leise an seiner Wohnung vorbeischleichen.“

In diesem Moment kam plötzlich ein Mann aus dem Schatten hervor. „Miss Holloway? Darf ich Sie kurz sprechen, bevor Sie hineingehen?“

Julia erstarrte. Sofort streckte sie den Rücken durch und eine kleine Welle der Wut überkam sie. „Sind Sie mir etwa gefolgt, Mr Aspinall? Nachdem ich Ihnen mitgeteilt habe, dass ich keine Begleitung auf dem Weg wünsche?“ Wenngleich sie nervös war, strafte sie ihn mit einem eisigen Blick.

Eilig schaute er zu Mr Wood und Mr Blackmore hinüber, die soeben aufgestanden waren. „Bitte verzeihen Sie mir. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich Sie sonst nicht wiedersehen würde.“

„Es ist schon spät, Mr Aspinall. Und ehrlich gesagt bin ich gerade nicht in der Stimmung –“

„Ich meinte auch nicht heute Abend“, unterbrach er sie und hob beschwichtigend die Hände. „Ich würde nur gern einen Termin mit Ihnen ausmachen, der Ihnen passt.“

„Belästigt Sie dieser Mann hier?“, fragte nun Mr Wood, der sich neben Julia stellte. „Denn dann können wir uns darum kümmern, dass er verschwindet.“

„Danke, Mr Wood, aber es ist alles in Ordnung“, versicherte sie ihm, obgleich ihr die innere Unruhe Knoten in den Magen machte. Wie sollte sie diesen Mann nur loswerden, ohne einen unangemessenen Aufruhr zu verursachen? Denn das Letzte, das Julia gebrauchen konnte, war ein weiterer Grund für ihren Vermieter, sie auf die Straße zu setzen. Sie seufzte. „Also gut, Mr Aspinall. Ich arbeite morgen bis fünfzehn Uhr dreißig. Treffen Sie mich am Krankenhaus, dann gestatte ich Ihnen diese Tasse Tee mit mir.“

Erleichterung erfüllte das Gesicht des Mannes. „Vielen Dank, Miss Holloway. Dann bis morgen.“

Er verbeugte sich und entfernte sich wieder vom Gebäude.

Julia raffte ihren Rock, drehte sich zur Treppe um und widerstand dem Drang zu warten, bis Mr Aspinall gegangen war. Irgendwoher wusste sie, dass er gewiss warten würde, bis sie sicher hereingekommen war, bevor er fortging. Bei dem Gedanken, ihn morgen Nachmittag wiederzusehen, machte sich eine Schwere in ihr breit. Nun würde er ihrem Onkel sicher von all den unangenehmen Umständen berichten. Nicht nur von der harten Arbeit, sondern auch von den heruntergekommenen Lebensbedingungen.

Warum nur hatte sie dem Moment der Schwäche nachgegeben und ihrer Cousine Amelia einen Brief geschrieben? Obgleich sie sie dringlich darum gebeten hatte, ihrem Onkel gegenüber nichts von den schrecklichen Umständen zu erwähnen, musste sie den Inhalt ihres Briefes preisgegeben haben. Warum sonst hätte Onkel Howard seinen Angestellten nach Kanada geschickt, um sie zu finden?

Julia presste die Lippen zusammen und wollte die unschönen Erinnerungen an die letzte Unterhaltung mit ihrem Vormund und dem gebrüllten Ultimatum verdrängen. „Wenn du jetzt mein Haus verlässt, um mit diesem Soldaten davonzurennen, dann wirst du auf dich allein gestellt sein. Losgelöst von jedweder finanziellen Unterstützung meinerseits. Und auch in Brentwood Manor wirst du nicht länger willkommen sein.“

Wenn sie ihm doch bloß nicht so offenkundig die Stirn geboten hätte! Dann hätte sie wenigstens noch ein Zuhause, zu dem sie zurückkehren könnte. Doch ihr Stolz verbot ihr, zurückgekrochen zu kommen. Selbst wenn sie das Geld dazu hätte.

Nein, sie würde selbst einen Weg finden, wie sie aus diesem Chaos herauskam!

Unabhängig davon, was Quinten Aspinall ihr morgen auch erzählte.


Als Julia die Treppe zu ihrem Zimmer emporstieg, machte die anfängliche Erleichterung darüber, an Mr Ketchum vorbeigekommen zu sein, Platz für eine zunehmende Angst, die ihr die Luft raubte und sie beinahe nicht weitergehen ließ.

Es war zu einfach gewesen! Wenn ihr Vermieter tatsächlich nach ihr gefragt hatte, wie Mr Blackmore erwähnt hatte, dann hätte er ihr aufgelauert. So wie letztes Mal. Auf keinen Fall hätte er so schnell aufgegeben!

Und tatsächlich: Julias Instinkt hatte sie nicht betrogen. Als sie im zweiten Stock um die Ecke bog, sah sie Mr Ketchums korpulente Gestalt im Flur, gleich neben ihrer Tür, die Arme vor der breiten Brust verschränkt.

„Guten Abend, Mr Ketchum“, grüßte sie ihn und zwang sich ein Lächeln auf, während sie betete, dass der Mann vernünftig wäre. Wenigstens dieses eine Mal.

„Das wird er sein – und zwar, nachdem ich mein Geld bekommen habe“, sagte er und zog die buschigen Brauen zusammen. „Ich habe Sie schon früher wieder hier erwartet. Hoffentlich gehen Sie mir nicht aus dem Weg.“

„Natürlich nicht“, sagte Julia und suchte in ihrer Tasche nach dem Zimmerschlüssel. „Ich musste auf der Arbeit für jemanden einspringen“, erklärte sie, während sie den Schlüssel im Schloss umdrehte und die Tür ein Stück weit aufschob. „Leider hatte ich keine Zeit, nach einem Vorschuss zu fragen.“

„Vorschuss? Sie haben gesagt, heute ist Zahltag.“

Sie schluckte. Hatte sie ihm das wirklich gesagt? Sie konnte sich nicht erinnern, was sie in ihrer Panik genau geantwortet hatte. „Was ich meinte, war, dass ich nach einem Vorschuss fragen würde. Zahltag ist erst nächste Woche. Aber ich verspreche Ihnen, ich –“

„Ich habe genug von Ihren Versprechungen, Schätzchen“, sagte er und kam einen bedrohlichen Schritt näher. „Wenn Sie mich jetzt nicht bezahlen können, haben Sie genau zwei Möglichkeiten. Entweder Sie packen Ihre Siebensachen und verschwinden auf der Stelle. Oder …“

Ihr Hals schnürte sich zu. „Oder was?“

„Oder wir handeln eine andere Art der Bezahlung aus“, sagte er. Dann, den Kopf zu ihr gesenkt und die Lippen nah an ihrem Ohr, hauchte er: „Gewisse Dienste anstelle von Bargeld.“

Sein saurer Mundgeruch ließ in Julia Übelkeit hochsteigen. Und bei dem anzüglichen Blick war ihr auch direkt klar, welche Art von Diensten er erwartete. Unwillkommene Bilder an einen anderen Mann kamen ihr ins Gedächtnis – ein Mann, der ihre Naivität aufs Brutalste missbraucht hatte! Ihre Atmung wurde immer flacher und ihre Hände begannen zu zittern. Verängstigt nahm sie einen Schritt Abstand von ihrem Vermieter und schob einen Fuß in ihr Zimmer. „Die Antwort darauf ist immer noch Nein.“

Doch in seinen Augen machte sich glühender Zorn breit. „Sie würden lieber bei den Ratten unter einer Brücke schlafen?“

Julia fasste Mut. „Ganz genau.“

Stählerne Finger umklammerten ihren Oberarm und bohrten sich ihr ins Fleisch.

Ein unterdrückter Schrei entglitt ihr, bevor Julia sich auf die Lippe biss.

„Sie vergessen wohl, was Sie mir noch schuldig sind“, sagte er und drückte den Arm noch fester. „Ich könnte auch die Polizei rufen, jetzt und hier. Sicher haben die eine nette Zelle für Sie übrig.“

Julias Puls raste. Wo waren wohl Mr Wood und Mr Blackmore gerade? Waren sie bereits auf ihre Zimmer gegangen? Vergeblich versuchte Julia, den Arm freizuschütteln, doch dieser Tyrann zerrte nur umso heftiger daran. Das Einzige, das sie nun tun konnte, war zu beten und zu hoffen, dass einer der anderen Mieter ihr zu Hilfe kam.

Sie holte tief Luft und schrie, so laut sie konnte.


Eingehend sah Quinn die beiden Männer an, die bei seiner Ankunft vor dem Haus gesessen hatten. Mit unfreundlichen Blicken hatten sie ihn beobachtet und kamen nun näher.

„Wagen Sie es nicht, noch einmal herzukommen“, sagte der schlankere der beiden Männer. „Es war offensichtlich, dass Miss Holloway eigentlich nicht mit Ihnen sprechen wollte.“

„Und ich würde mir auch besser das Treffen morgen Nachmittag aus dem Kopf schlagen“, fügte der zweite Mann hinzu, der mindestens zwanzig Jahre jünger war als der erste und die Arme vor der Brust verschränkt hielt. „Sie hat nur zugesagt, um Sie loszuwerden.“

Doch Quinn straffte die Schultern und behielt einen neutralen Gesichtsausdruck, als er sprach. „Ich versichere Ihnen, dass ich keine unehrlichen Absichten habe. Miss Holloways Onkel, der Earl von Brentwood, hat mich hierhergeschickt, um herauszufinden, wie es ihr so weit weg von zu Hause geht.“

Daraufhin lachte der Schlanke nur. „Ja sicher! Der Earl von soundso. Wenn Julia tatsächlich solch reiche Verwandte hätte, warum sollte sie dann hier leben?“, sagte er spöttisch und zeigte mit einer schmutzigen Hand auf das Gebäude hinter sich.

Ja, warum? „Genau das versuche ich ja herauszufinden.“

Ein leiser Schrei ertönte aus dem Inneren und Quinn erstarrte. Er musterte das Backsteingebäude und entdeckte ein offenes Fenster in einem der höheren Stockwerke.

Als kurz darauf ein zweiter, lauter Schrei durch die Sommernachtluft schnitt, hielt ihn nichts mehr. Er stürzte ins Haus und rannte die Treppen empor. Falls Julia in Schwierigkeiten steckte, musste er ihr helfen!

„Zweiter Stock“, rief einer der Männer ihm nach.

Ohne zu zögern, nahm Quinn jeweils zwei Treppenstufen auf einmal, bis er im zweiten Stock angelangte, wo er kurz innehielt, um die Richtung zu entscheiden.

Ein gedämpftes Stöhnen von rechts führte ihn dort entlang. Tatsächlich, am anderen Ende des Flurs standen zwei Menschen sehr dicht beieinander. Als Quinn näher kam, erkannte er, dass ein kräftiger Mann Julia am Oberarm gepackt hielt. Sie kämpfte gegen ihn an, doch bei ihrer zierlichen Figur hatte sie keine Chance gegen seine Statur.

Eilig marschierte Quinn auf die beiden zu. „Nehmen Sie Ihre Hände von ihr!“

Der Mann erstarrte und wandte sich an Quinn. „Und wer zum Teufel sind Sie?“

„Das ist irrelevant. Lassen Sie sie los. Sofort!“

Julia riss die Augen auf und ihre Unterlippe bebte.

„Das hier ist eine private Angelegenheit zwischen mir und meiner Mieterin.“

„Als Vermieter haben Sie noch lange nicht das Recht, Ihrer Mieterin Gewalt anzutun.“

„Diese Mieterin hier hat mächtige Schulden bei mir. Und es ist durchaus mein Recht, mein Geld einzufordern. Mit allen Mitteln, die ich dazu als nötig erachte.“

Trotz seines ranzigen Aussehens drückte er sich sehr wortgewandt aus. Es klang beinahe, als hätte er die entsprechende Stelle des Gesetzbuches auswendig gelernt. „Und das ist die Art, wie Sie Ihre Miete einfordern? Indem Sie hilflose Frauen drangsalieren?“

„Das geht Sie nichts an!“, zischte der stämmige Mann. „Sie befinden sich hier auf privatem Grund. Wenn Sie mein Haus nicht sofort verlassen, werde ich Sie festnehmen lassen.“

„Bitte, verständigen Sie die Polizei. Es macht mir nichts aus, zu erklären, weshalb ich es für nötig gehalten habe, diese Schabracke zu betreten.“

Und „Schabracke“ war durchaus das passendste Wort hierfür. Von den Wänden blätterte überall die Farbe ab und der beißende Geruch von Urin und vergammeltem Fleisch war derart aufdringlich, dass es Quinn beinahe den Magen umdrehte.

Grimmig ließ der Vermieter von Julia ab und kam auf Quinn zu. Er wirkte kräftig! Quinn war zwar einen ganzen Kopf größer als er, doch der Mann brachte dafür einiges mehr an Gewicht auf die Waage. Zumindest ließ das sein praller Bauch erahnen.

Quinn wich jedoch nicht vor ihm zurück. „Wie viel Geld schuldet die Dame Ihnen?“

Das verschlug dem Mann die Stimme und ein gieriges Funkeln trat in seine Augen. „Einundzwanzig Dollar.“

Auch wenn Quinn noch nicht ganz vertraut war mit dem kanadischen Geld, hatte er den Eindruck, dass das eine recht hohe Summe war, vor allem für eine Putzfrau. Ohne zu zögern, nahm er ein Münzsäckchen aus seiner Jackentasche, löste das Band und holte einige der Goldmünzen hervor, die der Earl ihm mitgegeben hatte. Es schien nur richtig, Julia mit diesem Geld zu helfen. Quinn nahm eine der Münzen und gab sie dem Mann. „Das hier sollte die Schulden mehr als genug tilgen.“

Der Mann machte große Augen. „Ist das echtes Gold?“

„Ganz recht“, erwiderte Quinn, und stellte sich, während der Mann das Goldstück betrachtete, neben Julia an die offene Tür. „Nun, wenn Sie uns entschuldigen würden. Ich helfe der Dame beim Packen.“

Julia fiel die Kinnlade herunter.

„Kein Grund zur Eile“, sagte der Vermieter und steckte seine Beute in die Hosentasche. „Wenn diese Münze sich als echt erweist, kann sie noch bleiben. Wenigstens, bis die Miete für den nächsten Monat fällig wird.“

„Wie zuvorkommend von Ihnen. Dennoch glaube ich, dass Miss Holloway sich eine angebrachtere Unterkunft suchen wird. Einen Guten Abend noch.“

Mit einer Hand an Julias Ellbogen schob Quinn sie sanft in das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

„Ich … ich …“, ging Julia auf Quinn los. „Was genau bilden Sie sich eigentlich ein?“, fragte sie, während ihr Gesicht wieder etwas Farbe zurückgewann.

Quinn blieb an der Tür stehen. „Auf keinen Fall können Sie hier weiterhin wohnen. Nicht mit so einem lüsternen Mistkerl im Haus.“

Stur verschränkte Julia die Arme, ihre Nasenflügel bebten. „Sie haben kein Recht, sich in mein Leben einzumischen.“

„Miss Julia“, begann Quinn und sah ihr eindringlich in die braunen Augen. „Bitte erlauben Sie mir, dass ich mich um Ihre Sicherheit sorge und Ihnen eine angemessene Unterkunft suche.“

„Denken Sie etwa, ich möchte an solch einem Ort wohnen?“, fauchte sie ihn geradewegs an. „Das ist alles, was ich mir mit meinem kleinen Gehalt leisten kann.“

Quinn hielt inne, um sich seine nächsten Worte sorgsam zurechtzulegen. „Ich kenne hier eine alte Dame, die eine ansehnliche Pension führt. Außerdem ist sie sehr gut vernetzt in der Stadt. Gestatten Sie mir, dass ich Sie zu ihr bringe, wenigstens für eine Nacht. Ich bin mir sicher, Sie wird Ihnen helfen, eine andere Unterkunft zu finden. Eine, die Sie auch bezahlen können.“

Er wartete, während Julia offensichtlich ihre Möglichkeiten abwog. Eine Vielzahl von Gefühlen flackerte über ihr Gesicht. Quinn kam nicht umhin, Ihre Schönheit zu bemerken, die selbst die grausamste Not ihr nicht hatte nehmen können.

Ergeben ließ Julia schließlich die Schultern sinken. „Also gut. Jeder Ort sollte besser sein als das hier.“

„Machen Sie sich keine Sorgen. Falls Mrs Chamberlain doch keine andere Lösung weiß, gibt es sicher noch andere genauso schreckliche Löcher wie dieses, wo Sie ein Zimmer finden können“, scherzte Quinn und hoffte, ihr damit ein Lächeln abzugewinnen.

Julias Lippen zuckten und formten schließlich ein zurückhaltendes Schmunzeln. „Gut. Dann werde ich mal packen.“


Julia blieb mitten auf dem Gehweg stehen. In der Dunkelheit erhob sich die große Pension vor ihr und das warme Licht, das durch die Fenster leuchtete, schien sie hoffnungsvoll willkommen zu heißen. Konnte sie in diesem liebenswürdigen Heim wirklich unterkommen?

„Vielleicht ist die Vermieterin schon zu Bett gegangen“, flüsterte Julia ihrem Begleiter zu. „Ich möchte sie nicht stören.“

Aber Quinn – wie er von ihr genannt werden wollte – stieg einfach die Treppen zur Veranda hoch und klopfte laut an die Tür. Nach einigen Momenten der Stille wiederholte er sein Klopfen. „Sie wird nichts dagegen haben. Vor allem nicht, wenn sie von Ihren Umständen erfährt.“

Julia biss sich auf die Unterlippe. Wenngleich sie Quinns Einmischung bei Mr Ketchum sehr zu schätzen wusste, nagte es an ihr, dass sie nun obdachlos war. Abhängig von der Freundlichkeit einer Fremden, bei der sie vielleicht für die Nacht unterkommen konnte.

Nun öffnete sich die Tür und eine kleine, mollige Frau im Morgenmantel war zu sehen. Sie äugte durch das Glas. „Quinten, sind Sie das?“

„Ja, Madam. Es tut mir leid, Sie zu so später Stunde aufzusuchen, aber es geht um eine Art Notfall“, erklärte er und zeigte auf Julia. „Das ist Miss Julia Holloway, eine alte Bekannte aus der Heimat. Sie braucht dringend einen Schlafplatz für die Nacht.“

Sogleich errötete Julia. Wie sehr es ihr missfiel, von anderen bemitleidet zu werden. „Schön, Sie kennenzulernen, Madam. Und bitte entschuldigen Sie vielmals, dass wir Sie so spät noch stören.“

„Ach, Sie stören nicht, Liebes. Und bitte, hören Sie beide auf mit diesem ‚Madam‘. Am besten nennen Sie mich Mrs C oder Harriet. Was Ihnen lieber ist“, erklärte sie, während sie die Tür aufschwang. „Bitte, kommen Sie herein.“

Julia trat ins Haus und fand sich in einem heimeligen Eingangsbereich wieder. Quinn folgte ihr und stellte Julias Tasche in einer Ecke ab.

„Gerade habe ich meine allabendliche Tasse Tee beendet“, sagte die Frau. „Aber ich bin mir sicher, dass noch etwas in der Kanne ist, falls Sie auch eine Tasse mögen?“

„Das wäre sehr freundlich“, erwiderte Quinn, bevor Julia etwas sagen konnte.

Mrs C zeigte zu einem Zimmer rechts von ihnen. „Gut. Dann machen Sie es sich doch schon einmal gemütlich. Ich bin gleich wieder da.“

Die Handtasche fest an sich geklammert, ging Julia in die Stube und sah sich um. Ein großes Sofa mit Blumenmuster sowie gepolsterte Ohrensessel standen um einen Kamin. Oberhalb des Feuers hing ein Gemälde von einem typisch englischen Cottage im Grünen – bei dem Anblick überrollte Julia eine Welle des Heimwehs.

„Was für eine gemütliche Stube“, sagte sie und setzte sich auf das Sofa.

„Das ist es“, gab Quinn ihr mit einem Lächeln recht. „Erinnert mich an meine Kindheit. An die Zeit vor dem Tod meines Vaters“, sagte er und ein Anflug von Sorge überschattete sein Gesicht.

Stumm blickte Julia ihn an und merkte, wie wenig sie eigentlich über diesen Mann wusste. Was hatte er für ein Leben geführt, bevor er nach Brentwood gekommen war? Alles, woran Julia sich erinnerte, war ein junger Mann in der Uniform eines Dieners. Zu gerne hätte sie mehr über ihn gewusst, vor allem, wie er ein Bediensteter ihres Onkels geworden war.

Mit ernster Miene setzte sich Quinn ihr gegenüber. „Bitte, machen Sie sich keine Sorgen, Miss Holloway. Alles wird gut. Das verspreche ich Ihnen.“ In seinem Blick lag Aufrichtigkeit. Konnte Julia seine gut gemeinte Geste wirklich annehmen? Das letzte Mal, als sie sich auf die Barmherzigkeit eines Fremden eingelassen hatte, hatte sie ihre Fehleinschätzung später bitter bereut.

Im Vergleich zu damals strahlte Quinn jedoch ein Gefühl der Sicherheit und Vertrauenswürdigkeit aus. Trotzdem – Vorsicht würde sicher nicht schaden! „Was stimmt Sie so gewiss, dass alles gut wird?“, fragte sie ihn ruhig. „Ich glaube nicht, dass ich mir die Miete hier leisten kann.“

Er musterte sie. „Ich kenne Mrs Chamberlain noch nicht lange, aber ich weiß, dass sie ein großes Herz hat und gerade Zugezogenen mit besonderer Fürsorge begegnet. Tatsächlich leitet sie zusammen mit dem Pastor einer Gemeinde hier eine Gruppe für Neuankömmlinge in der Stadt“, sagte er und lächelte. „Seien Sie vorgewarnt, dass Mrs C Sie zweifelsohne zu einem Treffen einladen wird.“

„Das wäre keine schlechte Idee“, sagte Julia zaghaft und versuchte zu lächeln. „Ich habe noch nicht viele Freunde in der Stadt. Und nun, wo Sam …“ Eilig presste sie die Lippen zusammen, um Tränen zu unterdrücken. Wann wäre sie jemals so weit, seinen Namen zu erwähnen, ohne dabei innerlich zusammenzubrechen?

„Der Verlust Ihres Freundes tut mir sehr leid“, sagte Quinn mit sanfter Stimme. „Es muss ein fürchterlicher Schlag für Sie gewesen sein.“

„Das war es. Ich … Ich habe seine Leiche gefunden.“ Verzweifelt schloss sie die Augen und kämpfte gegen die Bilder von Sams leblosem Körper auf dem Bett an, den blutgetränkten Laken und seinem Gesicht, so blass wie die Wand hinter ihm.

„Warum?“ Dieses eine Wort zerrte heftig an Julias Herz und Seele. Wie oft hatte sie sich dasselbe gefragt? „Warum hat er sich das Leben genommen?“, formulierte Quinn die Frage aus.

„Das weiß ich nicht genau“, erwiderte Julia mit gerunzelter Stirn. „Es war kurz nachdem er schlechte Nachrichten vom Arzt erhalten hat. Nachrichten, von denen ich nur zu gern selbst gewusst hätte. Vielleicht hätte ich dann etwas tun können, um seinen Tod zu verhindern“, erklärte sie und holte tief Luft. Sie hielt sich eine Hand auf den Magen und atmete langsam wieder aus, um das Übelkeitsgefühl zu verdrängen.

Voller Mitgefühl sah Quinn sie an.

„Ich wusste, dass er an jenem Nachmittag einen Termin bei Dr. Clayborne hatte, doch er hat darauf bestanden, allein zu gehen. Und später wollte er mir nicht sagen, was er vom Arzt erfahren hat. Stattdessen hat er sich in sein Zimmer verkrochen und wollte allein sein. Als ich ihn dann am nächsten Morgen aufwecken wollte, habe ich ihn …“, sie hielt inne, ihr Hals schnürte sich zu.

„Sie brauchen nichts mehr zu sagen. Den Rest kann ich mir denken.“

Doch Julia schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht anders, als mich verantwortlich zu fühlen. Als seine Pflegekraft hätte ich früher nach ihm sehen müssen. Ich hätte es wissen müssen!“ Wieder schloss sie die Augen und versuchte, gegen den Schmerz anzukämpfen.

Wärme umgab ihre kalten Finger, als Quinn eine ihrer Hände in die seinen nahm. „Julia, tun Sie sich das nicht an. Geben Sie sich nicht die Schuld für Sams Handlungen.“

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie Quinns Gesicht dicht vor ihrem und seine Augen strahlten Mitgefühl aus. Für einen Augenblick klammerte sie sich an seiner Hand fest und sog den Trost auf, den er ihr bot. Doch dann kamen in ihr ungebetene Erinnerungen an Dr. Hawkins und das Brandmal seines Trostes hoch. Schnell zog sie ihre Hand wieder zurück.

Nebenan klirrten einige Tassen und kurz darauf betrat Mrs Chamberlain die Stube. „Tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe. Ich habe doch einen frischen Tee aufgesetzt“, erklärte sie und stellte ein Tablett auf dem Tisch ab. Mit einem Blick zu Julia nahm sie wahr, wie aufgelöst sie war. „Oh, meine Liebe. Bitte seien Sie unbesorgt. Im zweiten Stock habe ich ein kleines Zimmer frei. Eine meiner anderen Mieterinnen bereitet es gerade schon für Sie vor.“

Mit einem Taschentuch tupfte sich Julia die Wangen ab. „Das ist überaus nett von Ihnen, danke. Aber … ich fürchte, ich kann mir die Miete nicht leisten.“

„Aber, aber! Heute Abend möchte ich nichts mehr von Geld hören. Morgen, wenn Sie sich erholt haben, wird genug Zeit sein, um über die Zukunft zu sprechen.“

Erholt? Sogleich wanderte Julias Blick zu der kunstvoll verzierten Uhr auf dem Kaminsims. Bereits nach Mitternacht. Wie sollte sie mit so wenig Schlaf bloß morgen früh um sieben wieder im Krankenhaus sein?

„Ich muss morgen schon sehr früh wieder arbeiten gehen. Und ich weiß nicht einmal, wie ich von hier zum Militärkrankenhaus komme“, sagte sie. Erschöpft bis auf die Knochen wurde selbst das Denken zu einer Qual. Wenn sie noch länger aufblieb, bekäme sie gar keinen Schlaf.

„Nur keine Sorge. Wir sind hier alle Frühaufsteherinnen. Und eine meiner Mieterinnen, Nora, arbeitet bei einer Bank, die genau auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Krankenhauses liegt. Sie wird Ihnen helfen, rechtzeitig zur Arbeit zu kommen.“

Julias Rücken entspannte sich und sie sank in die Kissen des Sofas.

Mrs C drückte ihr eine Tasse in die Hand. „Trinken Sie Ihren Tee, Liebes. Und wenn Sie damit fertig sind, wird auch Ihr Zimmer bereit sein.“

Mit einem großen Schluck leerte Quinn seine Tasse und stellte sie zurück auf das Tablett. „Vielen lieben Dank, Mrs C. Jetzt, da ich weiß, dass Julia in den besten Händen ist, werde ich wohl besser wieder gehen“, sagte er und stand auf.

„Keine Ursache, Quinten. Kommen Sie gern vorbei, wann immer Sie möchten.“

Mit einem langen Blick zu Julia erwiderte er: „Das habe ich vor. Schlafen Sie gut, Julia. Wir sehen uns morgen.“

Ein neuer Anfang für die Liebe

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