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Kapitel 4

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„Ihre Brüder arbeiten in Elmvale und Caledon?“, fragte Mrs Chamberlain mit gerunzelter Stirn, als sie mit Quinn am Sonntagvormittag aus der Kirche schlenderte. „Von wem haben Sie das denn erfahren? Doch sicher nicht vom Direktor?“

„Nicht direkt zumindest“, erwiderte Quinn, der zur Seite ging, um andere Gemeindemitglieder vorbeizulassen. Er war überrascht, wie gut ihm der Gottesdienst gefallen hatte. Auf gewisse Weise erinnerte ihn die Atmosphäre innerhalb des charmanten Backsteingebäudes an seine Heimat. „Nachdem wir uns eine Weile unterhalten hatten, hat er nachgegeben.“ Dass Quinn zusätzlich einen Blick in die Daten erhascht hatte, erzählte er besser nicht. Er fürchtete, damit womöglich gegen ein Gesetz verstoßen zu haben. Das Beste war, wenn niemand davon wusste.

„Beeindruckend“, sagte Mrs Chamberlain. „Sie müssen sein Vertrauen gewonnen haben. Und soweit ich weiß, ist er auch neu. Sein Vorgänger, Mr Owen, ist nämlich in den Ruhestand gegangen. Vielleicht ist er zuvorkommender als der alte Direktor.“

„Es scheint so“, erwiderte Quinn und versuchte, den Duft der sprießenden Rosen zu genießen, um seine Ungeduld nicht zur Schau zu stellen. Er musste das Gespräch unbedingt wieder zurück auf die Städte lenken. „Ich habe gehofft, Sie wissen vielleicht, wo diese beiden Orte liegen?“

Mrs C nickte. „Caledon ist nördlich von hier, mit dem Zug brauchen Sie wahrscheinlich etwas mehr als eine Stunde. Elmvale ist allerdings fast doppelt so weit weg, denke ich.“

„Oh“, erwiderte er und in Quinns Magen bildete sich ein Knoten. Er musste also am Bahnhof nachfragen, ob es dafür zwei einzelner Reisen bedurfte. Ganz zu schweigen von der Fahrt nach Peterborough, um Becky zu finden! Wie es schien, würde Quinn wohl länger in Kanada bleiben als gedacht. Und bevor er Toronto verlassen konnte, musste er auch noch nach Julia Holloway Ausschau halten.

Während Mrs Chamberlain sich entschuldigte, um mit Pastor Burke zu sprechen, gesellten sich Jonathan und Emmaline zu ihm. Emmaline sah mit ihrer farbenfrohen Kleidung genauso reizend aus wie auf dem Schiff. Heute trug sie ein hellblaues Kostüm mit einem farblich passenden gefederten Hut.

Sie grinste und machte einen Schritt auf Quinn zu, um ihn zu umarmen. „Quinn. Es ist so schön, dich wiederzusehen. Jonathan hat mir erzählt, dass du in der Pension warst, als ich gerade unterwegs war.“

„Auch schön, dich zu sehen“, erwiderte Quinn mit einem Lächeln. „Wie läuft es mit der Suche nach deinem Vater?“

„Sehr gut“, sagte sie und hakte sich bei ihm ein. „Es hat sich herausgestellt, dass mein Vater ein sehr bekanntes Mitglied der Gesellschaft ist und sich gerade auf das Bürgermeisteramt bewirbt.“

„Also hast du ihn schon getroffen?“

„Nur einmal“, sagte sie und ihr Strahlen verfinsterte sich. „Aber das ist nicht so gut gelaufen wie gehofft.“

Jonathan schloss zu ihnen auf. „Ihr Vater war von Emmalines plötzlicher Anwesenheit hier sehr überrumpelt. Er braucht nur etwas Zeit, das Ganze zu verarbeiten. Aber sicher gewöhnt er sich bald an den Gedanken.“

„Ich hoffe, dass euer nächstes Treffen besser verläuft“, sagte Quinn und tätschelte ihr den Arm.

„Und wie steht es um deine Suche?“, fragte Emma und hielt eine Hand an den Hut, als der Wind etwas zunahm.

„Ich komme voran. Aber wie es scheint, muss ich drei verschiedene Städte besuchen. Und bevor ich Toronto verlassen kann, muss ich noch etwas anderes erledigen.“ Sie näherten sich der Straße. Quinn blieb kurz stehen und wandte sich an Jonathan. „Du hast auf dem Schiff einen Soldatenfreund erwähnt, den du hier besuchen wolltest. Hast du ihn schon kontaktiert?“

„Noch nicht, aber genau das habe ich als Nächstes vor. Warum?“

Wenngleich die meisten Kirchgänger inzwischen auseinandergetrieben waren, sprach Quinn nun etwas leiser weiter. „Ich bin auf der Suche nach einem kanadischen Soldaten, der einige Zeit in einem Lazarett in England verbracht hat, bevor er wieder nach Hause konnte. Hast du vielleicht eine Idee, wie ich ihn ausfindig machen könnte?“

Nachdenklich legte Jonathan die Stirn in Falten. „Davon hast du auf dem Schiff gar nichts erzählt.“

Quinn verlagerte das Gewicht von dem einen auf das andere Bein. „Das ist ein Gefallen, den ich meinem Arbeitgeber in England tun möchte. Er sucht seine Nichte, die mit diesem Mann nach Kanada gekommen ist. Seine Lordschaft hat mich gebeten, sehr diskret zu sein – da er sich nicht sicher ist, um welche Art Verbindung es sich bei den beiden handelt.“

„Eine Liebesgeschichte aus dem Krieg?“, hakte Emmaline mit hochgezogener Braue nach.

„Vielleicht“, antwortete Quinn. „Doch soweit ich weiß, ist sie eigentlich als seine Pflegerin mit ihm hierhergekommen. Er sitzt im Rollstuhl.“

„Oh, das tut mir leid“, sagte Emmaline und ihre Gesichtszüge wurden milder. „Klingt ähnlich wie das, was Jons Freund durchmacht.“

Mit ernstem Blick nickte Jonathan. „Reggie hat im Krieg ein Bein verloren. In seinem letzten Brief hat er erwähnt, dass er hier im Militärkrankenhaus einen Arzt hat, der ihm hilft, mit der neuen Situation umzugehen.“

Quinns Gesicht erhellte sich. „Das wäre der perfekte Ort, um mit der Suche zu beginnen. Wo ist dieses Krankenhaus?“

„Das weiß ich nicht, aber sicher kennt es Mrs C.“

„Habe ich da gerade meinen Namen gehört?“, fragte die alte Dame, die in diesem Moment heiter auf sie zukam. Der Pastor folgte direkt hinter ihr.

„Ganz recht“, erwiderte Jonathan lächelnd. „Aber zuerst, Pastor Burke, das ist Quinten Aspinall. Ein Freund, den wir auf der Überfahrt hierher kennengelernt haben.“

„Schön, Ihre Bekanntschaft zu machen, junger Mann“, sagte der Pastor und schüttelte Quinn die Hand. „Es tut immer wieder gut, mit jemandem aus der Heimat zu sprechen.“

„Danke, Sir. Darf ich Ihnen sagen, dass ich Ihren Gottesdienst heute Morgen sehr genossen habe?“

„Das dürfen Sie sehr gerne“, sagte der Pastor und lachte herzlich.

„Mrs C“, wandte sich Jonathan an die ältere Dame, „wissen Sie, wo das Militärkrankenhaus ist? Quinn ist auf der Suche nach einem Soldaten, der vielleicht dort ist.“

„Oh, das tut mir leid. Ist er ein Freund?“, hakte Mrs Chamberlain nach, während der Wind durch ihre Locken wehte.

„Nein. Eigentlich kenne ich ihn nicht, aber ich soll für meinen Arbeitgeber nach ihm Ausschau halten. Als Lord Brentwood von meiner Reise nach Kanada erfuhr, hat er mich gebeten, in Toronto nach Private McIntyre zu fragen“, erklärte Quinn und bemühte sich, einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck zu wahren, wenngleich eine kleine Schweißperle unter seiner Mütze hervorkam.

Mrs Chamberlain wandte sich dem Pastor zu. „Geoffrey, wie heißt noch gleich der Arzt, der die verwundeten Soldaten behandelt?“

„Dr. Clayborne. Er arbeitet im Militärkrankenhaus auf der Christie Street. Soweit man hört, vollbringt er dort wahre Wunder für die Verletzten. Das ist sicher der beste Ort, um die Suche zu beginnen.“

Quinn blickte von Mrs Chamberlain zum Pastor. „Vielen Dank“, sagte er. „Noch bis vor Kurzem habe ich mich auf dieser Reise allein gefühlt. Aber jetzt … – Sie haben ja keine Ahnung, wie viel mir Ihre Unterstützung bedeutet!“

Verständnisvoll legte Pastor Burke eine Hand auf Quinns Schulter. „Wir sind für Sie da, wann immer Sie uns brauchen, junger Mann.“

Quinn schluckte. „Danke. Ich werde Sie wissen lassen, wie es mir ergangen ist“, erwiderte er mit einem Kloß im Hals.


Mit Händen und Knien auf dem Boden abgestützt, schob Julia den Eimer mit Wasser über den Krankenhausflur. Eigentlich musste sie heute nicht arbeiten, da Montag für gewöhnlich ihr freier Tag war. Allerdings hatte der Mann, der die heutige Nachmittagsschicht hätte übernehmen sollen, sich krankgemeldet und nun sprang Julia für ihn ein. Eine Schicht mehr bedeutete auch ein wenig mehr Geld, das sie Mr Ketchum für die schuldig gebliebene Miete geben konnte. Hoffentlich hielt eine weitere Zahlung ihren Vermieter davon ab, sie auf die Straße zu setzen.

Sie wrang den Putzlappen über dem Eimer aus und schrubbte die Böden. Nach etwa einer Stunde meldete ihr Rücken Protest. Doch ihr blieb nichts anderes übrig, als ihn zu ignorieren. Sie musste noch einige Stunden schrubben, bis sie mit allen Böden im Untergeschoss fertig war.

In der Ferne nahm sie leise Stimmen wahr. Vielleicht arbeitet Dr. Clayborne ja heute, dachte sie und der Gedanke brachte sie zum Lächeln. Ihrer Meinung nach war der Mann ein echter Schutzengel! Während der Zeit, die Julia als Sams Pflegerin gearbeitet hatte, war Dr. Clayborne stets überaus freundlich zu ihr gewesen. Er hatte ihr sogar erlaubt, bei den Physiotherapiestunden zuzusehen, und ihr gezeigt, welche Übungen sie mit Sam zu Hause machen konnte, um ihn bei der Genesung zu unterstützen. Doch noch wichtiger war, dass der nette Mann ihr dabei geholfen hatte, mit Sams tragischem Tod umzugehen. Und auch die Arbeit hier hatte sie Dr. Clayborne zu verdanken!

An einer Ecke angekommen lehnte Julia sich an die Wand, um sich kurz zu erholen, bevor sie mit dem nächsten Gang weitermachte.

Die Stimmen, die an ihr Ohr gelangten, wurden immer deutlicher.

„Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben. Ich hoffe, Sie können mir dabei helfen, jemanden wiederzufinden.“

Sogleich wurde Julia hellhörig, als ihr der deutliche britische Akzent des Mannes auffiel, der sich wie ein Gruß aus der Heimat anfühlte. Natürlich wusste sie, dass es sich nicht gehörte zu lauschen, aber sie kam nicht umhin, die offene Tür zu Dr. Claybornes Behandlungszimmer zu bemerken.

Doch so gern sie der Konversation der beiden weiter gefolgt wäre, wusste sie, dass man ihr sofort kündigen würde, wenn sie jemand dabei erwischte. Also widmete sie sich wieder den Böden. In der Hoffnung, dass die physische Anstrengung sie wenigstens für eine Weile von ihren sonstigen Problemen – und dem Heimweh – ablenkte, schrubbte Julia umso eifriger.

„Der Name des Mannes ist Private Samuel McIntyre. Bevor er wieder nach Hause kam, hat er einige Zeit in einem Lazarett in England verbracht. Und ich dachte, womöglich ist er jetzt für die weitere Behandlung hier.“

Vor Schreck glitt Julia mit der Hand auf dem seifigen Boden aus und fiel geradewegs mit dem Gesicht nach unten auf das Linoleum. Aus welchem Grund würde jemand aus England sich nach Sam erkundigen? Abgesehen davon, dass er in einem britischen Lazarett gelandet war, hatte Sam keine Verbindungen nach England. Und doch kam Julia die Stimme des Fremden vage bekannt vor. Es war wie eine Erinnerung, die Julia nicht vollständig rekonstruieren konnte.

„Ist er ein Verwandter von Ihnen?“, fragte Dr. Clayborne.

„Nein. Wir waren bloß Kameraden. Ich würde nur gern wissen, was aus ihm geworden ist seit seiner Rückkehr.“

Eine lange Stille setzte ein. Nur zu gut konnte Julia sich Dr. Claybornes ernste Gesichtszüge vorstellen und wie er den Mann vor sich genauestens betrachtete, um abzuwägen, ob er irgendwelche Informationen preisgeben sollte oder nicht.

„Ich fürchte, dann darf ich Ihnen nichts über meinen Patienten sagen.“

„Das verstehe ich und ich fühle mich unwohl, mich Ihnen aufzudrängen. Aber … Könnten Sie mir vielleicht wenigstens mitteilen, wie ich ihn kontaktieren kann?“

Diese Worte versetzten Julias Herzen einen Stich und eine Welle von Schmerz überkam sie. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und fortgerannt, bevor sie noch irgendetwas anderes mitanhören konnte. Aber es war, als klebten ihre Knie an dem harten Boden fest. Mit den nassen Händen klammerte sie sich an ihrem Rock fest, sodass sich feuchte, dunkle Flecken darauf bildeten.

„Das ist leider nicht möglich“, antwortete Dr. Clayborne knapp.

„Ich versichere Ihnen, ich habe nichts Böses im Sinn. Ich möchte nur mit ihm sprechen.“

„Wie ich sagte, das ist nicht möglich“, wiederholte er und seufzte. „Es tut mir leid, Ihnen das mitzuteilen, aber Private McIntyre ist tot.“

Die knappen Sätze ließen Julia die Knie an die Brust ziehen – Bilder von Blut und Tod stiegen in ihr auf. Bilder, die sie unbedingt aus ihren Erinnerungen löschen wollte.

„Das tut mir schrecklich leid“, sagte der Fremde. „Ich … ich dachte, es ging ihm gut. Abgesehen davon, dass er im Rollstuhl saß.“

„Ja. Nun, es war nicht sein körperlicher Zustand, der ihn das Leben gekostet hat.“

Bei diesen Worten hielt Julia sich die nasse Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuseufzen. Nie zuvor hatte sie solche Bitterkeit aus Dr. Claybornes Mund gehört.

„Bitte verzeihen Sie“, sagte er nun. „Das war unangebracht und unprofessionell. Es trifft mich allerdings zutiefst, wenn ein junger Mann so viel hat, wofür es sich zu leben lohnt, und er sich trotz all der Hilfe, die ihm geboten wird, entschließt, sein Leben zu beenden.“

„Er hat sich selbst das Leben genommen?“

„Leider ja.“ Wieder ein Moment der Stille. „Ist alles in Ordnung, Sir?“

„Ja, es geht schon. Das ist nur ein Schock.“

„Es tut mir leid, mit dieser schlechten Nachricht so mit der Tür ins Haus gefallen zu sein. Ich hole Ihnen ein Glas Wasser.“

Schnell stand Julia auf und warf die Bürste in den Putzeimer, woraufhin ein wenig Seifenwasser herausspritzte. Wer war dieser Mann, der sich nach Sam erkundigte? War es wirklich ein Kamerad, der mit ihm im Krieg gedient hatte? Aber irgendetwas an seiner Stimme kam Julia bekannt vor. Oder war es bloß der Akzent?

Das musste sie herausfinden!

Vorsichtig schlich sie sich an die Tür heran und sah heimlich in den Raum hinein. Ein großer Mann lehnte an der Wand und fuhr sich mit den Fingern durchs dunkle Haar.

Dr. Clayborne reichte ihm ein Glas Wasser, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne, als er Julia beim Spionieren entdeckte. „Miss Holloway? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

„N-nein, vielen Dank. Ich wollte nur nachsehen, ob das Zimmer leer ist, damit ich auch hier über den Boden wischen kann“, versuchte sie sich mit heftig pochendem Herzen zu erklären. Sicher erkannte er die Notlüge an der Röte ihrer Wangen.

Ruckartig drückte sich der Fremde von der Wand ab und hob erstaunt die Augenbrauen, als er sie von Kopf bis Fuß musterte. Kurz sah es so aus, als würde er sie von irgendwoher wiedererkennen, doch dann nahmen seine Gesichtszüge einen neutralen Ausdruck an.

Auch Julia starrte ihn an und die Neugierde überstieg ihr Unwohlsein während der Beobachtung. Sie betrachtete sein breites Kreuz, das geschmeidige, dunkle Haar, das ihm in die Stirn fiel, die stechend grauen Augen umsäumt von dichten, dunklen Wimpern. Wenngleich keiner seiner Züge besonders hervorstach, kam er Julia unheimlich bekannt vor. War er einer der Soldaten, die sie im Lazarett betreut hatte?

„Miss Holloway?“, fragte der Mann mit kratziger Stimme. „Julia Holloway?“

„J-ja, das bin ich. Und wer sind Sie?“

„Vermutlich erinnern Sie sich nicht mehr an mich. Mein Name ist Quinten Aspinall.“

Sie runzelte die Stirn. Woher kannte sie diesen Namen?

„Wir haben uns in Brentwood Manor kennengelernt“, schob er nach und kam einen Schritt auf sie zu. Die Blässe seiner Haut unterstrich die strahlend grauen Augen.

Das Anwesen ihres Onkels! Hatte sie diesen Mann auf einer der vielen Bälle kennengelernt? „Ich fürchte, ich kann Sie noch nicht ganz zuordnen, Mr Aspinall. Sind Sie ein Freund meines Onkels?“

Er senkte den Blick. „Ich bin der Kammerdiener Ihres Onkels.“

Die Ehrerbietung in seiner Stimme ließ in Julia Erinnerungen an ihn aufsteigen.

Er war der respektvolle Diener, der sich stets um die Bedürfnisse ihres Onkels gekümmert hatte. Sie hatte ihn immer als einen sehr charakterfesten und überaus treuen Mann erachtet. Ganz davon abgesehen, dass er überaus ansehnlich war – für einen Bediensteten.

„Aber natürlich, Mr Aspinall“, sagte sie und erinnerte sich nun auch an ihre Manieren. Mit einem leichten Knicksen grüßte sie ihn, als ob sie im opulenten Foyer von Brentwood Manor stünden. „Wie schön, Sie wiederzusehen!“

Und wie merkwürdig, einen Bediensteten auf so vertraute Weise zu begrüßen.

Als sie sich wieder aufrichtete, fuhr sie mit der Hand über ihren Rock – und sofort holte sie die Realität ihrer nassen Schürze ein. Das letzte Mal, als sie diesen Mann gesehen hatte, war sie noch ein leichtsinniges junges Mädchen gewesen, das sich bloß darum gesorgt hatte, welches Kleid es zur nächsten Abendgesellschaft tragen sollte. Sie war bei den Londoner Junggesellen heiß begehrt gewesen. Nun war sie jedoch nur noch eine mittellose Arbeiterin, die alte Lumpen trug und Flure schrubbte, um zu überleben. Demütigung überkam sie und nagte heftig an ihr.

Oh, wie tief war sie nur gesunken!


Quinn gab sein Bestes, um den Schock zu verbergen. Die Putzfrau vor ihm wies nicht die kleinste Ähnlichkeit auf mit dem lebhaften Mädchen, an das er sich erinnerte. Keine Spur von den extravaganten Kleidern, funkelnden Juwelen und ausgefallenen Frisuren.

Als er den Blick wandern ließ und die großen Wasserflecken auf ihrer Schürze sowie das schmuddelige Tuch sah, das ihre blonden zum Zopf geflochtenen Haare zusammenhielt, war ihm bei dem Anblick beinahe zum Weinen zumute. Doch am meisten trauerte er über Julias Hände. So rot und rau, mit Fingerknöcheln, die aussahen wie die von einem Berufsboxer nach zwölf Runden im Ring.

Sein Blick blieb nicht unbemerkt und schnell verbarg Julia die Hände in den Schürzentaschen.

Hinter ihm ertönte ein Räuspern und Quinn drehte sich zu Dr. Clayborne um. Beinahe hatte er ihn vergessen.

„Wie es scheint, haben Sie beide sich noch einiges zu erzählen“, unterbrach Dr. Clayborne die beiden. „Ich bin in meinem Büro am Ende des Gangs, wenn Sie noch etwas benötigen, Miss Holloway“, sagte er und warf Quinn einen scharfen Blick zu, der sagte: Wagen Sie es bloß nicht, der Frau irgendwie zu nahe zu treten.

„Danke sehr.“ Sobald Dr. Clayborne das Zimmer verlassen hatte, hob Julia das Kinn auf eine Weise nach vorn, die von ihrer guten Erziehung zeugte. „Warum suchen Sie nach Sam?“, fragte sie.

Quinn sammelte sich, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und konzentrierte sich auf ihre Augen. Braun und leuchtend – das Einzige an ihr, das sich nicht verändert hatte! „Die Wahrheit ist, dass ich nur nach ihm gesucht habe, um Sie zu finden.“

Julias Kinn bebte. „Warum um alles auf der Welt sollten Sie … Oh!“ Mit einem Mal verhärteten sich ihre Gesichtszüge und ihr Blick wurde ausdruckslos. „Mein Onkel hat Sie geschickt, nicht?“

„Das stimmt“, gestand Quinn, denn es zu verleugnen, hätte keinen Sinn ergeben. Früher oder später hätte Julia es ohnehin herausgefunden. Er hoffte nur, dass sie ihm die Möglichkeit gab, sich zu erklären.

„Ich kann nicht glauben, dass er Sie den ganzen weiten Weg bis hierhin geschickt hat. Zu welchem Zweck?“, fragte sie. Dabei fingerte sie am zerfledderten Kragen ihrer Bluse herum und trat einen Schritt zurück, als fürchtete sie, Quinn würde sie mit sich zerren.

Das war ganz und gar nicht, wie Quinn sich diese Unterhaltung vorgestellt hatte. Er brauchte Zeit und die richtigen Worte, um Julia davon zu überzeugen, mit ihm zurück nach England zu kommen. „Gestatten Sie mir, dass ich Sie auf eine Tasse Tee einlade, um Ihnen von dem Grund meiner Reise zu erzählen?“

Nervös biss Julia sich auf die Lippe und ihr Blick wanderte in Richtung der Tür. „Im Moment arbeite ich. Und das noch bis zehn Uhr abends.“

„Ich könnte dann wiederkommen und Sie auf Ihrem Nachhauseweg begleiten.“

„Nein“, erwiderte sie barsch und presste fest die Lippen zusammen. Dann atmete sie tief ein und erklärte mit fester Stimme: „Ich muss Sie nun bitten zu gehen. Sie können meinem Onkel berichten, dass Sie mich gesehen haben und es mir gut geht. Das ist alles, was er wissen muss. Einen guten Tag noch, Sir“, sagte sie und eilte aus dem Raum.

Mir gerunzelter Stirn folgte Quinn ihr. „Es gibt noch anderes, worüber ich gern mit Ihnen reden würde. Wo wohnen Sie, Miss Holloway?“

„Das geht Sie nichts an“, sagte sie und suchte in der gräulichen Flüssigkeit des gusseisernen Eimers nach der Bürste. „Mein Onkel Howard hat sehr deutlich gemacht, dass er nichts mehr mit mir zu tun haben möchte, als ich dabei war, England mit Sam zu verlassen.“

„Aber –“

„Wenn Sie mich nun entschuldigen würden, Mr Aspinall, ich habe noch viel zu tun, bevor die Schicht zu Ende ist.“

Wie schaffte es diese Putzfrau nur, ihm das Gefühl zu geben, als hätte er soeben ein Mitglied der königlichen Familie beleidigt? Mit verschränkten Armen sah Julia ihn unverwandt an, bis Quinn nichts anderes übrig blieb, als zu gehen.

„Also gut. Ich hoffe, ich kann Sie noch einmal sehen, bevor ich zurück nach England reise“, sagte er und verabschiedete sich mit einer Hand an seinem Hut. Widerwillig ging er den Korridor entlang in Richtung Ausgang.

Als Quinn die Treppen ins Erdgeschoss nahm, zermarterte er sich den Kopf darüber, wie das gerade Gehörte irgendwie Sinn ergeben konnte. Private McIntyre, der Mann, mit dem Julia nach Kanada gekommen war, hatte sich das Leben genommen. Welche Auswirkungen hatte das für Julia gehabt? War sie in den Mann verliebt gewesen? Selbst wenn sie bloß seine Pflegerin war, musste sein Tod sie fürchterlich erschreckt haben. Und aus welchem Grund war sie nun eine Putzfrau im Militärkrankenhaus?

Nichts an Julias aktueller Situation gefiel Quinn. Und er würde nicht zur Ruhe kommen, bis er wusste, was wirklich vor sich ging.

Da sie überaus deutlich gemacht hatte, dass sein Interesse nicht willkommen war, hatte er keine andere Wahl, als ihr nach Ende ihrer Schicht heimlich nach Hause zu folgen. Wenn er wüsste, wo sie wohnte, wäre er vielleicht ein wenig beruhigter! Außerdem wüsste er dann auch, wo er sie wiederfinden würde, sobald er einen Plan hatte, mit dem er sie zur Rückkehr nach England überreden konnte.

Denn so oder so musste ihm einfach etwas einfallen, das Julia überzeugte! Diese einmalige Chance auf ein eigenes Stück Land, mit dem er seine Familie versorgen konnte, wollte er nicht so einfach ziehen lassen.

Ganz gleich, was er dafür tun musste!

Ein neuer Anfang für die Liebe

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