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Kapitel 1 NOVA SCOTIA, KANADA 28. MAI 1919

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Entschlossen ging Quinten am Ufer von Halifax entlang. Heute würde er an die Informationen gelangen, die er brauchte – selbst wenn er sie aus dem hartnäckigen Angestellten herauspressen musste.

Gerade hatte er sich von Jonathan und Emmaline verabschiedet, Freunde, die er auf der Überfahrt kennengelernt hatte. Auf See hatte er sich lange mit diesem Paar unterhalten, wenngleich der arme Jonathan für einen großen Teil der Reise sehr stark von Seekrankheit geplagt war. Eine junge Frau namens Grace gehörte auch zu ihrer Gruppe. Schnell hatten sie festgestellt, dass sie alle ein sehr ähnliches Ziel verfolgten. Emmaline reiste nach Kanada, um ihren Vater zu finden, und Grace suchte nach ihrer Schwester, einer jungen Kriegswitwe, die sie nach England zurückzuholen hoffte. Grace war noch am gleichen Tag ihrer Ankunft von Halifax nach Toronto weitergereist. Emmaline und Jonathan hingegen waren einige Tage geblieben, bis Jonathan sich etwas erholt und neue Kraft für den nächsten Teil ihrer Reise gesammelt hatte. An diesem Morgen waren die beiden in den Zug nach Toronto gestiegen und Quinn hätte sich ihnen von Herzen gern angeschlossen.

Das wäre durchaus möglich gewesen – wenn er denn schon den Aufenthaltsort seiner Geschwister herausgefunden hätte. Doch zwischen dieser Information und ihm stand ein überaus dienstbeflissener Beamter der Meldebehörde. Heute jedoch würde Quinn nicht klein beigeben. Nicht, bis er eine Adresse hatte!

Mit einem Ächzen öffnete er die gewichtige Tür und trat hinein. Die Meldebehörde war, wie Quinn erfahren hatte, der erste Halt für alle Einwanderer. Und jeder, der der ärztlichen Überprüfung hier nicht genügte, kam in Quarantäne oder, schlimmer noch, wurde wieder nach Hause geschickt.

Im Inneren des Raumes roch es nach Rauch und faulendem Holz. Selbst ein Jahr nach der zerstörerischen Explosion, die den Großteil des Hafens und der Stadt selbst in Schutt und Asche gelegt hatte, waren die schrecklichen Auswirkungen immer noch zu sehen. Und wegen der weiterhin zugenagelten Fenster gelangte nur wenig Frischluft ins Innere, um die unangenehmen Gerüche zu vertreiben. Die umfangreiche Zerstörung musste die Stadt in eine ernsthafte finanzielle Notlage gebracht haben. Aus welchem anderen Grund waren sonst zahlreiche Häuser noch nicht wieder neu aufgebaut worden?

Nach einem kurzen Blick zum Schalter hielt Quinn ein Stöhnen zurück. Dort saß der gleiche schwierige Mann wie sonst auch und schrieb etwas in ein Kassenbuch. Ob heute irgendetwas anders laufen würde als bei den letzten vier Gesprächen mit Mr Churl?

Churl – Griesgram. Ein durchaus passender Name!

Trotz der unangenehmen vorhergehenden Begegnungen setzte Quinn ein Lächeln auf, fest entschlossen, Mr Churl heute von seiner Argumentation zu überzeugen. Früher oder später musste der Mann einfach nachgeben!

„Guten Morgen, Mr Churl“, grüßte Quinn mit einer leichten Verbeugung, während er den Hut abnahm. „Wie geht es Ihnen an diesem schönen Tag?“

Der Mann sah über seinen Kneifer und warf Quinn einen steinernen Blick zu. „Ihre Heiterkeit bringt Sie auch heute nicht weiter, Mr Aspinall. Meine Antwort ist die gleiche wie gestern und die letzten drei Male, die Sie hier waren.“

„Vier“, korrigierte Quinn ihn ruhig.

„Wie bitte?“

„Ich war bereits viermal hier. Heute ist das fünfte Mal.“

Mr Churl schnaubte nur. „Dann sind Sie eben fünfmal töricht gewesen, denn an meiner Antwort hat sich nichts geändert. Ich kann Ihnen nicht preisgeben, wo sich Ihre Geschwister befinden. Diese Information ist vertraulich.“

Aus dem Augenwinkel sah Quinn eine Bewegung. Dann blickte er sich um und entdeckte hinter dem Vorhang zum Hinterzimmer eine junge Frau. Mit einem Stapel von Büchern auf den Armen kam sie nach vorne und stellte sie nach einem kurzen Blick zu Quinn auf dem Schalter ab. Er erkannte sie von seinen vorherigen Besuchen hier.

„Starren Sie ihn nicht so an, sondern machen Sie, dass Sie zurück an Ihren Platz kommen.“ Der raue Ton des Beamten ließ sie zusammenzucken.

„Ja, Sir“, erwiderte die Frau und zuckte kurz mit den Schultern, als versuchte sie, sich damit bei Quinn zu entschuldigen, bevor sie in die Untiefen des Gebäudes zurückkehrte.

Quinn unterdrückte ein Stöhnen. Im Gegensatz zu dem ungehobelten Mr Churl schien Ms Holmes sehr sympathisch zu sein. Wenn er doch bloß allein mit ihr sprechen könnte! Sicher konnte er sie davon überzeugen, ihm die Informationen zu geben, nach denen er so verzweifelt suchte. Doch unglücklicherweise machte Mr Churl wohl niemals eine Pause von seiner Arbeit.

„Bitte, Sir“, flehte Quinn und legte die abgegriffene Fotografie, auf der alle seine Geschwister zu sehen waren und die Quinn stets bei sich trug, vor dem Mann auf den Schalter. Vielleicht gelang es den süßen Gesichtern von Becky, Cecil und Harry, ihn umzustimmen. „Ich habe einen sehr weiten Weg auf mich genommen, um meine Familie zu finden. Es würde mir – und meiner kranken Mutter – alles bedeuten, herauszufinden, wo sie sind und wie es ihnen geht. Bitte helfen Sie mir dabei!“ An diesem Punkt war es Quinn gleich, dass er geradezu bettelte.

Der Beamte warf widerwillig einen Blick auf die Fotografie und seine Hand hielt über dem Kassenbuch inne. Dann räusperte er sich, stellte den Füllfederhalter ins Tintenfass und atmete laut aus. „Mr Aspinall, es ist nicht so, als hätte ich kein Verständnis für Ihr Anliegen. Doch soweit ich informiert bin, wurden die Kinder, die mit Dr. Barnardos Organisation hierhergekommen sind und keine Waisen waren, von ihren Eltern verlassen. Damit wurde jedes Recht auf die Kinder abgetreten. Sie können also auf keinen Fall etwas an der Unterbringung Ihrer Geschwister verändern. Sie sind vertraglich gebunden! Und deshalb werden ihre Arbeitgeber es auch nicht gern sehen, wenn jemand aus der Familie den Kontakt zu ihnen sucht oder gar probiert, sie zurück nach Hause zu locken.“

„Das verstehe ich, Sir.“ Von diesen kleinen Informationsfetzen ermutigt, beugte Quinn sich nach vorn und sah dem Beamten in die Augen. „Und ich versichere Ihnen: Ich möchte mich nur vergewissern, dass sie gesund und zufrieden sind, damit ich das auch unserer Mutter erzählen kann.“

O Herr, bitte vergib mir diese Flunkerei.

Als Quinn erfahren hatte, dass seine Geschwister ohne die Zustimmung seiner Mutter nach Kanada geschickt worden waren, hatte er geschworen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um Cecil, Becky und Harry wieder nach Hause zu holen. Wo sie hingehörten!

Das gab seiner Mutter vielleicht wieder einen Grund zu leben.

Lange betrachtete der Mann Quinn. Dieses Mal war sein Blick nicht voller Ärger oder Gereiztheit, dieses Mal strahlte er Mitgefühl aus. Hoffnung keimte in Quinns Brust auf und die Kapitulation des Beamten erwartend, formten seine Lippen ein zaghaftes Lächeln.

Doch dann schüttelte der Beamte wieder den Kopf. „Es tut mir leid. Wenn ich diese Informationen weitergebe, könnte ich meine Stelle verlieren.“ Dann sprach er leiser weiter. „Die beste Chance hätten Sie im Fairview-Kinderheim am Stadtrand. Manche der Waisen werden von dort aus weitervermittelt. Andernfalls würde ich Ihnen empfehlen, nach Toronto zu reisen. Da gibt es einige Heime von Dr. Barnardo. Vielleicht haben Sie dort mehr Glück. Und nun, wenn Sie mich bitte entschuldigen würden …“ Mit diesen Worten stand Mr Churl auf, schenkte Quinn ein steifes Nicken und verschwand hinter dem Vorhang.

Erneut überkam Quinn eine Welle der Enttäuschung. Noch immer wusste er nicht genau, wohin man seine Geschwister vermittelt hatte. Doch wenigstens hatte er heute einen kleinen Hinweis erhalten, der ihn womöglich weiterbringen konnte. Nun galt es, herauszufinden, wo sich das Fairview-Kinderheim am Stadtrand befand.

Quinn steckte die Fotografie wieder weg, setzte seinen Hut auf und ging in Richtung Tür. Als er aus dem Gebäude heraustrat, kam ihm ein erfrischender Luftzug entgegen. Obgleich es fast Juni war, sorgte die Nähe zum Meer für eher frühlingshafte Temperaturen. Deshalb zog Quinn seinen Mantel fester um die Schultern, schlug den Kragen hoch bis an die Ohren und musterte die Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Vielleicht fand er dort ein Taxi. Sicher würde der Fahrer wissen, wo das Fairview-Kinderheim lag.

„Entschuldigen Sie bitte, Mr Aspinall?“, erklang eine zaghafte Stimme aus dem schmalen Gang zwischen der Meldebehörde und dem nächsten Gebäude.

Als Quinn sich umdrehte, sah er die junge Frau von eben. Sie kam einen Schritt näher, ohne jedoch dabei völlig auf den Bürgersteig zu treten. Wortlos und mit dringendem Blick streckte sie ihm ein Stück Papier entgegen.

Er ging auf sie zu, verbarg damit die Sicht auf sie und nahm den Zettel entgegen.

„Ich muss jetzt schnell zurück, bevor man mich vermisst“, sagte sie. „Aber ich dachte, das könnte Ihnen bei Ihrer Suche helfen.“ Dann drehte sie sich um und wollte zurückeilen, doch Quinn hielt sie sanft am Arm fest.

„Warten Sie. Woher …?“

„Es gab nur drei Kinder mit dem Namen Aspinall. Das war also nicht schwer“, erwiderte sie und zog ihren Schal etwas enger um die Schultern.

„Danke, Miss. Sie haben ja keine Ahnung, wie viel mir das bedeutet.“

„Ich glaube schon“, sagte sie mit Tränen in den Augen. „Meine jüngere Schwester galt bei der Explosion vor einem Jahr als vermisst. Zwei Tage lang habe ich verzweifelt nach ihr gesucht und sogar befürchtet, sie wäre vielleicht gestorben. Bis mich eine hilfsbereite Frau unterstützt hat und wir sie in einem der Erste-Hilfe-Zelte wiedergefunden haben. Ich kann mir also gut vorstellen, wie es Ihnen gerade geht. Vor allem, da Sie auch noch so weit weg von zu Hause sind.“ Dann schenkte sie ihm ein wackliges Lächeln. „Viel Erfolg auf Ihrer Reise. Ich hoffe, Sie finden Ihre Geschwister in Sicherheit und bei guter Gesundheit.“

„Vielen Dank noch einmal“, erwiderte Quinn und drückte ihr leicht die Hand, bevor sie in den Gang verschwand.

Während er zusah, wie sie zurückging, betete Quinn, dass die junge Frau nun nicht in Schwierigkeiten geriet. Mit zitternden Fingern öffnete er den gefalteten Zettel. Dort stand in krakeliger Handschrift: Rebecca Aspinall, Hazelbrae, Peterborough. Cecil und Harrison Aspinall, Dr.-Barnardo-Heim, Toronto.

Nachdenklich hob Quinn den Kopf und starrte die Straße entlang. Wo um Himmels Willen lag Peterborough? Toronto war eine sehr große Stadt – das hatte er von seinen Freunden auf dem Schiff erfahren, die dorthin wollten. Er faltete das Stück Papier wieder zusammen und steckte es weg. Zunächst würde er herausfinden, wie weit Peterborough von Toronto entfernt lag, und wenn es Sinn ergab, würde er zuerst dorthin reisen. Wenn nicht, wäre Toronto sein nächstes Ziel. Zu schade, dass er das nicht schon gestern herausgefunden hatte – dann hätte er heute Morgen mit Emmaline und Jonathan weiterreisen können.

Doch das war nicht weiter schlimm. Gott handelte immer rechtzeitig! Daran wollte er festhalten und machte sich auf in Richtung Bahnhof.


„Sie sind schon zwei Wochen drüber mit der Miete. Wenn Sie hier bleiben wollen, zahlen Sie. Heute! Und zwar alles.“

Julia Holloway hielt abrupt auf der ersten Treppenstufe inne. Insgeheim hatte sie gehofft, sich ungehört in ihr Zimmer im zweiten Stock schleichen zu können, doch ihr Vermieter musste bereits auf sie gewartet haben.

Als sie sich umdrehte, sah sie den Mann und wie er sie in einem schmutzigen Unterhemd, das nicht ganz über seinen Bauch reichte, aus seinem Türrahmen heraus anstarrte. Der scharfe Duft von Sauerkraut und Zwiebeln, vermischt mit seinem stechenden Körpergeruch, brachten Julia beinahe zum Würgen.

„Werden Sie mir das Geld jetzt geben oder muss ich Ihnen dafür in Ihr Zimmer folgen?“, fragte Mr Ketchum, während er einen der braunen Hosenträger zurechtrückte.

„Das wird nicht nötig sein“, erwiderte Julia und schluckte die Angst hinunter, als sie in der Handtasche nach den letzten Dollarnoten suchte, die sie noch hatte. Geld, das sie für Lebensmittel zur Seite gelegt hatte. Aber das Essen musste warten. Sie faltete das Bündel in der Mitte und streckte es dem Vermieter hin.

„Zählen Sie, und zwar richtig“, forderte er sie auf, ohne die Scheine anzunehmen.

Langsam strich sie darüber und zählte das Geld für ihn, Schein für Schein. „Vier Dollar“, sagte sie und hielt die Luft an, während sie darauf wartete, dass er es annahm.

Er kniff jedoch die Augen zusammen. „Das ist nicht die ganze Miete.“

„Ich … ich weiß, aber ich werde erst morgen wieder bezahlt. Dann gebe ich Ihnen den Rest. Versprochen.“ Sosehr Julia das Zittern ihrer Stimme hasste, aufhalten konnte sie es nicht. Mit der Teilzeit-Putzstelle verdiente sie nicht viel, und wenn man sie nun auch noch aus diesem Loch herausschmiss, wüsste sie nicht wohin. Eine bessere Unterbringung konnte sie sich mit dem begrenzten Gehalt nicht leisten.

Anzüglich grinsend betrachtete Mr Ketchum sie und sah von dem Band, das sie ums Haar gebunden hatte, über das schlichte Kleid bis zu den wenig schmeichelhaften Schuhen an ihr herunter. „Ich könnte mir auch etwas anderes vorstellen, wie Sie mich bezahlen könnten“, schlug er vor und machte dabei einen Schritt auf sie zu.

Mit größter Mühe gelang es Julia, nicht zu fliehen. „Wie ich Ihnen schon mehrmals gesagt habe, Sir, gehöre ich nicht zu dieser Art Frauen.“ Wieder streckte sie ihm das Geldbündel entgegen und zwang ihre Hand, nicht zu zittern.

Schließlich schnappte er sich das Geld mit einem Knurren aus ihrer Hand. Eilig verbarg sie die Hand in der Schürzentasche und rieb unauffällig daran, als würde sie so den Dreck von seiner Berührung los.

„Den Rest vom Geld will ich morgen sehen. Sonst finden Sie Ihre Siebensachen auf der Straße wieder“, sagte er und spuckte eine vom Tabak bräunlich verfärbte Flüssigkeit auf den Boden, direkt neben Julias Schuhe. Dann drehte er sich um und stapfte zurück in seine Wohnung.

Nicht eine Sekunde länger blieb Julia dort stehen. Schnellen Schrittes ging sie die zwei Stockwerke nach oben und den Gang entlang bis zum Ende. Mit zitternden Fingern schloss sie die Tür auf, ließ sich selbst hinein und schob beim Schließen den Riegel von innen vor. Erleichtert lehnte sie den Kopf an das Holz und wartete, bis ihr Herzschlag sich wieder beruhigte. Erst dann holte sie tief Luft und drehte sich um.

Sogleich erstickte ein Schrei in ihrem Hals. Die Bettwäsche lag zerknautscht auf dem Boden. Das Kissen war aufgerissen worden, sodass die Federn überall herumflogen. Alle Schubladen aus ihrer Kommode waren geöffnet, ihre Kleidung war durchwühlt und durcheinandergeworfen worden.

Wie konnte er es wagen! Hitze schoss ihr ins Gesicht, als Julia sich vorstellte, wie Mr Ketchum ihre Unterwäsche durchstöbert hatte. Aber wenn er nach Bargeld gesucht hatte, war er zumindest nicht fündig geworden. Aus ebendiesem Grund trug Julia ihr weniges Geld immer bei sich.

Sie schritt durch den Raum, sammelte die Bettwäsche wieder auf und gab ihr Bestes, die Federn zusammenzukehren. Trotz der grässlichen Umstände, unter denen sie lebte, versuchte sie das Zimmer ordentlich und sauber zu halten. Dass sie nur wenige Habseligkeiten hatte, half ihr dabei. Ihre Reisetasche mit ein paar Wechselkleidern war das Einzige, das sie aus England mitgebracht hatte. Mit den Fingern tastete sie die Goldkette um den Hals ab – die einzige Erinnerung an ihr früheres Leben. Im Inneren des filigranen Anhängers steckte ein Foto ihrer verstorbenen Eltern. Seit ihrem Tod war für Julia nichts mehr wie zuvor.

Doch wenn sie gewusst hätte, dass eine Flucht nach Kanada in einer noch schlimmeren Tragödie geendet hätte, hätte sie Brentwood Manor und den Schutz ihres Onkels niemals verlassen. Wie hatten sich ihre strahlenden Träume für die Zukunft bloß in solch einen Albtraum verwandeln können?

Sie ließ den Anhänger durch ihre Finger gleiten, bevor sie die Kette wieder entschlossen im Korsett ihres schlichten Baumwollkleides versteckte.

Julia ging zum Fenster, schrubbte es etwas frei vom Schmutz, um nach unten auf die Straße zu sehen, und wischte ihre Handfläche an ihrer Schürze ab. Würde sie sich selbst jemals wieder sauber fühlen? Inniglich sehnte sie sich danach, ein heißes Bad mit duftendem Wasser zu nehmen. Ein Luxus ihres früheren Zuhauses, von dem sie in letzter Zeit oft geträumt hatte. Doch das Beste, das sie hier kriegen konnte, war eine Katzenwäsche mit kaltem Wasser aus der Schüssel auf ihrem Nachttisch. Selbst wenn sie manchmal das Bad leer vorfand, das sich alle Bewohner teilten, konnte sie sich in der Wanne nie entspannen. Nicht, mit all diesen skrupellosen Gestalten im Haus.

Oh, Sam, warum hast du mich nur verlassen? Warum hast du die Hilfe nicht angenommen, die man dir angeboten hat?

Julia biss sich auf die Lippe, um gegen die aufkommenden Tränen anzukämpfen. Diese Art von Gedanken nützten nichts. Sie halfen nicht dabei, genug Geld zu sparen, um diesem scheußlichen Dasein ein Ende zu bereiten. Und sie halfen ihr auch nicht, herauszufinden, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Nach Sams Tod war Julia entschlossener denn je, etwas tun zu wollen, das Wert hatte. Etwas, womit sie denen half, die Not litten. Ihre Gedanken flogen zurück zu den verwundeten Soldaten im Krieg, denen sie beigestanden hatte. Ein Dienst, der sie innerlich erfüllt hatte. Zu schade, dass ihr Onkel das niemals verstanden hatte.

Mit einer Hand an den Mund gepresst unterdrückte Julia einen Anfall von Übelkeit und Heimweh. Wenn sie doch bloß nach Brentwood zurückkehren und ihren Onkel, ihre Tante und Amelia wiedersehen könnte! Aber das war unmöglich. Onkel Howard hatte sehr deutlich gemacht, dass sie dort nicht länger willkommen war – jetzt, da sie England mit Sam verlassen hatte. Sein Ultimatum hatte damals nur noch mehr Öl aufs Feuer gegossen und ihren Entschluss zu gehen bekräftigt.

Doch nun, nachdem sie alle Brücken hinter sich abgerissen hatte, fühlte sie sich einsamer als jemals zuvor. Und was immer die Zukunft für sie bereithielt – Julia musste es allein herausfinden.

Ein neuer Anfang für die Liebe

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