Читать книгу Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer - Suzann-Viola Renninger - Страница 12

Meine Mutter litt unsäglich

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Herr Kriesi, wie wird man Freitodbegleiter?

Die Bitte meines Gemeindemitglieds, bei seinem Freitod dabei zu sein, war für mich ein Schlüsselerlebnis. Dieser lapidare Satz, als wir uns nach einem Gespräch über allgemeine Dinge vor der Kirche verabschiedeten: «Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer …» Er hat sich mir unvergesslich eingebrannt. In seiner Wirkung verdoppelt und verdreifacht durch die grässliche Erfahrung mit meiner Mutter. Ein Sterbemartyrium von drei Jahren! Mir kommt noch immer das Elend, wenn ich daran denke. Aus heutiger Sicht ein medizinisches Fehlverhalten, her­vorgerufen dadurch, dass die medizinischen Möglichkeiten unbedacht, jedenfalls zu lange angewendet wurden. Dass man sie nach einer geschenkten Bewusstlosigkeit nicht hinübergleiten lassen konnte. Was für ein Irrsinn!

Zu Beginn der Achtzigerjahre erlitt meine Mutter zwei Hirnschläge, die sie mit leichten Beeinträchtigungen zurückließen. Nach dem dritten Hirnschlag einige Jahre darauf fiel sie in Bewusstlosigkeit. Sie war 76 Jahre alt. Hätte sie keine Magensonde und somit keine künstliche Ernährung erhalten, wäre sie wohl nach wenigen Tagen gestorben. Doch so überlebte sie. Als sie nach Wochen wieder erwachte, war sie am ganzen Körper gelähmt. Keinen kleinen Finger konnte sie mehr bewegen, keine Fliege mehr aus dem Gesicht verjagen. Auch sprechen konnte sie nicht mehr. Doch geistig war sie noch da. Klar im Kopf. Sie verstand alles, was gesprochen wurde, und musste Sprüche von frommen Leuten über sich ergehen lassen. Sätze, die in der lutherischen Übersetzung einen zynischen Klang haben. Aus Psalm 68 etwa: «Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch.»* Denn es ist ja nicht Gott, der die Last auferlegt, sondern in diesem Fall die medizinische Technik.

* Nach der Lutherbibel: «Gelobt sei der Herr täglich. Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch.» Die sich näher ans Original haltende Übersetzung in der Zürcher Bibel ­lautet: «Gepriesen sei der Herr Tag für Tag, der uns trägt, der Gott, der unsere Hilfe ist» (Psalm 68.20).

Drei Jahre starrte meine Mutter still und stumm an die weiße Decke des Pflegeheims. Dann endlich konnte sie sterben. Meine Geschwister und ich waren dankbar. Doch ich habe heute noch ein schlechtes Gewissen, dass wir damals nicht alle Hebel in Bewegung setzten, um unserer Mutter ein solch grässliches Lebensende zu ersparen.

Haben Sie jemals daran gedacht, Ihrer Mutter beim Sterben zu helfen?

Es gab keine legalen Mittel. Ein orales Mittel hätte man ihr nicht geben können, das war damals gar nicht denkbar. Zwar wäre möglich gewesen, sie nicht mehr zu ernähren und so sterben zu lassen. Doch das hätte man niemals gemacht in diesem Heim, das sich übrigens sehr gut um sie kümmerte und ihr die beste Pflege gab. Das kritisiere ich nicht. Doch hätte ich meine Mutter gefragt, ob sie sterben möchte, sie hätte eingewilligt. Sie hätte mit dem Kopf noch Ja oder Nein signalisieren können. Solch ein sinnloses Sterbeleiden hat sie nicht gewollt.

Und die nicht legalen Mittel?

Sie denken an den Film «Amour», in dem ein Mann nach fünfzig Jahren Ehe seine gelähmte Frau mit einem Kissen erstickt?

Ja. Unter anderem.

Unter einem Kissen zu ersticken, kann ein kurzes Leiden sein. Aber auch ein schreckliches. Wenige Sekunden können da zu einer Ewigkeit werden. In allen Ländern werden hochaltrige Menschen auf diese Weise umgebracht. Viel mehr, als die meisten auch nur ahnen, denn darüber wird nicht gesprochen. Doch ins Pflegeheim auf Besuch gehen, und danach ist die Patientin tot? Da haben Sie gleich den Staatsanwalt im Haus.

So haben Sie also damals über all diese Möglichkeiten nachgedacht, die legalen wie die nicht legalen?

Nicht bewusst. Wir haben uns zur Zeit des Leidens meiner Mutter keine Rechenschaft darüber abgelegt, ob wir ihr hätten helfen sollen zu sterben. Noch in den Achtzigerjahren war der Nimbus der Ärzte in den weißen Kitteln immens. Erst der Ster­bewunsch des Gemeindemitglieds konfrontierte mich mit dem Gedanken, dass wir unter Umständen verpflichtet sein können, Angehörigen solch einen Wunsch zu erfüllen. Doch damals lag dies nicht innerhalb des Denkhorizonts, auch nicht in meinem.

Über dreißig Jahre habe ich als Seelsorger Menschen im Endstadium Krebs besucht. Immer wieder hörte ich ihr Klagen: «Herr Pfarrer, warum kann ich nicht sterben? Herr Pfarrer, warum lässt Gott mich so leiden? Herr Pfarrer, die Schmerzen machen mich kaputt.» Eine Antwort hatte ich nicht. Ich verließ die Betten dieser Menschen mit einem grässlichen Elendsge­fühl.

Wir können heute kaum noch ermessen, wie sehr eine Organisation wie Exit die Notwendigkeit der Sterbe- und Freitodhilfe ins Bewusstsein der Menschen gebracht hat. Das war vor bald vierzig Jahren. Die Zeit war reif. Die «Affäre Haemmerli» hatte die Schweiz aufgewühlt.

Herr Kriesi, eine letzte Frage für heute: Bezeichnen Sie sich selbst als Sterbehelfer? Oder als Freitodbegleiter?

«Sterbehelfer» ist neutraler. Anderseits ist der Begriff von den Leuten besetzt, die tage- und nächtelang am Bett eines Sterbenden sitzen, mit diesem sprechen oder beten und Handreichungen bieten, wie Zunge feuchten, Stirne kühlen und Kissen schütteln. In den meisten Krankenhäusern und Pflegeheimen arbeiten solche Menschen – in der Regel ehrenamtlich –, und oft betonen sie energisch, sie würden nicht zum Sterben, sondern beim Sterben helfen, meist im Ton einer eher gehobenen Moralität gegenüber den Helfern beim assistierten Suizid. Viele dieser Leute haben ein starkes Bedürfnis, sich von den Sterbehelfern abzugrenzen, die bei Organisationen wie Exit arbeiten. Ich selbst ziehe für mich die Bezeichnung Freitodbegleiter vor.

Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer

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