Читать книгу Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer - Suzann-Viola Renninger - Страница 20

Viele Begriffe, ein Wunsch

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Herr Kriesi, warum haben noch immer viele Ärztinnen und Ärzte ein Problem, wenn ihre Patienten sie bitten, ihnen sterben zu helfen?

Die Tradition der Medizin, die medizinische Ausbildung und auch die FMH, der Berufsverband der Schweizer Ärztinnen und Ärzte, setzen auf lebenserhaltende Maßnahmen und nicht auf solche, die beim Sterben helfen. Zwar hat sich seit dem Fall Haemmerli vieles verändert, und viele Ärzte unterlassen etwa in aussichtslosen Situationen lebenserhaltende Maßnahmen wie eine künstliche Ernährung oder nehmen sie zurück. Doch dabei unterliegen sie weiterhin dem Trugschluss, das passive Vermeiden sei moralisch höherwertig als das aktive Zurücknehmen. Dabei macht es nach meiner Meinung keinen Unterschied, ob der Patient sterben kann, weil ein Arzt eine bestimmte, aussichtslose Behandlung erst gar nicht beginnt oder ob er diese wiedereinstellt, weil er merkt, dass sie mehr belastet als Gutes tut.

Beides – der Behandlungsabbruch durch Unterlassen oder Einstellen – gilt juristisch als passive Sterbehilfe. Doch psychologisch macht es einen Unterschied. Es fällt, so meine Erfah­rung, schwerer, eine Maßnahme wieder zurückzunehmen, die den Patienten am Leben hält. Die Verantwortung scheint in diesem Fall größer, und größer können daher auch die damit einhergehenden Schuldgefühle sein. Man hat schließlich mit den eigenen Händen etwas getan – etwa den Hahn der Infu­sion zugedreht und damit die Flüssigkeitszufuhr gestoppt –, was das Sterben beschleunigt hat, weil es zuvor durch genau diese Maßnahme noch aufgeschoben wurde.

Hier liegt psychologisch eine viel größere Hürde. Ja. Doch in der Konsequenz ist es dasselbe. Der Patient stirbt, ob ich die Maßnahme erst gar nicht beginne oder ob ich sie einstelle. In beiden Fällen habe ich geholfen, sinnloses Leiden abzukürzen. Nur dar­auf kommt es an.

Wenn es nur darauf ankäme, dann ist kaum nachzuvollziehen, mit welchem Aufwand weitere begriffliche Unterscheidungen verteidigt und moralisch und juristisch bewertet werden. Es gibt ja neben der passiven Sterbehilfe und ihren Varianten Unterlassen und Einstellen noch die aktive Sterbehilfe mit den Varianten indirekt und direkt. Gibt der Arzt dem sterbenden Patienten etwa Morphium oder ein anderes sedierendes Mittel, um ihn in ein künstliches Koma zu versetzen, dann kann dies sein Leben verkürzen. Diese sogenannte palliative Sedierung gilt als indirekte aktive Sterbehilfe. Wenn der Arzt allerdings mit der Absicht, Juristen sprechen hier vom Vorsatz, ein Mittel verabreicht – etwa eine genügend hohe Dosis Morphium –, damit die Patientin stirbt und somit nicht länger leiden muss, dann wäre dies direkte aktive Sterbehilfe, auch Euthanasie genannt. Diese ist vom Gesetz verboten.

Die Ursprünge der Unterscheidung reichen tief zurück in unsere Kultur. Bis zu Thomas von Aquin, dem Philosophen und Theologen aus dem 13. Jahrhundert, der von der katholischen Kirche zum Kirchenlehrer erklärte wurde und als Heiliger verehrt wird. Er hat das Konzept der sogenannten Doppelwirkung entwickelt, das hier auf die Situation eines Schwerkranken angewendet wird. Die katholische Theologie hat keine Bedenken, wenn der Arzt die Absicht hat, Schmerzen zu lindern. Wenn dabei das schmerzstillende Mittel die doppelte, also zusätzliche Wirkung hat, dass der Patient stirbt, wird das akzeptiert. Aber nur dann. Der Arzt darf also das Sterben in Kauf nehmen, nicht aber beabsichtigen. Holen Sie Thomas von Aquin hervor?

Mach ich. Später. Historisch ist die Unterscheidung nachvoll­ziehbar, ansonsten fällt es mir schwer, die indirekte aktive Sterbehilfe moralisch der direkten überzuordnen. Auch die indirekte aktive kann etwa moralische Defizite im Gefolge haben. So habe ich es erst kürzlich erlebt. Weil der Tod bei der indirekten aktiven Sterbehilfe zu einem in Kauf genom­menen Nebeneffekt wird, kann diese Art von Hilfe von dem eigentlich einschneidenden Ereignis, dem Sterben eines geliebten Menschen, ablenken. Der Sterbeprozess hat einge­setzt, der Tod wird bald da sein, und doch wird beides verdrängt, da man sich auf die schmerzlindernde Morphiumgabe, auf eine geradezu technische Handlung konzentriert. Und somit nicht auf den Abschied und die wohl wichtigste Verantwortung, also dem sterbenden Menschen nah zu sein und ihm seelisch beizustehen, so wie er es braucht.

Vor allem die deutschen Mediziner sprechen in beiden Fällen nicht von Sterbehilfe. Sie vermeiden geradezu panisch diesen Begriff, wenn sie hohe Morphiumdosen geben. In der deutschen Palliativmedizin gilt offiziell, dass man in diesem Zusammenhang nur von palliativen Maßnahmen sprechen darf.

Nun, wir Deutschen – ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen – haben tatsächlich panische Angst davor, irgendetwas zu tun, was im Entferntesten an die Zeit des Nationalsozialismus und die Hitler’schen Euthanasieprogramme erinnern könnte, bei denen systematisch Patienten ermordet wurden.

Das war ein Verbrechen. Das hat nichts mit der Frage zu tun, was für eine Person ein guter Tod sein könnte. Der Einzige, der das sagen kann, ist der Patient selbst. Und hierum geht es bei der Sterbe- und der Freitodhilfe. Um Selbstbestimmung des Sterbewilligen. Um Hilfe, wenn er sie braucht. Um Linderung eines Leidens, das er nicht mehr aushalten kann.

Ich bin immer wieder perplex, dass es in Deutschland so schwerfällt, die furchtbaren Naziverbrechen und die Ster­behilfe auseinanderzuhalten. Es kommt mir absurd vor, den Wi­derstand gegen die Sterbehilfe mit dem Hinweis auf die Naziverbrechen zu begründen. Da kommt doch eine irratio­nale Abwehrhaltung zum Ausdruck, die als Folge der heutigen medizinischen Möglichkeiten notwendig geworden ist. In der Schweiz ist die Befangenheit viel kleiner als in Deutschland. Unsere Kultur ist mehr an der Praxis orientiert. Und nicht an den Formulierungen.

Auch in der Schweiz setzen die Begrifflichkeiten klare Grenzen. Direkte aktive Sterbehilfe, die gezielte, vorsätzliche Verabreichung einer Spritze, die zum Tod führt, ist durch das Strafgesetzbuch verboten. Ich frage mich, ob es nicht nur eine Sache der Konsequenz, des Realismus und wohl auch Mutes ist, einen Schritt weiterzugehen und auch die direkte aktive Sterbehilfe, ungeachtet der höheren psychologischen Hürde auch hier, moralisch und rechtlich mit den anderen Formen der Sterbehilfe gleichzusetzen.

Die Grenzen sind in der Praxis ohnehin fließend. Das sagen gerade die Intensivmediziner, die Tag für Tag mit dieser Situation konfrontiert sind. Es gibt einen breiten Graubereich, in dem zwischen palliativer Sedierung und aktiver Sterbehilfe nur mit viel Haarspalterei zu unterscheiden ist. So habe ich oft von Medizinern gehört, dass sie auch das Einstellen einer lebenser­haltenden Maßnahme als eine aktive Handlung und so gesehen als aktive Sterbehilfe empfinden.

Anfänglich war ja die aktive Sterbehilfe auf Wunsch das Ziel der Gründer von Exit. Doch die Politik zog nicht mit, auch wenn die Volksabstimmung von 1977 eine breite Akzeptanz zumindest der Zürcher Stimmbürger zeigte. Exit nahm daher schon 1984, im zweiten Jahr nach der Gründung, von der aktiven Sterbehilfe Abstand und bietet seither ausschließlich etwas an, was bisher nicht diskutiert worden war: die Hilfe beim Freitod …

… bei der entscheidend ist, dass der Sterbewillige entweder eigenhändig das Sterbemittel trinkt oder eigenhändig den Infu­sions­hahn öffnet. Und nicht Dritte. Weder Ärzte noch Ange­hö­rige.

Was ist, wenn ein Patient nicht mehr die Kraft oder Bewe­gungskontrolle dafür hat?

Hier müssen wir improvisieren, denn sonst eröffnet die Staatsanwaltschaft ein Verfahren. Einmal passierte es, dass die Finger eines Patienten an dem Tag, an dem er sterben wollte, nicht mehr beweglich genug waren, um den Infusionshahn zu bedienen. Also verbogen wir eine Büroklammer so, dass wir sie am Infusionshahn befestigen konnten. Dann verbanden wir sie mit einer Schnur, die wir dem Patienten in die Hand gaben. Er zog – das konnte er noch –, und der Hahn öffnete sich. Somit war es der Patient, nicht wir, der den letzten Akt vollzog, der dann zu seinem Sterben führte. Die Juristen nennen das Tatherrschaft.

Später habe ich diese Verfahren Dr. Brunner vorgeführt, dem damaligen Leitenden Oberstaatsanwalt des Kantons Zürich. Wir trafen uns regelmäßig, um die Möglichkeiten von Exit auszuloten. Er stimmte zu, dass dieses Verfahren noch im Rahmen der Legalität sei. Doch er war äußerst vorsichtig und empfahl, zukünftig doch bitte zwei Büroklammern zu verwenden. Bei nur einer sei das Risiko zu groß, dass der Patient durch seine Ner­vosität den Hahn versehentlich öffne. Und ein Versehen ist keine Tatherrschaft. Seither verwenden wir in diesen Notsi­tu­ationen also zwei Büroklammern.

Klingt nach rechter Trickserei. Was ist, wenn die zwei Büroklammern in einer solchen Situation zu viel Widerstand leisten? Wenn Sie dann eine wegnehmen und der Patient es nochmals versucht? Wiederum vergeblich? Wie gehen Sie dann mit der Tatherrschaft um?

Wenn etwa ein Patient mit einer degenerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems wie der amyotrophen Lateralskle­rose die Fingerfertigkeit nicht mehr hat, dann können wir inzwischen riskieren, den Hahn für ihn zu öffnen aufgrund eines Gutachtens des Basler Juristen Daniel Häring. Er schreibt: «Über das ‹Ob› und ‹Wie› der Tat bestimmt ein Mensch beim Beizug einer professionellen Suizidhilfeorganisation auch dann, wenn er das zu seinem Tod führende Geschehen initiiert und durch klare Anweisungen an den Sterbehelfer, ohne dass diesem bei der Umsetzung ein großer Ermessensspielraum zukommt, vollständig selbst gestaltet.»18

Wissen Sie, all diese Unterscheidungen – passiv, indirekt aktiv, direkt aktiv, assistiert – sind Sprachwasch.

Sprachwasch?

Würden sie mich zu den älteren Leuten zählen?

Durchaus.

Das ist Sprachwasch.

Aha … Gut, dann zähle ich Sie zu den alten Männern. Auch wenn es mir recht unhöflich, geradezu respektlos vorkommt, so von Ihnen zu sprechen.

Sprechen Sie von mir als sehr altem Mann, bitte!

Okay. Ich versuch’s. Mal sehen. Und bald dann vom uralten Mann?

Ja, bald. Bald bin ich hochbetagt, hochaltrig, uralt. Aber erst, wenn ich neunzig bin.

Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer

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