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Die Affäre Haemmerli 1974

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Die «Affäre Haemmerli», wie sie bald genannt wird, beginnt im Dezember 1974, als sich Urs Peter Haemmerli, Chefarzt der Medizinischen Klinik am Zürcher Stadtspital Triemli, an die Zürcher Stadträtin Regula Pestalozzi wendet. Die Juristin ist als Vorsteherin des Gesundheits- und Wirtschaftsamts seine politische Vorgesetzte. Er vertraut ihr an, wie die «Neue Zürcher Zeitung» bald darauf berichtet, «was in medizinischen Kreisen, aber auch darüber hinaus, längst bekannt ist – auch wenn man nicht gerne davon gesprochen hat».1 In einzelnen Fällen werde hoffnungslos Kranken, die gelähmt und nicht mehr bei Bewusstsein sind, nur noch Wasser zugeführt. Diese Beschreibung ergänzt Urs Haemmerli mit der Bemerkung, dass seine Klinik überbelegt sei.

Die Stadträtin ist schockiert und kommt zum Schluss, dass der Tatbestand der vorsätzlichen Tötung erfüllt sein könne. Rund einen Monat später informiert sie die Zürcher Staatsanwaltschaft. Kurz darauf klingeln Kriminalbeamte am frühen Morgen an der Haustür des Chefarztes, teilen ihm mit, er sei verhaftet, durchsuchen ihn nach Waffen und nehmen ihn mit zum Verhör. Der Verdacht: Er würde Patienten die Nahrung entziehen, um ihr Ableben zu beschleunigen und so dem Bettenmangel in seiner Klinik zu begegnen.

Die Wellen schlagen hoch. Urs Haemmerli wird von seinem Chefarztposten freigestellt. Doch er – und nicht die Stadträtin, nicht die drohende Anklage – erhält viel Zuspruch. Die «Neue Zürcher Zeitung» berichtet, im Ton sachlich und das verständnisvolle Wohlwollen nicht verbergend. Das Klinikpersonal solidarisiert sich, die Medizinische Fakultät der Universität Zürich spricht ihm das Vertrauen aus. In weiten Kreisen der Bevölkerung erhält sein Tun hohe Zustimmung. In einer Stellungnahme zu Händen der Presse schreibt der Beschuldigte:

«Ich habe gegenüber meinen Patienten nie etwas getan oder angeordnet, was ich nicht bei meiner Mutter oder bei meinem Vater tun würde, wenn sie in der gleichen Lage wären wie der betreffende Patient. Wenn ich selber als Patient in der gleichen Lage wäre, würde ich mir von meinem behandelnden Arzt dasselbe Vorgehen wünschen.» Er fragt: «Unter welchen Umständen ist ein Arzt nicht mehr verpflichtet, weitere Bemühungen zur Lebensverlängerung eines unwiderruflich be­wusstlosen und sicher dem Tod geweihten Patienten zu un­ter­nehmen?»2

Die Affäre wird europaweit diskutiert. Ende Jahr reist Urs Haemmerli nach New York City und hält einen Vortrag am 8. Jahreskongress des amerikanischen Bildungsrats zur Eutha­nasie. Die «New York Times» titelt am 7. Dezember 1975: «Arzt stellt Veränderung in der Haltung zur Euthanasie fest». Das Blatt hält aus seinem Vortrag fest, dass die enormen technischen Fortschritte in der Medizin es in den letzten Jahren möglich gemacht hätten, unheilbar kranke Patienten auf unbestimmte Zeit zu versorgen. Wir müssten uns daher wie nie zuvor der Frage stellen, ob wir sie auf natürliche Weise sterben lassen sollen. Das Fazit des Schweizers in den USA: «Ich denke (…), dass passive Euthanasie schließlich legalisiert werden wird.»3

Urs Haemmerli hatte mit Blick auf die Schweiz insofern unrecht, als die passive Euthanasie – im deutschsprachigen Raum meist «passive Sterbehilfe» oder als «sterbenlassen» bezeichnet – in der Schweizer Gesetzgebung juristisch nie ausdrücklich sanktioniert war. Sie wird aber, wie der Ausgang der Affäre Haemmerli und die weiteren Entwicklungen zeigen werden, unter gewissen Bedingungen «als erlaubt ange­sehen», so die Formulierung des Bundesamtes für Justiz.4 1976, ein Jahr nach der Strafanzeige, stellt die Zürcher Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Urs Haemmerli ist rehabi­li­tiert.

Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer

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