Читать книгу Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer - Suzann-Viola Renninger - Страница 9
Glaub niemandem, der vom Schreibtisch aus philosophiert Zu diesem Buch
ОглавлениеMeist wissen wir ohne große Überlegungen, was wir zu tun haben, welche Entscheidungen richtig und welche Handlungen moralisch sind. Doch es gibt Situationen, in denen Gefühl und Verstand Gegensätzliches nahelegen. Wir schwanken und können der Frage nicht ausweichen: Was soll ich tun? Was soll ich tun, wenn ich nicht mehr leben mag, weil das Leiden zu groß ist? Was soll ich tun, wenn ein naher Angehöriger oder eine enge Freundin das Leben nicht mehr aushält und mich bittet, beim Sterben zu helfen?
Unsere moralische Orientierung umfängt uns. Wir wachsen in sie hinein, sie wird geformt durch das, was wir seit frühester Kindheit erleben. Sie ändert sich mit unseren Erfahrungen und kann durch Konflikte infrage gestellt werden. Doch für gewöhnlich ist sie so eng mit unserer Persönlichkeit und der uns prägenden Kultur und Religion verbunden, dass wir uns nur schwer vorstellen können, sie könnte auch anders sein.
Dieser gelebten, intuitiven Moral steht das Nachdenken gegenüber. Die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Moral, der Vergleich und der Kontrast mit anderen moralischen Orientierungen, kann den Blick öffnen. In der Philosophie wird das Nachdenken über die Moral als Ethik bezeichnet. Sie zeigt, auf welchen häufig nicht bewussten Voraussetzungen unsere intuitiven und von der Tradition geprägten Urteile beruhen. Die Ethik hält Begriffe, Prinzipien und Argumente parat, mit denen wir Ereignisse unter neuer Perspektive begreifen, einordnen und bewerten können. Dabei gilt der Verstand als das Mittel der Wahl. In der Praxis, der gelebten Moral hingegen führt er uns nie allein, sondern es leiten uns immer auch unsere Gefühle und unsere Intuition.
Auf was sollen wir uns nun verlassen, wenn wir vor kritischen Situationen stehen? Wenn wir zweifeln, ob wir den Sterbewunsch des Angehörigen, der Freundin mittragen und unterstützen sollen? Wenn wir selber sterben wollen, aber nicht können? Sollen wir der Tradition folgen, dem, was bisher üblich war? Sollen wir uns nach den Handlungsanweisungen der philosophischen oder theologischen Ethik richten, nach ihren meist allgemein formulierten Sätzen? Oder sollen wir auf unser Gefühl und unsere moralische Intuition hören, die uns schon den richtigen Weg weisen werden, wenn es konkret wird? Wie lässt sich die Brücke von den abstrakten Vorgaben der Theorie, den grundsätzlichen Überlegungen zum konkreten Einzelfall schlagen, der immer anders ist als alle anderen? Ist es nicht umgekehrt riskant, sich nicht von der Theorie aufklären zu lassen, sondern immer nur den eingespielten Mustern, Bauch und Herz zu folgen? Welchen Stellenwert nimmt bei alldem die Religion ein, die mit Überlieferung und Offenbarung, mit Gottes Wort und Willen argumentiert?
Helfen können hier Erzählungen. Erzählungen von dem, was Menschen in bestimmten Situationen entschieden haben und warum. Erzählungen von ihrer konkreten Not, ihren Bedürfnissen, ihren Wünschen. Erzählungen, die uns vor Augen führen, was sie bewegt, wenn sie den Freitod wählen. Es ist der Weg, den das vorliegende Buch einschlägt. Es enthält die Erlebnisse von Werner Kriesi, einem reformierten Pfarrer, der seit seiner Pensionierung 1997 als Freitodbegleiter für Exit tätig ist, die älteste Schweizer Sterbehilfeorganisation.
«Glaub niemandem, der vom Schreibtisch aus philosophiert und nie die warmen Pantoffeln auszieht», so sagte er bei unserem ersten Treffen. Er erzählte, wie es ihn prägte, als seine durch einen Hirnschlag gelähmte Mutter sterben wollte, aber nicht konnte. Wie ihn, viele Jahre später, die Bitte eines Gemeindemitglieds zu Exit brachte. Wie er Menschen half, deren größter Wunsch es war, zu sterben. Erlöst zu werden, wie sie es meist ausdrückten. Es waren Menschen, die litten. An tödlichen Krankheiten. An hohem Alter und Gebrechlichkeit. An Demenz und dem sich abzeichnenden Verlust des Selbst. An psychischen Erkrankungen oder Unfallfolgen. Und an Lebenssattheit oder Lebensüberdruss. Man müsse nah bei den Menschen sein, mittendrin in der Situation, um zu fühlen, um zu verstehen. Dann ändere sich die Einstellung. Den letzten Schritt in den Tod gehe jeder von uns allein. Doch zuvor, bis an die Schwelle, könnten wir uns die Hand reichen lassen.
Einen Sommer lang bis tief in den Herbst trafen wir uns beinahe jede Woche. Dieses Buch berichtet, wovon Werner Kriesi mir erzählt hat und was wir besprochen haben. Es enthält seine Erinnerungen an Menschen, die er in den Tod begleitete, und an Menschen, denen er dabei half, trotz Sterbewunsch weiterzuleben. Es enthält außerdem Passagen zur Geschichte von Exit wie auch zu Philosophen, deren Haltungen zum Selbstmord oder Freitod unsere Kultur geprägt haben.