Читать книгу Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer - Suzann-Viola Renninger - Страница 14
Werner Kriesi erzählt Andelka. Eine junge Mutter mit Krebs
ОглавлениеNeben dem Hauseingang finde ich fünf Klingelknöpfe, alle in kaum leserlicher Handschrift angeschrieben. Eine dunkle, verwinkelte Treppe führt hinauf zur Wohnung. Hier wohnen Ausländer, die in der Schweiz Arbeit gefunden haben. Der Ehemann Andelkas bittet mich freundlich hinein. Einfache, gepflegte Zimmer mit ringsherum großen Fenstern. Ein etwa dreijähriges Mädchen fährt in forschem Tempo mit einem Dreirad vom Gang in die Stube, rings um den Stubentisch, wieder in den Gang zurück und so mit Vergnügen hin und her. Die junge Mutter kommt am Stock in die Stube. Wir begrüßen uns.
Gestern Abend sprachen wir am Telefon das erste Mal miteinander, heute fühlen wir uns einander bereits vertraut. Andelkas Muttersprache ist Kroatisch, sie versteht alles, was ich sage. Doch ihr Deutsch ist gebrochen, und ich muss oft nachfragen. Mit größter Mühe versucht sie sich zu beherrschen, da sie wohl vor mir nicht weinen will. Sie leidet an einem unheilbaren Osteosarkom, an Knochenkrebs, der vor einem Dreivierteljahr diagnostiziert wurde. Metastasen in den Lungen führen inzwischen zu schwerer Atemnot. Der Onkologe hat schon zum dritten Mal eine Chemotherapie verordnet. Nicht zur Heilung, sondern als palliative Maßnahme, die im besten Falle zu einer Atemerleichterung führen kann.
Schweigend, in sich versunken, sitzt der Ehemann auf dem Sofa, das kleine Mädchen fährt Runde um Runde auf dem Dreirad um den Stubentisch. Wenn es an mir vorbeikommt, strahlt es mich an, will ein Kompliment. Andelka nimmt ihr Kind schließlich hoch, drückt es an ihre Brust, streichelt ihm über das Haar. Sie beginnt zu weinen, bald schluchzt sie heftig. Ich ziehe mich zurück, gehe hinaus in den Korridor. Sie und ihr Ehemann sollen sich in ihrem Schmerz nicht beobachtet fühlen. Auch empfinde ich jeden Versuch eines Trostworts in einer solchen Situation als reinen Zynismus.
Andelkas Eltern betreiben in Kroatien einen Bauernhof mit ein wenig Viehwirtschaft sowie Maisanbau. Hier wuchs sie mit vier Brüdern auf. In die Schweiz kam sie vor zehn Jahren, weil die wirtschaftlichen Verhältnisse daheim eine anständig bezahlte Arbeit nicht erlaubten. Andelka fand eine Anstellung in einem Privathaushalt. Ihre Arbeitgeberin, eine Anwältin, ist der jungen Frau sehr zugetan und hilft, wo immer sie nur kann. In den Akten von Exit ist sie als Kontaktperson aufgeführt.
Der Ehemann ruft mich in die Stube zurück. Das Kind fährt alsbald wieder seine Runden, und wir setzen unser Gespräch fort.
Als sich der Krebs immer tiefer in dem rechten Oberschenkelknochen ausgebreitet hatte, wurden die Schmerzen trotz hoher Morphiumdosen unerträglich. Die Ärzte schlugen vor, das Bein samt einem Teil des Hüftknochens zu amputieren. Andelka lehnte ab: «Das wäre eine Monsteroperation. Jetzt kann ich immerhin mit dem Stock noch in der Wohnung herumgehen. Nachher sitze ich im Rollstuhl. So oder so werde ich sterben. Ich spüre, wie der Krebs meine Lungen frisst, mit jeder Woche geht mein Atem schwerer.»
Andelkas Ehemann kam Jahre nach ihr in die Schweiz, arbeitet seither in einem Gemüsegeschäft. Seine Deutschkenntnisse beschränken sich auf das dort täglich verwendete Vokabular. Ein differenziertes Gespräch mit mir über Krankheit, Schmerzen, Sterbehilfe und Tod überfordert sein Sprachvermögen. Doch Andelka versichert mir, ihr Mann sei mit ihrem Entscheid zu sterben nach langer innerer Auseinandersetzung einverstanden. Er erlebe ihre Schmerzen und wisse von den Ärzten, dass es keine Hoffnung auf Heilung gebe. Seit einigen Monaten befasst sich das Ehepaar mit der Frage eines Freitodes.
Sie spricht über ihre große Angst. Vor dem Sterben und vor allem, dass sie auf diese Weise, mithilfe eines Sterbemittels, sterben wolle. Sie verstehe ihr Schicksal nicht. Sie sei doch immer gut gewesen zu den Menschen, warum müsse die furchtbare Krankheit gerade sie treffen? Daher will sie auch vermeiden, dass jemand aus ihrer Verwandtschaft von ihrem Freitod erfährt. Das würde in Kroatien niemand verstehen. Die seien nicht nur konservativ katholisch, sondern auch abergläubisch. «Eine alte Frau aus der Verwandtschaft erzählt, ich sei verhext worden. Nur so sei die Krankheit zu erklären.» Diese hätte sogar schon einen Priester organisiert, der zur Teufelsaustreibung in die Schweiz reisen wollte. Andelka lehnte energisch ab.
Als ich sie frage, ob sie mit einem katholischen Priester aus der Schweiz sprechen möchte, verneint sie. Ich schließe daraus, dass sie und ihr Mann sich bereits von ihrem Kindheitsglauben distanziert haben, in ihren tieferen Gefühlen aber noch an die Glaubensüberlieferungen ihrer Herkunft gebunden sind. Ich versuche der jungen Frau die Gewissheit zu vermitteln, dass sie ein gutes Leben geführt habe, eine sehr gute Mutter und allseits geschätzte Frau sei und ihre Krankheit mit einer göttlichen Strafe nichts zu tun habe. Ich bestärke sie in ihrer Einsicht, dass Fegefeuer und ewige göttliche Verdammnis ein Relikt des geistigen Terrors der mittelalterlichen Kirche sind.
Mehr ist im Rahmen eines Erstgesprächs, zudem mit der beschränkten sprachlichen Verständigung, nicht möglich. Ein Kroatisch sprechender und der Freitodhilfe gegenüber liberal denkender Psychotherapeut wäre jetzt die angemessene Hilfe. Ein solcher Schritt wäre vor einigen Monaten oder Wochen angebracht gewesen und hätte von vernünftig denkenden Ärzten auch veranlasst werden müssen.
Als ich in der Nacht heimfahre, werde ich vom Schmerz über das Leiden dieser Frau überwältigt. Man müsste wohl ein Herz aus Stein haben, wenn man sich in einer solchen Situation nicht schwer bedrücken ließe.
Am nächsten Morgen rufe ich den langjährigen Hausarzt von Andelka an und informiere ihn über die baldige Freitodhilfe. Er schreibt mir ein drohendes Mail, bestreitet die Gültigkeit des bereits bestehenden Rezeptes eines Kollegen für das Sterbemittel und droht mit einer Klage vor Gericht. Die Krankheit, so behauptet er, sei nicht hoffnungslos und es bestünden noch sinnvolle Möglichkeiten der Behandlung. Damit widerspricht er der Diagnose des Onkologen, der schon vor Wochen eine «palliative Chemotherapie» verordnet hat, die nach den Richtlinien der WHO als die umfassende Versorgung eines sterbenden Menschen definiert ist, ohne dessen Leben zu verlängern oder zu verkürzen. Palliativmedizin wird somit eingesetzt, wenn nach ärztlichem Ermessen keine Heilungschancen mehr gegeben sind.
Andelka wird medizinisch bestens betreut und erlebt liebevolle Zuwendung von verschiedenen Seiten. Doch ist sie an der Grenze dessen angelangt, was sie physisch und psychisch an Leiden aushalten kann. Ungeachtet des unaussprechbaren Schmerzes, Kind und Ehemann verlassen zu müssen, möchte sie innert der nächsten zwei Wochen sterben. Exit zieht einen weiteren Arzt hinzu, der nach einer ausführlichen Begutachtung schließlich ein neues Rezept ausstellt.
Als Andelka am Tag ihres Sterbens mit bereits gesteckter Infusion auf dem Bett liegt, wünscht sie, das Vaterunser zu beten. Mit ihrer rechten Hand umklammert sie mein Handgelenk, und während der letzten Worte des gemeinsam gesprochenen Gebetes öffnet sie mit der anderen die Infusion. Wenige Sekunden später sinkt sie in den tödlichen Schlaf.