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David

Magenza, 27. Mai 1096

Am Abend des Vortages konnte Marcus, der sich für ein paar Besorgungen in die Stadt getraut hatte, berichten, dass die Juden über Vermittlung des Bischofs den Kreuzfahrern Geld für ihre Sicherheit angeboten hatten. »Ich habe aber keine Ahnung, ob Ermicho das angenommen hat«, erzählte er mit bedauerndem Schulterzucken. Doch dann brandete Lärm auf, nicht vom Dom her, aber aus Richtung St. Quintin.

»Das ist bei der Synagoge«, rief David aufgeregt. Auch Marcus horchte. »Mein Gott, es klingt, als würde dort gekämpft!« Doch der Lärm hielt nicht lange an und es breitete sich wieder Stille aus. David horchte angestrengt, doch es war nichts mehr zu vernehmen. »Ich muss nachsehen, was geschehen ist«, presste er zwischen den Zähnen heraus.

»Nein, lass das bloß sein, du kannst ohnehin nichts daran ändern!«, drängte Marcus und griff nach der Hand des Freundes. Doch David zog sie verärgert weg. »Da wird vielleicht das Haus meiner Familie geplündert und ich soll hier sitzen und abwarten?«

»Wenn sie nur plündern«, flüsterte Marcus. »Du hast doch den Haufen gesehen. Sie tragen ihre Waffen bestimmt nicht nur zum Angeben!«

»Das ist mir egal. Ich will wenigstens sehen, wer sich an unserem Besitz zu schaffen macht!« Er lief zur Tür, schob den Riegel auf und sprang auf die Straße, ehe der erschrockene Marcus ihn zurückhalten konnte.

Auf der Straße wandte sich David gleich nach Süden in Richtung St. Quintin und der Synagoge zu. Doch schon von der Straßenecke aus sah er die zerbrochene Tür und zerschlagene Möbel vor dem Gebäude liegen. Mit klopfendem Herzen trat er näher. Die Plünderer hatten sich offenbar verzogen. Er war einen Augenblick versucht einzutreten, überlegte es sich dann aber anders und lief die Straße entlang dem Dom zu. Vor ihm hörte er die Menge schreien. Er begann zu rennen und das massige Querhaus aus rotem Sandstein mit dem rechteckigen Vierungsturm kam ihm in den Blick. Um zum Bischofspalast zu gelangen, musste er entweder im Osten oder Westen um den Komplex der drei Kirchen herum. Er entschied sich für den Westen und wandte sich auf St. Johannis zu. Er lief an der Außenmauer des Kreuzgangs entlang, der hier im Norden des ehemaligen Doms lag, und bog dann um das Westwerk der Kirche herum. Vor ihm führte der lange überdachte Arkadengang zum Dom. Dahinter lag, nun genau vor ihm, der neue Kreuzgang mit dem angrenzenden Palast des Bischofs. Doch davor wogte eine Menschenmenge, die »Taufe oder Tod!« skandierte. David konnte nicht erkennen, was genau vor sich ging. Ohne nachzudenken, stürzte er sich in das Gedränge. Das Rufen und Schreien um ihn herum wurde immer lauter, aber irgendwie schaffte es David, sich vorzuarbeiten. Plötzlich kam Bewegung in die Menge.

»Sie haben die Tür zur Halle aufgebrochen«, rief jemand von vorne. »Jetzt sind die Ungläubigen dran! Taufe oder Tod!« Benommen wurde David von der aufgepeitschten Menge mitgerissen und fand sich plötzlich an der Tür zur bischöflichen Halle wieder. Starr vor Entsetzen wurde er Zeuge des letzten Aktes des Massakers. Einige Brüder versuchten, sich mit wenigen Speeren und Möbelstücken gegen die eingedrungenen Kreuzfahrer zu wehren. Wo waren nur die Mannen des Bischofs? Ohne sie hatten die Juden keine Chance gegen die aufgeputschte Meute. Vor den Verteidigern lagen bereits Leichen von ermordeten Glaubens­brüdern, Schwestern und Kindern auf dem Boden. Doch was er ganz hinten sah, ließ ihm das Blut in den Adern stocken: Eng zusammengedrängte Frauen erstachen ihre eigenen Kinder, bevor sie sich selbst das Messer in die Brust rammten. Sie wollten lieber von eigener Hand sterben, als ein Opfer der Unbeschnittenen zu werden oder den Glauben ihrer Mütter zu verleugnen. Wie in Trance erblickte David seinen Onkel Ruben, der seine Rebecca an sich drückte. Ein Messer blitzte auf und der Hüne hielt sie sterbend an sich gedrückt. Dann legte er sie vorsichtig zu Boden und wollte das Messer gegen sich selbst richten. Doch der Schmerz musste ihm die Sinne vernebelt haben, denn statt sein Werk zu vollenden, stürzte er sich plötzlich mit einem markerschütternden Schrei auf die Angreifer. Erschrocken wichen die Mörder in der vordersten Front zurück, wurden aber von den nachdrängenden vor sich hergeschoben. Ein Handgemenge entspann sich und Blut spritzte auf. David, der endlich wieder aus seiner Trance erwachte, wollte sich zu den Kämpfenden durchdrängen, doch er stolperte und fiel. Bevor er aufstehen konnte, trat ein Mann auf ihn, ein anderer Stiefel traf seinen Kopf. Hart schlug sein Schädel auf den Boden und um David wurde es dunkel.

Als er erwachte, lag er auf einem harten Feldlager. Brand lag in der Luft. Einen Augenblick wusste er nicht, wo er sich befand, doch dann traf ihn die Erinnerung wie ein weiterer Fußtritt und er wünschte sich, in die Besinnungslosigkeit zurückzufallen. Doch sein Körper erfüllte ihm diesen Wunsch nicht. Schließlich schlug er blinzelnd die Augen auf. Neben ihm lag noch ein Verwundeter. Hatten die Männer des Bischofs etwa noch eingegriffen und die letzten Überlebenden gerettet? Doch der Mann neben ihm gehörte nicht zur Gemeinde. Er befand sich im Lager der Kreuzfahrer!

»Na, bist du wieder wach?«, raunzte ihn eine Stimme von der anderen Seite an. David fuhr herum, was er sofort bereute. Sein Schädel dröhnte wie eine Glocke. »Bist du wach?«, wiederholte die fremde Stimme. David erkannte einen älteren bartlosen Mann als den Sprecher. Allem Anschein nach ein armer Bauer oder Tagelöhner. Er nickte vorsichtig. »Hast Glück gehabt, dass ich dich rausgezogen habe. Beinahe hätten sie dich totgetrampelt. Es sind überhaupt mehr Männer totgetrampelt als von den Ungläubigen erschlagen worden!«

David verstand nicht. »Du hast mich aus der Halle des Bischofs gezogen?«, fragte er verwundert. Ein Gefühl warmer Dankbarkeit überkam ihn. Der Bauer hatte ihm das Leben gerettet. Offenbar befand sich unter all den Mördern und Räubern ein Mensch!

»Ja, zu plündern gab es da ohnehin nicht viel. Und wir, die wir gelobt haben, unser Leben dem heiligen Krieg zu weihen, müssen doch zusammenhalten.«

Wieder traf die Erkenntnis David völlig unvorbereitet. Der andere hielt ihn für einen Kreuzfahrer. Einen der Mörder seines eigenen Volkes! Er wollte aufbegehren, doch konnte sich gerade noch beherrschen. Er könnte niemanden mehr retten. Außer sich selbst. »Hast du etwas Wasser für mich?«, bat er und schloss wieder die Augen. »Was ist aus dem Erzbischof geworden?«, fragte er dann.

Der Bauer reichte ihm einen Lederschlauch. »Hier, trink. Der Bischof ist geflohen, soweit ich weiß. Nach Rüdesheim, und auch einige Juden sind mit ihm entwischt. Emicho hat vor Wut getobt. Die Prophezeiung sagt, er wird nur Kaiser, wenn er sie alle erwischt, weißt du?« David trank begierig von dem dargebotenen Wasser. »Wie heißt du eigentlich?«, fragte der Bauer. »Mein Name ist Konrad, oder Kunz, für meine Freunde.«

David nickte wieder. »Ich heiße Da–«, er hustete, »Darius.«

»So, Darius«, wiederholte Kunz nachdenklich. »Ich habe dich bisher noch gar nicht gesehen.«

Davids Gedanken rasten. »Ich bin erst in Schp–«, wieder unterbrach er sich. Die Christen nannten die Stadt Spira, nicht Schpira. »Ich bin erst in Spira zu dem Heer gestoßen«, erklärte er.

»Und schon verwundet? So ein Pech!« Kunz grinste schief. »Wo willst du eigentlich hin?«

»Nach Jerusalem natürlich«, behauptete David.

»Ach ja? Sieh mal einer an.« Der Bauer wiegte den Kopf.

abe ich etwas Falsches gesagt?, fragte sich David mit aufkeimender Panik. »Wollen wir da nicht alle hin?«, wandte er sich heiser an seinen Retter.

»Ich schon«, entgegnete Kunz. »Deus lo vult – Gott will es! Und einige andere Männer auch. Wir sind nicht von unserer Scholle gewichen, um hier in den christlichen Städten zu wüten. Aber Emicho will weiter nach Coellen und Treveris ziehen. Er hat es sich zur Aufgabe gesetzt, zuerst alle Ungläubigen im Frankenreich zu bekehren oder auszurotten. Aber wenn du willst, kannst du mit mir und den anderen ziehen, wir wollen den Moin hinauf und versuchen, das Heer Peters des Eremiten einzuholen.«

David stöhnte. Sein Kopf schmerzte pochend und er schloss die Augen. Doch das war nicht besser. Vor seinem geistigen Auge erschienen Bilder der gerade erlebten Katastrophe und verschwammen mit dem Anblick der Kreuzfahrer und der Verwundeten neben ihm, bevor ihn ein gnädiges Schwarz umfing.

Als David wieder erwachte, war die Sonne bereits aufgegangen und es roch nach Essen. Erst jetzt bemerkte er, wie hungrig er war, und schlug die Augen auf. Er sah, dass er sich noch immer auf dem improvisierten Krankenlager unter den Arkaden zwischen St. Johannis und St. Martin befand. Auch Kunz, die gute Seele unter den Mördern, war noch da, drehte ihm aber den Rücken zu und sprach mit einem anderen Mann. David konzentrierte sich, um etwas zu verstehen.

»Wir haben sie nicht alle erwischt. Einige sind mit dem Bischof nach Rüdesheim entkommen, es verstecken sich aber sicherlich auch noch welche in der Stadt! Manche Christen gewähren ihnen sogar Unterschlupf.« David erstarrte. Er kannte die Stimme. Das war Gerold. Als hätte er nicht schon genug Schaden angerichtet! Wieder erschien das Bild Rubens vor Davids innerem Auge, mit seiner toten Rebecca im Arm. Tränen stiegen ihm in die Augen und beinahe hätte er laut geschluchzt, aber er durfte sich nicht zu erkennen geben! Der Verräter suchte nach ihm und den überlebenden Geschwistern! Er rollte sich zusammen und spielte den Schlafenden. Ob sie ben Levi bereits erwischt hatten? Der gut laufende Laden des Goldschmieds war sicherlich eines der ersten Ziele von Leuten wie Gerold gewesen. Endlich verstummten die Stimmen, aber auch sein Hunger war David vergangen. Was sollte er bloß tun? In der Stadt würde ihn früher oder später einer dieser Mörder erkennen, denn Gerold war sicherlich nicht der Einzige. Es gab nur eine Möglichkeit: Er musste sich Kunz und den Männern anschließen, die weiter nach Jerusalem ziehen wollten. Kaum hatte er die Entscheidung getroffen, begann sich sein aufgewühltes Gemüt zu beruhigen. Er hatte ein Ziel. Langsam rollte er sich wieder auf den Rücken und blinzelte hinauf in das Gewölbe des Ganges. Kunz war immer noch da und beschäftigte sich mit dem Kochfeuer. Von Gerold war nichts mehr zu sehen. David setzte sich auf. »Kunz«, rief er leise.

Der Bauer fuhr herum. »Da wirst du ja endlich wach. Ich habe mich schon gefragt, ob bei dir vielleicht mehr nicht stimmt als die paar Tritte gegen den Kopf.« Er grinste, offensichtlich erleichtert, seinen Schützling weitgehend wohlauf zu sehen.

»Wann wollen wir denn nun weiterziehen?«, fragte David unvermittelt. »Es ist mir zuwider, hier im Frankenreich den Schwachen aufzulauern. Ich will Größeres vollbringen!« Der erste Teil der Aussage war zumindest vollkommen wahr.

»Ganz meine Gedanken«, rief Kunz begeistert. »Morgen schon ziehen wir weiter. Der lange Heinrich führt uns an. Er kennt sich mit so etwas aus, denn er war Vorarbeiter auf einem Zehnthof. Ich mache euch heute Abend bekannt.«

»Gut«, bestätigte David. »Und noch etwas.«

»Ja?«, fragte Kunz und hob die Brauen.

»Kann ich etwas von deinem Eintopf haben?«

Das Spital zu Jerusalem

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