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David

Lager vor Semlin, Juli 1096

Das ist das Lager Peters!«, rief Heinrich begeistert und wies auf eine riesige, vollkommen ungeordnete Zeltstadt, die sich zu ihren Füßen am Zusammenfluss zweier Wasserläufe ausdehnte.

»Und dahinter Jerusalem!«, jauchzte Fulco. Doch da hatte er sich wieder getäuscht.

Heinrich schüttelte langsam den Kopf. »Nein«, entschied er. »Aber der gute Mann hier sagt, dass dort Romania beginnt. Wir sind also fast in Konstantinopel!« Seine Ausführung löste bei allen, außer dem enttäuschten Fulco, nun wirklich Jubel aus.

Inzwischen war ihre Gruppe zu einem Trupp von achtundzwanzig Männern und Jungen angewachsen. Die meisten waren, nur spärlich mit Heugabel oder Jagdspieß bewaffnet, ihren Lehnsherren davongelaufen. Doch in der Gruppe fühlten sie sich stark und dass sie nun mit einem Mal sowohl Peters Heerzug als auch die Grenze des romanischen Imperiums erreicht hatten, ließ selbst Davids Herz höherschlagen. Immerhin waren es ja die Romanen, die, von den Ungläubigen bedrängt, Papst Urban um Hilfe gerufen hatten.

»Was ist denn hier los?«, fragte David erstaunt, als sie wenig später das Lager der Kreuzfahrer erreichten. »Was soll der Aufruhr?« Die Männer, Frauen und tatsächlich auch einige Kinder riefen in fremden Dialekten und Sprachen durcheinander. »Sind das Lothringer oder Flamen?«

Doch auch Kunz zuckte die Achseln. »Ich weiß auch nicht, lass uns weiter gehen, irgendwo in diesem Haufen werden auch Rheinländer sein.« Heinrich führte sie ohnehin zielstrebig zur Lagermitte, wo er inmitten einer wild gestikulierenden Menschen­traube Peter von Amiens ausgemacht hatte. Die Tracht des Einsiedlers machte es einfach, ihn zu erkennen. Schließlich erkannte Kunz einen Rheinländer in der äußeren Reihe des Auflaufs an seiner Tracht. »Was geht hier vor?«, wandte er sich an den Fremden. »Wir sind gerade erst im Lager eingetroffen und haben keine Ahnung was los ist«, fügte er noch erklärend hinzu.

»Dort im Süden vom Fluss, vor den Mauern von Semlin, findet gerade ein Markt statt«, erklärte der Mannin der Rheinländer Tracht, seinem Dialekt nach aus der Gegend von Coellen.

»Und?«, fragte Kunz, »das ist doch kein Grund für einen solchen Aufruhr?«

»Das alleine nicht, aber es gab heute Morgen Streit zwischen den Marktleuten und einigen Lothringern, die Schuhe kaufen wollten. Und schließlich kam es zu Handgreiflichkeiten. Die Knechte der Stadt haben unsere Leute schließlich geschlagen und ihnen die Kleidung und Rüstung gestohlen. Du kannst sie von der Mauer hängen sehen. Damit verhöhnen diese Kerle das Heer Gottes!«, ereiferte sich ein anderer Mann hinzutretend. David kniff die Augen zusammen und spähte über den Fluss hinüber. Tatsächlich hingen an der Stadtmauer Kettenhemden und Lederrüstungen. Er zählte sechzehn Stück. Der Stadtkommandant hatte sie offenbar zur Warnung an alle weiteren Unruhestifter dort aufhängen lassen.

»Und was sagt Peter?«, fragte Kunz in Richtung Zentrum des Auflaufes nickend.

Aber ihr Gesprächspartner winkte nur ab. »Der war nicht dabei! Walter Sans-Avoir will die Beleidigung jedenfalls nicht hinnehmen.« Und schon verschwand er wieder im Getümmel.

»Walter Sans-Avoir?«, fragte David erstaunt. »Heißt das auf Deutsch nicht Walter der Habenichts also Walter von nichts?«

Doch Kunz zuckte wieder die Schultern. »Keine Ahnung, und es ist mir auch egal was dieser Edle hat oder nicht hat. Die Leute werden sich schon beruhigen. Lass uns einen guten Lagerplatz suchen.«

Aber die Wut der Kreuzfahrer verrauchte nicht, wie Kunz gehofft hatte. Sie waren Monate durch das Land gezogen, ohne einen einzigen Kampf auszufechten oder, was für die meisten noch wichtiger war, die Gelegenheit zum Plündern. Schließlich zog eine gerüstete Rotte über den Fluss. Als die Markthüter drüben beschlossen, es sei nun besser, den Markt aufzulösen und sich hinter der Stadtmauer in Sicherheit zu bringen, folgte der Großteil der übrigen Kreuzfahrer mit lautem Geschrei. Der Mob machte sich sofort über die Marktstände und jene der unglücklichen Ungarn her, die nicht rechtzeitig mit den Marktwächtern hinter die Stadtmauern geflohen waren. Halb aus Neugier, halb von den Massen mitgerissen, stieg auch David durch den Fluss. Und schon standen die Kreuzfahrer vor der Mauer, von der wie zum Hohn immer noch die sechzehn Rüstungen der Lothringer herabhingen. Die Mauer war nicht hoch, vielleicht zwei Mannslängen, wie David feststellte, und die Stadtleute standen in einer weit auseinander gezogenen Kette auf der Mauerkrone. Da stieg ein Mann in einem rostigen Kettenhemd vor der schreienden Menge auf einen umgestürzten Marktstand. Er hob die Hände zum Zeichen, dass er etwas sagen wollte, was den Tumult aber noch vergrößerte. Doch da zog er mit einer schnellen Bewegung etwas aus der Tasche und hielt es hoch. Und der Anblick wirkte wie ein Wunder. Es war eine goldene Kette und das Blitzen des Edelmetalls schaffte mühelos, was der Mann mit seiner Stimme nicht vermochte. Die Menge schwieg. »Ich bin euer Anführer!«, rief er laut.

»Walter Sans-Avoir«, flüsterte jemand in Davids Nähe. Walter der Habenichts, dachte David verächtlich.

»Ich verspreche diese Kette demjenigen, der als Erster in die feindliche Stadt eindringt!« Der Rest ging im lauten Rufen und Schreien unter. Und auch Walter selbst sprang, nachdem er noch einmal mit der Kette gewunken hatte, wieder von seiner improvisierten Bühne herab. David stand wie versteinert, während um ihn herum alles zur Mauer drängte. Als Walter die Kette in der Sonne schwenkte, hatte er das Stück erkannt. Es war die Kette Rabbi ben Ezers gewesen! Jene Kette, die einst Rabbenu Gerschom, der »Leuchte des Exils«, gehört hatte!

Wie in Trance drängte er nach vorne, während die Besatzung von Semlin begann, wild Pfeile in die außer Rand und Band geratene Menge zu schießen. Die Kette war zu kostbar, als sie in den Händen der Ungläubigen zu lassen! Er musste sie zurückhaben. Vielleicht war sie das Einzige, was von Rabbenu Gerschom und der ehrwürdigen Jeschuwa noch existierte! Wenige Augenblicke später befand sich David bei dem umgestürzten Marktstand, der gerade erst Walter dem Habenichts als Bühne gedient hatte. Ein langes Rost, auf welchem vormals die Waren gelegen hatten, vermutlich das unter dem Stand in den Matsch getretene Obst, war intakt. David griff danach. Die Stangen, eigentlich nur aufgesammelte Äste, waren dünn und mochten einen erwachsenen Mann kaum zu halten, aber vielleicht hielten sie doch lange genug, um einem schlanken Jungen wie ihn bis zur Mauerkrone hinaufzuhelfen? Entschlossen nahm er den Rost und drückte sich zwischen den Männern hindurch. Endlich kam er ins Freie und lief rasch an der Mauer entlang, bis er einen kaum bewachten Abschnitt erreichte. Hinter einem vorkragenden Turm, der den Blick vom umkämpften Mauerabschnitt abschirmte, war niemand zu sehen. Die wenigen Verteidiger waren alle zu der von der Menge bedrängten Stelle geeilt. David überlegte nicht lange, lehnte seine improvisierte Leiter an die Mauer und stieg in dem Winkel zwischen vorkragendem Turm und Mauer hinauf. Er hatte zu Hause in Magenza zusammen mit Marcus etliche Mauern erstiegen. Doch als er schwankend auf der wackligen obersten Sprosse stand, war er sich plötzlich nicht mehr sicher, ob das eine so gute Idee gewesen war. Vor Aufregung und Anstrengung schnaufend, aber so dicht an die kühle Mauer gedrückt, dass es ihn den Blicken eines etwa zufällig vorbeieilenden Verteidigers auf dem Wehrgang entzog, atmete er tief durch. Was mache ich hier eigentlich? Doch anstelle weiter über seine eigene Frage nachzudenken, spannte er seine Muskeln zum Sprung, denn er konnte die Mauerkrone mit den Händen noch nicht erreichen. Ihm blieb ein einziger Versuch, denn unter seinen Füßen gab der Holzrost bereits langsam nach. Er sprang und bekam die Mauerkante zu fassen. Ohne nachzudenken, zog er sich im Klimmzug nach oben und drückte den Oberkörper zwischen zwei Zinnen. Zu seinem Glück befand sich dort immer noch kein Verteidiger und so gelangte David schließlich ins Innere der Stadt. Ohne Rüstung und Waffen beachtete ihn niemand. Offensichtlich hielten ihn die Verteidiger für einen der vom Markt geflohenen Ungarn.

Doch noch bevor er sich über seine weiteren Schritte klar werden konnte, klang vom Tor her ein dumpfes Krachen herüber. Er rannte in die Richtung des Lärms und drängte sich zwischen den völlig kopflosen Verteidigern hindurch. Doch bevor er die nächste Leiter erreichte, die ihn in die Stadt hinabbringen konnte, krachte es nochmals und er hörte Holz splittern und Schreie aus unzähligen Kehlen. Ob es Jubel oder Angst war, vermochte er nicht zu sagen. Er rannte zurück zur Brustwehr und blickte zum Tor. Dort kam Bewegung in die Menge und mit lautem Geschrei stürmten die Kreuzfahrer durch das geborstene Tor in die Stadt. David schaute mit offenem Mund zu, wie sie mit gierigen Blicken in die Stadt drängten. Die Männer stürzten sich wie wilde Bestien auf die Bürger der Stadt, schlugen oder stachen auf sie ein und ließen selbst die auf den Boden Gefallenen nicht in Frieden. Ihm wurde übel. Er hatte keine Lust, mit in die Stadt zu ziehen, die er beinahe selbst dem Verderben geöffnet hätte. Er schluckte den sauren Geschmack herunter. Dies war kein Spiel mehr wie damals, als er mit Marcus über die Mauern von Magenza gestiegen war. Dies war blutiger Ernst. Dieselbe Raserei, die seine eigene Familie ausgelöscht hatte! Was war schon ein Menschenleben? Hatte Gott seine Erde gänzlich verlassen? Kümmerte es ihn, dass die heiligen Gemeinden von Magenza und Warmaisa nicht mehr waren? Taumelnd verließ er die Stadt durch das gesprengte Tor. Er war noch nicht weit gekommen, als ihn ein starker Rauchgeruch umwehte. Er blickte zurück und sah dichte schwarze Wolken über Semlin. Die Stadt brannte! Die ersten Männer kamen bereits wieder aus dem Tor. Unter ihnen Walter. Wem mochte er die Kette gegeben haben, fragte sich David bitter? Er selbst war als Erster in der Stadt gewesen, aber wer würde das bezeugen, und welchen Unterschied hatte es gemacht? Nun war er froh, dass er sich das Blutgeld für Semlin nicht verdient hatte. Wie nannten die Christen ihren Gottesmörder? Judas! Der sollte auch Jude gewesen sein, behaupteten sie. Aber er, David, würde nie ein Judas werden! Werners Triumphgeschrei riss ihn aus seinen Gedanken.

»Der Herr hat die Ungläubigen heute in unsere Hände gegeben! Lasst uns die Rache des Herrn vollstrecken. Auf nach Beograd!« Er wies mit seinem Schwert über die Save, die die beiden Städte voneinander trennte.

»Walter und seine Freunde behaupteten, gestern seien über viertausend Romaner und Ungarn gestorben«, berichtete Kunz emotionslos. »Er hat den heiligen Bann vollstreckt, sagt er.« Auch die rissige und teilweise verfallene Mauer von Beograd hatte der wütenden Horde nicht stand gehalten. Der Kommandant der Stadt war mit seiner Truppe gleich nach Süden in Richtung auf Naissus hin abgezogen.

»Und was sagt Peter?«, raffte sich David zu einer Frage auf.

»Der Einsiedler?«, fragte Kunz zurück. »Ich glaube, er will, dass wir unsere Kraft und Wut für die Seldschuken aufsparen. Man sagt, er sei von ihnen auf einer Pilgerreise ins Heilige Land überfallen und schwer misshandelt worden. Daher sein Eifer.«

Überrascht blickte David auf. »Peter war bereits einmal im Heiligen Land?«

»Es heißt, er habe die Heiligen Stätten nie erreicht, sondern sei zuvor von den Türken zur Umkehr gezwungen worden.«

Nachdenklich blickte David in den wieder rauchfreien Himmel. »So wird Böses mit Bösem vergolten«, sinnierte er.

»Was redest du da?«, fragte Kunz.

Aber David winkte ab. »Wann marschieren wir denn weiter?«

Vier Tage später erreichten sie das ebenfalls an der Via Militaris, der alten römischen Heerstraße zwischen Morgen- und Abendland gelegene Naissus. Die Stadtbefestigung war wesentlich besser in Schuss als die von Beograd oder Semlin. Eine hohe Mauer, die alle fünfzig Schritte von einem vorspringenden Turm geschützt wurde, lag vor ihnen in der Ebene. Bunte Fahnen und blitzendes Eisen zeigten an, dass diese Mauern auch besetzt war.

»Hier wird es uns nicht so leicht gelingen, in die Stadt zu kommen«, bemerkte Kunz.

»Wir können ja auch nicht jede Stadt, die an unserem Weg liegt, niederbrennen«, antwortete David lahm.

»Immerhin haben wir seid Beograd nicht mehr hungern müssen, aber nun benötigen wir langsam wieder Nachschub«, warf Heinrich ein, der in ihrer Nähe stand. »Wenn sie uns nicht freiwillig versorgen, werden wir uns nehmen müssen, was uns zusteht. Walter hat gesagt: ›Der Ochse, der drischt, darf auch fressen‹, oder so.«

»Du sollst dem Ochsen, der da drischt, das Maul nicht verbinden!«, mischte sich einer der erst spät zum Heerzug gestoßenen Männer ein. Es war Hunold, dessen ausgewachsene Tonsur den entlaufenen Mönch verriet.

»Vielleicht lässt sich der Kommandant von Naissus ja auf Verhandlungen ein. Sicherlich wurde ihm bereits von unserer unbändigen Kraft berichtet!«, übernahm wieder Heinrich das Wort. Es war ihm offensichtlich zuwider, von dem entlaufenen Mönch korrigiert zu werden.

Schließlich lagerte das Heer in der gewohnten Unordnung unter den Mauern von Naissus. Es dauerte nicht lange, bis sich die ersten Gerüchte an den Kochfeuern verbreiteten.

»Peter hat die Verhandlungen diesmal selbst geführt«, hieß es.

»Der Stadtkommandant will uns Nahrung liefern, wenn wir friedlich an der Stadt vorbeiziehen.«

»In Triadica wartet eine Eskorte, die uns direkt zum Kaiser in Konstantinopel bringen soll«, wussten andere.

»Und dann sind wir endlich in Jerusalem?«, wollte Fulco wissen.

»Zumindest bei den Heiden, die wir dann besiegen werden«, erklärte Kunz voll schlichter Zuversicht.

Da der Stadtkommandant versprochen hatte, die Nahrungsmittel erst nach dem Durchzug der Kreuzfahrer zu liefern, begann das Heer früh am nächsten Morgen mit dem Abbrechen des Lagers. Wie üblich marschierten die Ersten bereits aus dem Lager, während andere gerade erst ihre Kochfeuer entfachten, um Frühstück zu bereiten. Wegen ihrer geringen Habe zählten Heinrichs Leute normalerweise eher zu den früh Aufbrechenden. Und so war es auch diesmal, sie marschierten auf das nächste südlich gelegene Dorf zu.

»Ist das nicht unsere deutsche Muttersprache, die ich da höre?«, fragte Kunz stirnrunzelnd. Tatsächlich schlugen ihnen ärgerliche Stimmen entgegen.

»Anscheinend gibt es Streit. Lass uns lieber schnell vorbeigehen«, mahnte David seine Kameraden zur Eile. Doch noch während sie auf der Straße rasch ausschritten, um das Dorf hinter sich zu lassen, eskalierte dort die Situation. Lautes Geschrei in deutscher und ungarischer Sprache vermischte sich und kulminierte im Klirren von Eisen.

»Dort hinten brennt es«, rief Kunz und hielt David am Ärmel zurück. Tatsächlich schlugen auf einmal Flammen an einer Mühle empor und leckten gierig nach den stoffbespannten Flügeln. Eine schwarze Rauchfahne stieg in den klaren blauen Himmel.

»Nichts wie weg«, stöhnte David. »Das sieht ja aus, als würden sie das ganze Dorf niederbrennen!« Er lief los, ohne darauf zu achten, ob ihm die anderen Männer folgten.

»Hier gibt es bestimmt was zu essen«, rief Heinrich von hinten. David blickte über die Schulter und sah, dass ihm nur Kunz folgte.

»Nicht so schnell«, keuchte der alte Bauer. »Was hast du denn auf einmal?«

David konnte es selbst nicht sagen, aber Furcht hatte ihn erfasst. »Ich weiß nicht, aber ich habe so ein Gefühl wie in Magenza, bevor der Sturm auf den Bischofsplast begann. Irgendetwas Schreckliches wird geschehen.« Kunz sah ihn verständnislos an und David biss sich erschrocken auf die Unterlippe. Fast hätte er verraten, dass er in Magenza auf der anderen Seite gestanden hatte. Doch da erhob sich hinter ihnen, noch weiter im Norden, ein ungeheurer Lärm, dort, wo gerade die letzten Männer und Frauen das Lager zu Füßen der Stadtmauern von Naissus verließen. Nicht nur Geschrei von Menschen, auch das Stampfen von Pferden und Waffengeklirr war zu hören.

Kunz wurde bleich. »Der Stadtkommandant hat seine Horden gegen die Heiligen entfesselt.«

David lachte trocken. »Vielleicht ist unser Maß voll. Heilig haben wir uns weder hier noch in Semlin verhalten.«

Kunz blickte ihn erschüttert an. »Wenn Gott nicht mehr mit uns ist, dann sind wir verloren!«

»Vielleicht ist er uns zumindest gnädig. Lass uns abhauen«, entgegnete David und sie rannten los. Sie liefen vorbei an der lang gezogenen Kolonne, während immer mehr Männer und Frauen bemerkten, dass hinter ihnen etwas nicht stimmte. Einige zeigten nach hinten, auf die Rauchsäule und die Stadt. Andere, schneller von Begriff, folgten dem Beispiel von David und Kunz, nahmen die Beine in die Hand und rannten um ihr Leben. Im Handumdrehen herrschte auf der Straße ein heilloses Chaos, Wagen und Maultiere verkeilten sich, Männer und Frauen liefen durcheinander und etliche, die fielen, wurden zertrampelt. David ergriff Kunz’ Hand und zog ihn weiter. »Komm mit mir, ich bring dich in Sicherheit. Du sollst nicht denken, dass ich vergessen habe, was du in Magenza für mich getan hast«, rief er.

Wenig später hielten sie auf einer Anhöhe, um zu verschnaufen. David drehte sich und blickte in das Tal mit der Stadt zurück. »Die romanischen Reiter haben das Dorf mit der brennenden Mühle erreicht!«, rief er aufgeregt.

»Gott sei Dank, dass wir dort nicht gezögert haben«, bestätigte Kunz und schlug ein Kreuz. »Heinrich und seine Männer sind dortgeblieben, nicht wahr?«

David nickte und sah hilflos zu, wie die romanischen Reiter hinter einzelnen flüchtenden Kreuzfahrern herjagten. »Denen gnade Gott.«

Am Nachmittag erreichten sie Bela Palanka. »Ich kann nicht mehr«, jammerte Kunz. »Lass uns hier lagern. So weit wird uns der Hass der Naissaner nicht verfolgen!« Und so ließen sich die beiden erschöpft unter einem Baum am Straßenrand fallen. Nach und nach trafen immer mehr versprengte Kreuzfahrer ein. In Gruppen zu zweit oder mehr. Viele mit Verwundungen. Einige mussten von ihren Kameraden getragen werden.

»Wir sollten ihnen helfen«, schlug Kunz vor. David erwachte wie aus einer Trance. Dann nickte er. »Lass uns frisches Wasser suchen, damit wir die Wunden der Männer auswaschen und die Erschöpften laben können«, schlug er vor.

Er hatte von Rebecca gelernt, wie man frische Wunden säuberte. Was hatte er noch gelernt? Zerkauter Weizen und Kümmel half gegen den Wundbrand. Honig auch und Wein und Öl. Doch all das stand nicht zur Verfügung. Holzasche hingegen, wie sie in alten Schriften empfohlen wurde, hatte der Rabbi strikt abgelehnt, als David das einmal vorschlug. Er schimpfte, David wisse besser in den Schriften des Hippokrates Bescheid als im Talmud. Die Asche konnte nämlich zu einer Tätowierung im Wund­bereich führen, und Tätowierungen wurden im Gesetz ausdrücklich verboten. Auch Kuhdung, den die Bauern öfter nutzten, um »die Hitze auszuziehen«, hatte sein Lehrer abgelehnt, denn der war unrein. Der Gedanke an Tante Rebecca und die Thora-Schule versetzte ihm einen Stich. Vielleicht waren die Wunden, die die Kreuzfahrer hier erlitten, die Rache Gottes für das Massaker in Magenza? Doch dieser Heerhaufen war ja unter der Führung Peters des Einsiedlers durch die Stadt gezogen, ohne zu morden! Er schüttelte den Kopf und machte sich auf den Weg.

Sie hatten zwei Lederschläuche und bald fand David auch einen Bach mit frischem Wasser. Er füllte die beiden Schläuche und brachte das Wasser den Männern, die sich zu beiden Seiten der Straße gelagert hatten.

»Gott segne dich«, stöhnte ein junger Mann, dem er zuerst zu trinken gab. Er hatte eine große Wunde empfangen, die quer über seine Stirn lief und das rechte Auge zerstört hatte. Er musste viel Blut verloren haben, denn nicht nur sein Gesicht und Hals starrten vor verkrustetem Blut, sondern auch das Wams war unter einer Staubschicht rot gefärbt. Doch schon bald war Davids Schlauch leer und er hatte kaum einer Handvoll Menschen zu trinken gegeben. Zum Waschen der Wunden war er erst gar nicht gekommen.

»Warte, bis sie das Fieber erwischt«, unkte Kunz. »Dann werden sie erst trinken wollen!«

Es stellte sich heraus, dass etwa jeder Vierte der Kreuzfahrer tot oder zu schwer verwundet war, um den Weg fortzusetzen. Was hier in feindlicher Umgebung praktisch dasselbe bedeutete.

»Des Kreuzzugsheer ist bereits geschlagen, bevor wir das Land der Heiden erreichen«, jammerte Kunz. David verstand ihn. In der Hoffnung auf Gottes Segen war er seinem Herrn entlaufen. Er hatte keinen Platz mehr, wohin er zurückkehren könnte. Ganz wie er selbst.

Nach einer weiteren Stunde unermüdlicher Arbeit lief ein Raunen durch die Reihen. David blickte von dem Verband auf, den er notdürftig um einen zerschlagenen Ellenbogen wickelte.

»Peter der Einsiedler!«, verstand er. »Er hat überlebt!«, wisperte es.

David hob seinen Blick und tatsächlich entdeckte er am Ende der Straße eine kleine in ein Eremitengewand gehüllte Gestalt, die die Straße entlang auf sie zukam. Peter wirkte müde und abgespannt, doch er hielt sich aufrecht. Alle paar Schritte blieb er stehen und wechselte einige Worte mit den Männern am Straßenrand. Schließlich erreichte er auch David, der in seiner Tätigkeit innegehalten hatte und dem Anführer entgegensah.

»Gott segne dich für deinen Dienst an den Verwundeten«, wandte sich der Einsiedler an ihn. »Wir haben heute eine schwere Züchtigung erlitten. Aber Gott hat sein Antlitz nur kurz verborgen, weil er uns zürnte, dafür dass wir eine christliche Stadt verbrannt haben.« David schluckte. Er sprach offensichtlich von Semlin. »Wir müssen unsere Kräfte für die Seldschuken aufheben. Das sind die Feinde Gottes, nicht die Ungarn. Vor vier Jahren hatte ich mich aufgemacht, um zu dem Heiligen Grab unseres Heilands zu ziehen, aber bereits in Antiochia ergriffen mich die Heiden, schlugen mich halb tot und verboten mir die Weiterreise. Gegen diese Ungläubigen werden wir kämpfen und dann wird Gott mit uns sein!« Er machte über David das Zeichen des Kreuzes und schritt weiter. David sah ihm nach.

»Auf ihm ruht wahrhaftig der Geist Gottes«, ließ sich da Kunz vernehmen. David schaute ihn erstaunt an, doch der Bauer blickte mit glasigen Augen dem Anführer hinterher.

Das Spital zu Jerusalem

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