Читать книгу Im Schatten des roten Stieres - Sylvia Klinzmann - Страница 10
1. Kapitel
ОглавлениеRom, Italien, Januar 1497
Leise öffnete Alessia das große Holzportal und spähte nach draußen. Auf der Straße war niemand zu sehen. Das Mädchen hielt einen Moment inne und lauschte, ob im Haus auch niemand ihr Fortgehen bemerkt hatte. Alles blieb still; und so schlüpfte sie hinaus.
Schnellen Schrittes lief sie die Via Pelamantelli hinunter. Der warme Umhang, den sie über dem Samtkleid trug, und das Tuch, das ihre dunklen Locken bedeckte, sollten sie zum einen gegen die kühle Abendluft und zum anderen gegen neugierige Blicke schützen. Schließlich war es ungewöhnlich für ein junges Mädchen, zu solch später Stunde ohne Begleitung in den dunklen Gassen Roms unterwegs zu sein. Und in der Straße, in der ihr Wohnhaus und die Kanzlei ihres Vaters lagen, kannten viele Leute die hübsche Tochter des Advokaten Alvaro Bertorelli. Alessia fühlte sich unwohl, wenn sie darüber nachdachte, wer ihr des Nachts begegnen könnte. Aber sie wollte sich nicht von Ricardo, dem Diener ihrer Eltern, begleiten lassen, da sie befürchtete, er könne sie bei ihrem Vater verraten.
Bald darauf erreichte sie den Campo de’ Fiori. In einem der engen Gässchen, die von dort abzweigten, lag das Haus, das sie nun schon seit einigen Wochen heimlich aufsuchte. Wie jedes Mal, wenn sie den düsteren Platz überquerte, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Der Campo war eine der öffentlichen Hinrichtungsstätten der Stadt. Hier hatten schon viele Verbrecher und Ketzer am Pranger gestanden und sogar am Galgen oder auf dem Scheiterhaufen ihr Leben verloren. Merkwürdigerweise hatten sich gerade dort Wirtshäuser und Garstuben angesammelt. Anscheinend gab es Menschen, die bei einem Krug Wein der Anblick der am Galgen baumelnden Gehenkten nicht zu stören schien. Auch an diesem Abend musste sich Alessia wieder laute Rufe und zweideutige Aufforderungen anhören, als sie, den Blick nach unten gerichtet, die Lokale schnellen Schrittes passierte.
Endlich erreichte sie ihr Ziel. Die Eingangstür des kleinen Hauses war wie üblich nicht verschlossen, und so betrat Alessia den dunklen Flur. Rasch stieg sie die Treppe hinauf bis unters Dach und klopfte an die Tür der Kammer. Diese wurde aufgerissen, eine Hand ergriff Alessias Arm und zog sie ins Innere.
„Endlich, cara mia! Ich habe schon gedacht, du kämest heute nicht mehr.“
Ein gut aussehender dunkelhaariger Jüngling schloss Alessia in seine Arme. Dann drückte er ihr zwei Küsse rechts und links auf die Wangen.
„Wie könnte ich diese Stunden mit dir versäumen wollen, Giacomo?“, erklärte Alessia freudestrahlend.
Sie zog das Tuch von ihren Locken und legte es zusammen mit dem Umhang über die Lehne eines Stuhles. „Wo doch unser Werk so kurz vor der Vollendung steht. Lass es mich anschauen!“
Sie ging zu einer großen Staffelei, die unter dem Dachfenster aufgebaut war und auf der eine Leinwand von außerordentlichem Ausmaß lehnte. Im Schein der vielen Kerzen, die Giacomo angezündet hatte, begutachtete sie das kurz vor der Fertigstellung stehende Gemälde. Es zeigte eine junge Frau in sitzender Position mit entblößtem Oberkörper. Das Mädchen wies die dunklen Locken und die katzenartigen grünen Augen Alessias auf. Die Mundwinkel waren zu einem leichten Lächeln nach oben verzogen, in die blassen Wangen zwei zierliche Grübchen eingegraben. Alessias Blick wanderte von dem schlanken weißen Hals über die wohlgeformten Schultern bis hinunter zu den spitz zulaufenden Brüsten mit den rosigen Knospen.
„Ich denke, noch ein oder zwei Sitzungen, dann sollte das Bild fertig sein“, bemerkte Giacomo, der hinter sie getreten war.
Ein Gefühl der Traurigkeit überkam Alessia bei dem Gedanken daran, dass sie bald keinen Grund mehr haben würde, den hübschen Maler mit den unschuldig dreinblickenden braunen Engelsaugen aufzusuchen. Sie hatte sich im Laufe der letzten Wochen in den jungen Künstler verliebt.
Giacomo di Luna stammte aus Urbino, wo er von seinem Vater in der Malerei unterrichtet worden war. Nach dessen Tod ging er nach Perugia, in die Lehre des Meisters Perugino. Und seit einem Jahr weilte er in Rom, in der Hoffnung, von den hiesigen Adeligen Aufträge zu bekommen, mit denen er sich über Wasser halten konnte. Alessia war ihm eines Tages auf der Piazza Navona begegnet. Giacomo hatte sie angesprochen, ob sie ihm nicht Modell sitzen wolle, und sie hatte eingewilligt.
„Mach dich bereit, cara mia, ich kann es kaum erwarten, mit der Arbeit zu beginnen!“
Als der junge Maler ihr bei ihrem ersten Besuch in seiner Kammer eröffnet hatte, sie mit entblößtem Oberkörper malen zu wollen, hatte sie sich zunächst geziert. Schließlich hatte sie sich noch nie vor einem Mann nackt gezeigt. Doch Giacomo war es mit einem schmelzenden Blick aus seinen braunen Augen gelungen, sie zu überzeugen. Trotzdem wusste sie vor Scham nicht, wo sie hinschauen sollte, als sie ihre Kleider abgelegt hatte. Giacomo hatte die peinliche Situation mit ein paar lustigen Geschichten aus seiner Zeit in Perugia überspielt und ihr so nach und nach die Scheu genommen. Ihre Sitzungen mussten allerdings im Geheimen stattfinden. Hätten Alessias Eltern gewusst, was sich in der kleinen Dachkammer abspielte, hätten sie ihre fünfzehnjährige Tochter gewiss in das nächstbeste Kloster gebracht. Da sie ihr nicht erlaubten, ohne Begleitung in die Stadt zu gehen, war es einfacher für das Mädchen, sich nachts, wenn alle schliefen, aus dem Haus zu schleichen.
Alessia nahm auf dem Stuhl Platz und zupfte das transparente Tuch, das auf ihrem Schoß lag, zurecht. Es musste jedes Mal möglichst genauso fallen wie am ersten Tag.
„Dreh dein Gesicht noch ein wenig nach rechts!“, wies Giacomo sie an. „Ja, so ist es gut.“
Prüfend betrachtete er zuerst sein Modell und lenkte den Blick danach wieder auf die Leinwand. Mit der linken Hand griff er nach der Palette und mit der rechten nach einem Pinsel aus dem neben ihm stehenden Tongefäß. Dann konzentrierte er sich auf seine Arbeit.
Alessia genoss es, ihn in aller Ruhe beobachten zu können, sein weich fallendes Haar, die von dichten Wimpern umrandeten Augen, seine schmalen Hände mit den feingliedrigen Fingern, die solch großartige Kunstwerke auf die Leinwände zu zaubern vermochten. Giacomo war nur ein wenig größer als sie selbst. Über seinen Beinkleidern trug er einen bis zu den Knien reichenden, weiten Kittel, der über und über mit bunten Farbflecken versehen war. Sollte Alessia ihm gestehen, was sie für ihn empfand? Fühlte er das Gleiche für sie? Bisher hatte er außer einiger tiefer Blicke noch keinerlei Andeutungen gemacht. Und wenn es so wäre, wie ginge es dann weiter? Würde ihre Liebe bestehen können? Was würden ihre Eltern dazu sagen? Alessia kannte deren eigene Liebesgeschichte zur Genüge. Ihre Mutter, eine jüdische Stickerin, liebte ihren Vater, den Sohn eines christlichen Marqués. In Spanien, wo die beiden geboren und aufgewachsen waren, war eine solche Liebe aussichtslos, ja sogar verboten gewesen. Trotz vieler Schwierigkeiten hatten sie schließlich zueinandergefunden. Sie waren zusammen aus Kastilien geflohen und hatten hier in Rom unter einem anderen Namen ein neues Leben begonnen. Wenigstens konnte Alessia somit darauf hoffen, dass ihre Eltern bei der Wahl eines Ehegatten für ihre Tochter ein gewisses Maß an Toleranz zeigen würden.
„Alessia!“, riss Giacomo sie aus ihren Gedanken. „Bitte konzentrier dich und verändere nicht ständig deinen Ausdruck!“
Unverzüglich erschien wieder das zart angedeutete Lächeln auf ihrem Gesicht, das Giacomo bereits auf der Leinwand festgehalten hatte.
Nach zwei Stunden konnte sie nicht mehr still sitzen. Immer wieder musste sie gähnen und fühlte sich trotz des Feuers, das im Kamin brannte, durchgefroren.
„Lass uns aufhören für heute, Giacomo!“, bat Alessia den Maler. „Ich bin müde, und mir ist kalt.“
„Nur noch einen kurzen Augenblick, cara!“ Giacomo schaute angestrengt auf die Leinwand und setzte einige weitere Pinselstriche. „So, das wär’s! Die Feinheiten kann ich nun ohne dich zu Ende bringen.“
Bei seinen Worten stockte Alessia der Atem. So rasch hätte sie nicht mit dem Ende gerechnet. Hatte er nicht zuvor gesagt, er würde noch ein oder zwei Sitzungen benötigen? Sie erhob sich und griff nach ihren Kleidern. Jetzt sag ihm, was du für ihn empfindest, es ist die letzte Gelegenheit!, vernahm sie eine innere Stimme. Doch sie konnte sich nicht überwinden, ihm ihre Gefühle zu offenbaren.
Nachdem sie sich angezogen hatte, bot ihr Giacomo noch einen heißen Würzwein an, den sie gern annahm.
„Was glaubst du, wirst du das Porträt schnell verkaufen können?“, fragte sie und trank einen Schluck des köstlichen Getränks.
„Ich hoffe es.“ Giacomo blickte ihr tief in die Augen, sodass ihr ein wohliger Schauder über den Rücken lief. „Das Gemälde eines solch bezaubernden Geschöpfes wird gewiss rasch einen Liebhaber finden.“ Er nahm ihre Hand in die seine und strich mit seinem Daumen zärtlich über ihre Haut.
Verlegen senkte Alessia die Lider.
„Ich kann dir jederzeit wieder Modell sitzen“, schlug sie ihm beflissentlich vor.
„Ja, das wäre schön. Wenn es so weit ist, schicke ich dir eine Nachricht.“
Sie leerte den Becher und erhob sich. „Ich sollte jetzt besser gehen. Es ist schon spät geworden.“
Wie sonst auch begleitete Giacomo das Mädchen auf deren Rückweg bis zu ihrem Haus, da er sie mitten in der Nacht nicht allein gehen lassen wollte. Es war kalt, und so gingen sie Arm in Arm, um sich gegenseitig zu wärmen. Alessia genoss es, dem jungen Maler so nah zu sein. Schon bald bogen sie in die Via Pelamantelli ein und erreichten das Haus, in dem die Familie Bertorelli seit vielen Jahren wohnte. Giacomo gab dem Mädchen noch einen Kuss, bevor er sich verabschiedete.
„Wir sehen uns bestimmt bald wieder!“, sagte er. „Ich lasse es dich wissen, wenn ich das Bild verkauft habe.“
„Gut, und denke daran, ich kann dir wieder Modell sitzen, wann immer du willst.“ Am besten schon morgen, fügte sie in Gedanken hinzu.
Eine kurze Berührung ihrer Hände, ein letzter Blick, dann drehte sich Giacomo um und lief die Straße hinunter.
Alessia betrat das Haus erst, als sie ihn nicht mehr sehen konnte. Eine Träne lief an ihrer Wange hinab und verlor sich in der Flut ihrer dunklen Locken, die weit bis über ihre Brust reichten.
Giacomo ging schnellen Schrittes zurück in Richtung des Campo de’ Fiori. Auch er war nicht gern nachts in den dunklen Straßen Roms unterwegs, in denen zu später Stunde nicht nur allerhand finsteres Gesindel herumstrolchte, sondern ab und zu sogar wilde Wölfe ihr Unwesen trieben.
„Dio mio“, stieß er hervor, als ihm plötzlich aus einer Nebengasse zwei sich jagende Katzen vor die Füße sprangen und er beinahe gestolpert wäre.
Erleichtert atmete er auf, als er sein Wohnhaus vor sich liegen sah, wo er kurz darauf die Dachkammer betrat. Er legte seinen Umhang ab und zündete Kerzen und Kienspan an. Nachdenklich blickte er auf den Stuhl, auf dem vor nicht allzu langer Zeit Alessia gesessen hatte. Es war ihm, als hinge der frische Verbenaduft, der dem Mädchen anhaftete, noch in der Luft. Traurigkeit überkam ihn, als er das Porträt betrachtete und ihm bewusst wurde, Alessia nun nicht mehr sehen zu können. Er vermisste sie schon jetzt, ihr Lächeln, der Anblick ihrer zarten Figur. Wenn er daran dachte, dass er, um überleben zu können, gezwungen sein würde, das Gemälde zu verkaufen und bald ein anderer Mann in den Genuss käme, es jeden Tag anschauen zu dürfen, verspürte er ein eifersüchtiges Ziehen. Habe ich mich in Alessia verliebt?, schoss es ihm durch den Kopf. Wenn er ehrlich war, musste er die Frage bejahen. Er konnte sich ohne Weiteres vorstellen, sein restliches Leben mit der jungen Frau zu verbringen. Ein schöner Traum. Doch die Wirklichkeit sah anders aus. Was hatte er dem Mädchen schon zu bieten? Er war zwar ein begabter, aber dennoch armer und unbekannter Maler, der in einer schäbigen Dachkammer lebte und zumeist nicht wusste, ob er die nächste Miete noch würde zahlen können. Alessia hingegen entstammte einem wohlhabenden Elternhaus. Ihr Vater war ein angesehener Advokat. Niemals würde er seine Tochter einem mittellosen Künstler zur Frau geben.
Giacomo seufzte und verlor sich in den blaugrünen Augen Alessias, die ihm aus dem Porträt entgegenblickten.