Читать книгу Im Schatten des roten Stieres - Sylvia Klinzmann - Страница 8
Prolog
ОглавлениеSevilla, Ebene von La Tablada, im Jahre des Herrn 1482
Der von Windböen gepeitschte Regen prasselte auf die Ebene von La Tablada vor den Stadttoren Sevillas nieder. Blitze, gefolgt von Donnerschlägen, erhellten die Szenerie und warfen ein gespenstisches Licht auf die sieben Scheiterhaufen, die wie schaurige Mahnmale in den Himmel hinaufragten. Die Feuer waren längst von den sintflutartigen Niederschlägen gelöscht worden. Nur das Zischen und Qualmen der nassen Holzstapel zeugte davon, dass sie zuvor lichterloh gebrannt hatten. Der Ort war bis auf einige wenige Familienangehörige der Delinquenten verlassen. Büttel, kirchliche Würdenträger und Schaulustige, die dem Hinrichtungsspektakel beigewohnt hatten, waren aus Angst zurück in die Stadt geflüchtet. Vor einem Unwetter, wie es Sevilla noch nie erlebt hatte. Als hätte Gott beschlossen, die Stadt und seine Einwohner für immer auszulöschen. Der Wind begann nachzulassen, doch noch immer goss es in Strömen.
Aaron Bensinior öffnete vorsichtig die Augen. Er musste ohnmächtig gewesen sein, denn er wusste nicht, wo er sich befand. Sein Verstand schien von einer Nebelschicht umhüllt zu sein, und ein brennender, alles durchdringender Schmerz ließ ihn keinen klaren Gedanken fassen. Er lag zusammengekauert auf dem schwelenden Scheiterhaufen. Der Rauch brannte in seinen Augen und erschwerte ihm das Atmen. Über ihm leuchteten Blitze am Himmel, und die mächtigen Donnerschläge ließen ihn zusammenzucken. Nur langsam lichteten sich die Nebelschwaden in seinem Gehirn, kehrte nach und nach die Erinnerung an die grausame Wirklichkeit zurück. Mit einem Mal sah er alles wieder deutlich vor sich: den Prozess, das gegen seine Schwester Lea und ihn gefällte Todesurteil und schließlich den Beginn des Autodafés. Mit schmerzverzerrtem Gesicht richtete sich der junge Jude auf und schaute an sich hinunter. Er war nackt, seine Beine, die Arme und der Oberkörper waren von Blasen überzogen. Sie brannten höllisch, obwohl die kühle Nässe des Regens Linderung zu verschaffen schien. Aaron berührte seinen Kopf. Dort, wo einmal üppige Locken sein schön geschnittenes Gesicht umrahmt hatten, fühlte er nun verkohlte Haarstoppel. Ich lebe, dachte er tapfer, nur das zählt! Alles andere ist unwichtig!
Er richtete seinen Blick nach links. Am Pfahl war niemand mehr angebunden. Wo ist Lea? Was ist mit ihr passiert? Tränen schossen in Aarons Augen. Ist ihr Körper von den Flammen verzehrt worden? Nein, das kann nicht sein! Ihr Scheiterhaufen – der letzte in der Reihe – war erst kurz vor Ausbruch des Unwetters angezündet worden. Es gab nur eine Möglichkeit – ihr musste die Flucht gelungen sein. Konnte Alvaro de Salvatierra, ihr christlicher Geliebter, die Hinrichtungsstelle rechtzeitig erreichen und Lea befreien? Aber warum hatten sie ihn dann zurückgelassen? Fragen über Fragen wirbelten dem jungen Mann durch den Kopf. Doch es blieb ihm keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Er musste den Ort des Grauens verlassen, bevor das Gewitter nachließ und die Büttel wieder zurückkamen.
Aaron glitt von dem Holzstapel hinunter und biss sich auf die Lippen, um nicht vor Schmerz aufzuschreien. Suchend blickte er sich um und hob schließlich einen starken Ast vom Boden auf, den die Flammen verschont hatten. Er würde ihm als Stock dienen. Vorsichtig machte er die ersten Schritte. Es tat weh, aber er konnte laufen.
Etwas weiter vorn kniete eine Frau weinend über einem schwelenden Holzstapel. Vielleicht hatte sie gesehen, was mit seiner Schwester geschehen war. Er blieb neben ihr stehen und berührte vorsichtig ihre Schulter, bevor er wieder seine Blöße bedeckte.
Die Frau sah zu ihm auf und stieß einen Schrei aus. „Jehova steh mir bei!“ Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht.
„Bitte, gute Frau, fürchtet Euch nicht vor meinem Anblick. Ich weiß, die Flammen müssen mich schrecklich zugerichtet haben.“
Aaron schwankte vor Schwäche, sodass die Frau aufsprang und ihn stützte.
„An dem letzten Pfahl war meine Schwester angebunden. Sie ist verschwunden. Habt Ihr gesehen, ob sie jemand befreit hat?“ Aaron blickte die Frau hoffnungsvoll an.
Sie überlegte einen Augenblick. „Ich glaube, da waren zwei Männer. Einer trug etwas auf seinen Armen davon. Es könnte ein Mensch gewesen sein, vielleicht Eure Schwester. Mehr kann ich Euch nicht sagen.“ Sie begann zu schluchzen. „Ich habe versucht, meinen Gemahl zu retten. Aber es war zu spät.“ Sie ließ Aaron los und sank wieder vor dem Scheiterhaufen mit den Überresten ihres Mannes nieder.
„Danke. Möge Jehova Euch beistehen!“, murmelte Aaron. So schnell es ging, humpelte er über das Podest und stieg an dessen Ende die hölzernen Stufen hinunter. Er lehnte sich einen Moment lang an die Plattform, um durchzuatmen. Das Laufen strengte ihn mehr an, als er sich eingestehen wollte, und er spürte, wie trotz des Regens und der kühlen Witterung der Schweiß an seinem geschundenen Körper hinablief. Über den dunklen Himmel zuckten weiterhin Blitze. Er blickte sich um. Zu seiner Linken sah er die schwachen Umrisse der Stadtmauer von Sevilla, auf der anderen Seite breitete sich die Ebene aus, an deren Ende er einen kleinen Pinienhain ausmachen konnte. Er musste es schaffen, dorthin zu gelangen, um sich erst einmal zu verstecken.
Aaron holte tief Luft und lief los. Die Schmerzen raubten ihm fast den Verstand, sodass er ab und zu stehen blieb, um neuen Atem zu schöpfen. Er würde nicht aufgeben. Er musste weiterleben und herausfinden, was mit seiner Schwester geschehen war und warum sie ihn allein auf dem Scheiterhaufen zurückgelassen hatte. Aaron nahm all seine Kraft zusammen und zwang sich weiterzugehen. In jeder Faser seines Körpers spürte er nun den Schmerz. Selbst Gesicht und Kopfhaut brannten.
Der Regen hatte den Boden aufgeweicht. Immer wieder blieb der junge Mann im Morast stecken. Als er glaubte, keinen Schritt weiter gehen zu können, sah er endlich die Umrisse des Waldes vor sich. So rasch wie möglich lenkte er seine Schritte dorthin. Vielleicht konnte er sich im Schutz der Bäume ein wenig ausruhen.
Ein erneuter Blitz zuckte über den Himmel. Vor Schreck übersah er eine aus dem Boden ragende Wurzel, stolperte und schlug der Länge nach auf dem Waldboden hin. Er war nicht mehr in der Lage, sich aufzurichten. Seine Kräfte hatten ihn endgültig verlassen. Dann soll es so sein!, dachte er. Wenn Jehova es will, werde ich jetzt und hier meinen letzten Atemzug tun.
Das Rauschen in Aarons Kopf wurde immer stärker, bis er schließlich das Bewusstsein verlor. Er merkte nicht einmal mehr, wie sich ein Fuchs näherte und ihn neugierig beschnupperte.
Als Aaron diesmal wieder zu sich kam, spürte er, wie etwas Kühles über seine Stirn strich. Er öffnete die Augen und blickte in ein Gesicht, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Stahlblaue, von Falten umrandete Augen musterten ihn freundlich; und ein lächelnder Mund entblößte schief stehende gelbliche Zähne. Ein grauer Haarkranz umrahmte das Gesicht des Mannes, der sich über Aaron beugte und mit einem feuchten Tuch dessen Stirn abtupfte.
„Endlich bist du aufgewacht. Wie fühlst du dich? Hast du Schmerzen?“
Der junge Mann nickte.
„Das wundert mich nicht. Dein Leib ist eine einzige große Wunde.“
Aaron berührte mit einer Hand seinen bandagierten Kopf. Dann blickte er an seinem Körper hinunter und entdeckte, dass dieser ebenfalls vollständig mit Leinentüchern umwickelt war. Er lag auf einer Strohpritsche, in deren Nähe ein Feuer brannte. Es spendete nicht nur Wärme, sondern war auch die einzige Lichtquelle. Im rötlichen Schein der Flammen erkannte Aaron, dass er sich in einer Höhle befand. Neben seinem eigenen Lager gab es auf der anderen Seite des Raumes eine zweite Schlafstelle. Links davon standen ein aus grobem Holz gezimmerter Tisch und ein Schemel, rechts ein Vorratsregal, über dem an einer Schnur befestigte, getrocknete Kräuterbündel hingen.
„Wo bin ich? Wer seid Ihr?“ Aaron versuchte sich aufzurichten, doch sofort durchzuckte ihn ein stechender Schmerz. Der Mönch drückte ihn sanft zurück.
„Du solltest dich nicht so viel bewegen, mein Junge“, sagte er, „sonst könnten deine Wunden wieder aufplatzen.“
Er zog sich den niedrigen Holzschemel heran, setzte sich neben Aaron und glättete die aus grobem Wollstoff gewebte Kutte, die um seine hagere Gestalt schlackerte. „Mein Name ist Eugenio. Ich habe vor einiger Zeit den Konvent des Heiligen Estéban verlassen, um hier oben in der Einsamkeit Gott näher zu sein. Zweimal im Jahr gehe ich nach Sevilla hinunter, besuche meine Brüder im Kloster und zelebriere gemeinsam mit ihnen die Messe. Ich bringe ihnen meine Heilkräuter und erhalte im Gegenzug Waren, die ich hier in der Wildnis nicht bekommen kann.“
Eugenio legte das feuchte Tuch beiseite.
„Es war dein Glück, mein Junge, dass ich dich ausgerechnet an jenem Tag fand, an dem ich aus Sevilla zurückkehrte. Du bist Jude, nicht wahr?“
Aaron blickte den Mönch ratlos an. Was war geschehen? Wieso lag er hier in dieser Höhle? Wer war er? Ein Jude? In seinem Kopf herrschte nichts als Leere.
„Ich … ich weiß nicht.“
„Als ich deinen Körper säuberte und deine Wunden versorgte, da fiel mir auf, dass du beschnitten bist. Außerdem weiß ich, dass einen Tag vor meiner Rückkehr in der Ebene von La Tablada ein großes Hinrichtungsspektakel veranstaltet wurde. In Anbetracht deiner vielen Brandwunden schloss ich daraus, dass du einer der verurteilten Juden sein musst. Aber sag, du kannst dich wirklich nicht entsinnen, was geschehen ist? Auch nicht, wie du heißt?“ Eugenio blickte mitleidig auf seinen Patienten.
Aaron versuchte, die verworrenen Gedanken zu ordnen, die in seinem Kopf herumschwirrten.
„Ich heiße Aaron, Aaron Bensinior“, brachte er schließlich hervor, „nein … ich, mein Name ist Miguel Calderon.“
„Also wie denn nun, Junge? Du kannst doch keine zwei Namen haben.“ Der Mönch blickte den Verletzten verwundert an.
„Aaron Bensinior ist mein jüdischer Name. Als wir die christliche Taufe erhielten, wurde aus Bensinior Calderon.“
„Du bist ein converso – ein Konvertit?“
Aaron nickte.
„Und warum hat man dich dann zum Tode verurteilt? Bist du in deine alten Glaubensregeln zurückverfallen?“
Der junge Mann schüttelte unverzüglich den Kopf. „Nein! Aber das hat man mir und meiner Schwester vorgeworfen, als man uns festnahm.“
Konnte er sich dem Klosterbruder anvertrauen oder würde ihn der Mönch zurück in das Inquisitionsgefängnis bringen? Aaron schloss für einen Moment die Lider und sah sich wieder mit Lea in dem mit dunklen Tüchern verhangenen Raum sitzen, den stechenden Blick des Inquisitors Tomás de Torquemada auf sich gerichtet. Dann erschien der Folterkeller vor seinem inneren Auge, die Streckbank, auf der ihn der Marterknecht festgebunden hatte. Er erschauderte. Es war, als spürte er wieder den Schmerz seiner gedehnten Glieder, hörte erneut den Schrei seiner Schwester, die alles mit ansehen musste.
Nein, er würde kein Wort über seine Vergangenheit verlieren. Er war Miguel Calderon, ein Neuchrist, der zu Unrecht von der Inquisition zum Tode verurteilt worden war.
„Wie lange bin ich schon hier?“, fragte er den Eremiten.
„Etwa zwei Wochen. Du bekamst hohes Fieber und bist die meiste Zeit ohne Bewusstsein gewesen. Doch nun genug geredet! Du musst dich ausruhen! Zuvor werde ich noch deine Verbände erneuern.“ Bruder Eugenio begann, die Leinentücher von Aarons Beinen abzunehmen. „Mach dir keine Sorgen! In ein paar Wochen bist du wieder hergestellt“, sprach er dem jungen Mann Mut zu. „Die Wunden heilen gut. Es werden allerdings Narben zurückbleiben.“
Neben der Pritsche stand ein Tontiegel. Der Mönch tauchte seine Finger hinein und strich die daran haften gebliebene fettige Paste auf die Wunden. Angewidert verzog Aaron das Gesicht.
„Was ist das? Es riecht ekelhaft.“
„Das mag schon sein, aber es hilft gut bei solchen Verbrennungen. Die Salbe wird aus Wacholder, ungesalzenem Schweineschmalz und Eiern zubereitet.“
Nach und nach wechselte Bruder Eugenio alle Verbände und bedeckte die Wunden dick mit der Pomade. Aarons Gesicht betupfte er mit Johanniskrautöl. Erschöpft schloss dieser die Augen. Das Gespräch mit seinem Wohltäter hatte ihn angestrengt. Sein letzter Gedanke, bevor ihn der Schlaf übermannte, galt der Zukunft.
Er musste herausfinden, was mit Lea geschehen war.