Читать книгу Im Schatten des roten Stieres - Sylvia Klinzmann - Страница 13

4. Kapitel

Оглавление

Estremadura, Spanien, Kloster des Heiligen Estéban

Wie jeden Abend suchte Bruder Horatio die Klosterkapelle auf, um in Ruhe nachzudenken und zu beten. Es waren vierzehn Jahre vergangen, seit der Mönch Eugenio ihn in dem Wäldchen vor den Toren Sevillas gefunden und gesund gepflegt hatte. Immer wieder dachte Horatio an die einsamen Tage und Nächte in der Höhlenwohnung des Eremiten zurück. Er war fast ein Jahr in den Bergen in dessen Obhut gewesen. Durch die Gespräche und die gemeinsamen Gebete mit Eugenio war seine jüdische Vergangenheit immer mehr verblasst, und er hatte das schreckliche Erlebnis, durch das er beinahe zu Tode gekommen wäre, verdrängt. Nur hin und wieder verfolgte es ihn in seinen Träumen, aus denen er dann schweißgebadet erwachte. Dem Eremiten war es schließlich gelungen, Aaron das Christentum so nahe zu bringen, dass der converso selbst sein Leben Gott weihen wollte. Er haderte lange mit sich, doch sein Lehrmeister zeigte ihm, wie er den Weg zu Gott finden konnte. Sie lasen zusammen die Heilige Schrift, und Eugenio lehrte seinen Schüler, wie er sich im Gebet für den Geist Gottes öffnen konnte, um eine Seeleneinheit mit dem himmlischen Vater zu bilden.

Als Aaron wieder vollkommen genesen war, hatte der Eremit ihn nach Sevilla in sein heimatliches Kloster geführt, wo der junge Mann in den dominikanischen Orden eingetreten war und sich seither Bruder Horatio nannte.

Der Körper und das Gesicht des ehemaligen Juden waren von Narben verunstaltet, doch er hatte überlebt, und nur das zählte. Damals, nach seiner Zeit als Novize im Konvent des Heiligen Estéban, hatte ihn der Prior auf Horatios eigenen Wunsch hin in ein entlegenes Kloster des Ordens geschickt, und so lebte der Mönch seitdem weitab von jeglicher Zivilisation in der Estremadura.

Es war ein friedliches Leben, das er dort in der weiten kastilischen Ebene hinter den Klostermauern führte. Seine Mitbrüder gewöhnten sich schnell an den Anblick des vernarbten Mannes. Nach einer Weile übernahm Horatio die Aufsicht über die kleine Klosterbibliothek und widmete sich seither dem Kopieren von Schriften.

Wie immer beendete er auch an diesem Abend sein Gebet mit der Bitte, Gott möge ihn irgendwann wieder mit seiner Schwester zusammenführen. Oft hatte er darüber nachgedacht, Lea zu suchen, doch bisher nicht den Mut aufgebracht, das Kloster zu verlassen. Ob Lea tatsächlich mit Alvaro nach Italien gegangen war, so wie sie es damals zu dritt geplant hatten? Er gäbe alles für ein Wiedersehen mit …

„Fray Horatio“, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken. „Der Prior schickt mich. Er wünscht Euch zu sprechen.“

Horatio erhob sich von dem kalten Steinboden der Kapelle und blickte auf einen jungen Novizen. „Danke, mein Sohn. Ich werde Bruder Domenico sofort aufsuchen.“

Er schaute noch einmal auf die Statue des Estéban, des Schutzheiligen des Klosters, zu dessen Füßen er sein Gebet verrichtet hatte, und bekreuzigte sich, bevor er zusammen mit dem Novizen die Kapelle verließ. Sie durchquerten einen langen Gang, durch dessen Arkaden man auf den bepflanzten Innenhof und einen Brunnen blicken konnte. Das satte Grün, das dort und im liebevoll gepflegten Garten dem Auge des Betrachters schmeichelte, stand im auffälligen Gegensatz zu der kargen, baumlosen Steppenlandschaft der südlichen Estremadura, die sich außerhalb der Klostermauern bis zum Horizont hinzog.

Kurz darauf betrat Horatio die Zelle des Priors. Das Zimmer war trotz der gehobenen Stellung des Mönches einfach eingerichtet. Außer einer Holzpritsche gab es noch einen Schreibtisch und zwei aus grobem Holz gezimmerte Stühle. An der Wand über dem Bett hing ein schmuckloses Kruzifix.

„Ihr habt mich rufen lassen, Monseñor?“

„Ja, mein Sohn, nimm bitte Platz.“ Domenico wies auf den Stuhl vor seinem Sekretär. „Ich habe ein Schreiben unseres Abtes aus Sevilla erhalten. Bruder Eugenio, der Eremit, der dich damals in unser Kloster gebracht hat, liegt im Sterben. Es ist sein sehnlichster Wunsch, dich noch einmal zu sehen, bevor er vor Gottes Angesicht tritt.“

Horatio holte tief Luft. Mit dieser Nachricht hatte er nicht gerechnet.

„Er ist vor drei Jahren aus den Bergen ins Kloster zurückgekehrt“, fuhr der Prior fort. „Er war zu alt, um weiterhin allein in der Abgeschiedenheit zu leben. Sein Herz ist in den letzten Monaten immer schwächer geworden und der Infirmarius glaubt, dass es bald mit ihm zu Ende geht.“

Bruder Horatio räusperte sich. Der hagere Eremit, der ihn einst mit so viel Geduld und Liebe begegnet war, tauchte vor seinem inneren Auge auf, und eine tiefe Traurigkeit überkam ihn.

„Ich werde sofort nach Sevilla reisen. Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät.“

Bruder Domenico ergriff Horatios Hände. „Mach dir keine Sorgen! Wenn es Gottes Wille ist, wirst du rechtzeitig ankommen. Ich werde zwei Brüder zu deinem Begleitschutz auswählen. Es wäre zu gefährlich, allein zu reisen.“ Der Prior erhob sich. „Du kannst gleich morgen vor Sonnenaufgang aufbrechen“, schlug er vor. „Ich werde noch ein Schreiben für Abt Matias aufsetzen.“

Er trat hinter dem Schreibtisch hervor und umarmte Horatio, der ebenfalls aufgestanden war.

„Ich hoffe, du kommst wieder wohlbehalten zu uns zurück. Ich werde dich in meine Gebete einschließen.“

„Danke, Monseñor. Wir werden uns bald wiedersehen.“ Horatio drückte den Prior noch einmal an sich und verließ den Raum.

Er würde nach Sevilla zurückkehren, in die Stadt, in der er geboren worden war und in der er fast sein Leben verloren hätte. Vielleicht war dies das Zeichen Gottes, auf das er so lange gewartet hatte. Der Herr schickte ihn nach Sevilla, um dort mit seinen Nachforschungen zu beginnen. Doch bedeutete die Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit nicht auch unweigerlich die Rückkehr all der schrecklichen Erinnerungen, von denen er geglaubt hatte, sie für immer in seinem Innersten eingeschlossen zu haben?

Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, erfüllten sich seine Befürchtungen. Die schlimmen Träume, die er zu Anfang gehabt hatte und in denen er immer wieder die Qualen, die die Inquisition ihm und seiner Familie zugefügt hatte, durchleben musste, waren im Laufe der Jahre weniger geworden und irgendwann ganz verschwunden. In dieser Nacht kehrten sie zurück.

Am nächsten Morgen brach Bruder Horatio kurz nach Sonnenaufgang mit seinen Begleitern auf. Der Prior hatte ihnen drei Pferde zur Verfügung gestellt. Horatio drehte sich noch einmal um und warf einen letzten Blick auf das Kloster in der Nähe von Cáceres, das nun so viele Jahre sein Zuhause gewesen war. Er wusste nicht, wann und ob er je hierher zurückkehren würde.

Während des ersten Tages ihrer Reise gab es bisweilen Zeitspannen, in der sie weder Baum noch Strauch sahen. Des Nachts schliefen sie in einfachen Herbergen oder Klöstern.

Schon bald hatten sie die nördliche Estremadura hinter sich gelassen und überquerten den Fluss Guadiana. Von da an veränderte sich die Landschaft, Kork- und Steineichenhaine säumten nun ihren Weg. Hin und wieder begegneten ihnen schwarze Ibericoschweine. Die Tiere lebten in den Wäldern und ernährten sich von den Eicheln.

Je weiter die Reiter in Richtung Süden vorankamen, umso milder wurde das Klima.

Nachdem sie die letzte Strecke dem Verlauf des Guadalquivirs gefolgt waren, tauchte endlich am Horizont die Silhouette Sevillas vor den Reisenden auf. Beim Anblick seiner Heimatstadt überkam Horatio eine eigenartige Stimmung. Zum einen verspürte er eine gewisse Sehnsucht und zum anderen verursachte ihm die Tatsache, an den Ort zurückzukehren, an dem man ihm einst so großes Leid zugefügt hatte, ein Gefühl der Beklemmung. Seit dem Gespräch mit Bruder Domenico war er jede Nacht wieder von den schlimmen Albträumen heimgesucht worden und erlebte aufs Neue das Trauma seiner Verurteilung und des anschließenden Hinrichtungsspektakels.

Trotzdem war er sich sicher, das Richtige zu tun. Er musste endlich aufhören, die Geschehnisse der Vergangenheit zu verdrängen, und stattdessen anfangen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Sie ritten von Norden her durch die Puerta de la Macarena in Sevilla ein. Es kam Horatio so vor, als ob er die Stadt nie verlassen hätte. Wie eh und je waren die Gassen von Fuhrwerken, Reitern und Fußgängern verstopft. In der Luft vermischte sich wie damals der Geruch des abgestandenen Essens der zahlreichen Garküchen mit dem Gestank der am Morgen ausgeleerten Nachttöpfe, deren Flüssigkeit im Laufe des Tages in der Wärme der Sonne verdunstete.

Als sie kurz darauf an das Eingangstor von San Estéban klopften, öffnete ihnen der Pförtner und ließ sie eintreten. Der gebeugt gehende Alte erkannte den ehemaligen Klosterbruder sofort wieder und begrüßte ihn freudig. Nachdem er einen Novizen herbeigerufen hatte, dem er auftrug, die Pferde in den Stall zu bringen, führte er die beiden anderen Mönche zum Dormitorium, um ihnen ihre Schlafplätze zu zeigen.

Horatio suchte als Erstes den Abt auf. Die Tür zu dessen Zelle stand offen. Der Klostervorsteher war in die Lektüre einiger Papiere vertieft und blickte erst auf, als sich Horatio zweimal laut räusperte.

Der ärgerliche Ausdruck, der sich aufgrund der unliebsamen Störung zunächst auf dem Gesicht des Abtes zeigte, wich sofort einem Lächeln, als er erkannte, wer vor ihm stand.

„Horatio, mein Sohn. Wie schön, dich wiederzusehen. Lass dich umarmen!“ Matias trat hinter seinem Schreibtisch hervor und begrüßte den Zurückgekehrten.

Abt Matias hatte sich kaum verändert, seitdem Horatio das Hauptkloster verlassen hatte. Unter der gegürteten Kutte zeichnete sich wie eh und je sein Bauch ab, der darauf schließen ließ, dass es der Mönch mit den Fastenregeln nicht allzu genau nahm. Allein um seine dunkelbraunen Augen hatten sich weitere Falten eingegraben, und der einst schwarze Haarkranz, der sein rundliches Gesicht einrahmte, war nun grau.

„Ich hoffe, du hattest eine angenehme Reise, Horatio.“

„Ja. Vielen Dank, Vater Abt. Ich soll Euch die besten Grüße von Prior Domenico ausrichten. Er hat mir dieses Scheiben für Euch mitgegeben.“ Horatio zog den versiegelten Brief unter seiner Kutte hervor. „Wie geht es Fray Eugenio? Ich hoffe, ich komme noch rechtzeitig.“ Er hielt besorgt die Luft an, während er auf jede noch so kleine Regung in Matias’ Gesicht achtete.

„Es geht ihm schlecht, und er wird von Tag zu Tag schwächer. Er weiß von deinem Kommen, und es scheint mir so, als ob es das ist, was ihn am Leben hält.“

Erleichterung war in Horatios Ausdruck zu lesen. Er wäre traurig und enttäuscht gewesen, wenn er Eugenio nicht mehr lebend angetroffen hätte.

„Wann kann ich zu ihm?“

„Am besten jetzt gleich. Er liegt im Infirmarium. Ich werde dich begleiten“, bestimmte der Abt.

„In der nächsten Woche steht unserem Konvent übrigens ein wichtiges Ereignis bevor. Der Generalinquisitor, Tomas de Torquemada, wird San Estéban einen Besuch abstatten und einen Vortrag über die Limpieza de Sangre, das Gesetz der Blutreinheit halten. Schön, dass du dabei sein wirst.“

Bei der Erwähnung des Namens Torquemada war Horatio sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. Wie sehr hatte er gehofft, diesem Mann nie wieder in die Augen blicken zu müssen, dem Mann, der ihn gerade Nacht für Nacht wieder in seinen Träumen quälte.

„Was hast du, mein Sohn?“, fragte der Abt besorgt. „Du siehst mit einem Mal so blass aus. Fühlst du dich nicht wohl?“

„Doch, es geht mir gut. Lasst uns zu Fray Eugenio gehen!“

Die beiden Männer durchquerten das Klostergebäude, bis sie schließlich zu jenem Bereich gelangten, in dem die Kranken gepflegt wurden. Hier verabschiedete sich der Abt von Horatio und ging zurück in seine Zelle.

Bruder Eugenio lag auf einem Bett und war mit einem hellen Laken zugedeckt. Horatio erschrak, als er in das abgemagerte, von braunen Flecken übersäte Gesicht des ehemaligen Eremiten blickte. Der alte Mönch war schon damals von hagerer Gestalt gewesen, doch nun schien sein Körper, der sich unter der dünnen Decke abzeichnete, nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen. Seine Augen waren geschlossen, die Brust hob und senkte sich in unregelmäßigen Abständen. Horatio zog sich einen Holzschemel heran und setzte sich neben das Bett. Mit einer zärtlichen Geste strich er über Eugenios eingefallene Wangen. Da schlug der alte Mann die Augen auf. Auch wenn der Rest seines Körpers mehr einem Toten denn einem Lebenden glich, hatte das Blau seiner Augen seit ihrer letzten Begegnung nichts von seiner Leuchtkraft verloren.

„Bruder Eugenio. Ich bin es, Horatio – Aaron. Erinnert Ihr Euch an mich? Ihr habt mich vor vielen Jahren in Eurer Höhle in der Nähe von Sevilla gesund gepflegt.“

Ein Lächeln überzog das Gesicht des Alten, und er öffnete seinen zahnlosen Mund.

„Horatio, endlich … bist du … da“, flüsterte er. Das Sprechen schien ihn sichtlich anzustrengen.

Horatio hielt sein Ohr dicht an die Lippen des Kranken, um dessen Worte besser verstehen zu können.

„Ich bin froh, dich noch einmal zu sehen“, fuhr Eugenio fort. „Sag, wie ist es dir in der Zwischenzeit ergangen?“

Horatio erzählte ihm von seinem Leben in dem Kloster in der Estremadura und hielt die Hand des alten Mönchs. Hin und wieder fielen Eugenio die Augen zu, und er schlief ein. Dann kamen in Horatio die Erinnerungen an jene Zeit in der Höhlenwohnung des Eremiten wieder hoch, und unweigerlich dachte er auch abermals an die Ereignisse, die überhaupt dazu geführt hatten, dass ihn Eugenio bei sich aufgenommen hatte. Sie schienen so lange zurückzuliegen. Es war, als hätte er all dies in einem anderen Leben erfahren.

„Horatio!“, vernahm er die Stimme des Sterbenden und lenkte seine Aufmerksamkeit unverzüglich wieder auf Eugenio. „Ich hoffe, du konntest das Geheimnis deiner Herkunft über all die Jahre bewahren. Ich habe nie jemandem erzählt, dass du einmal ein Jude warst.“

Horatio drückte den Arm seines Lehrmeisters. „Es ist alles hier drinnen verschlossen.“ Er klopfte mit der Handfläche auf seine linke Brust.

„Nimm dich in Acht, mein Sohn, vor … vor dem Generalinqui… vor Torquemada. Er hasst Juden und conversos.“

Bruder Eugenios Worte waren kaum noch zu verstehen, sodass Horatio sich erneut hinunterbeugte und sein Ohr an die Lippen des Eremiten hielt.

„Ich habe gehört, dass er in den nächsten Tagen hierher nach San Estéban kommen wird“, verstand Horatio. „Nimm dich in Acht, mein Sohn! Geh ihm aus dem Weg!“

„Das werde ich, Fray Eugenio! Ihr braucht euch nicht um mich zu sorgen! Ich werde aufpassen!“ Er drückte dem alten Mönch einen Kuss auf die Stirn.

Zwei Tage, nachdem Horatio nach Sevilla zurückgekehrt war, tat Eugenio seinen letzten Atemzug. Am Abend zuvor hatte er bereits die Sterbesakramente empfangen. Mit einem friedlichen Ausdruck auf dem Gesicht trat der alte Mönch vor seinen Schöpfer. Horatio war die ganze Zeit über nicht von seiner Seite gewichen. Noch nicht mal zu den Gebetszeiten hatte er das Infirmarium verlassen – der Abt hatte ihn von allen Pflichten entbunden, solange er am Bett des Sterbenden weilte. Mit Tränen in den Augen zeichnete Horatio das Kreuzzeichen auf die Stirn des Toten und zog das Laken über dessen Gesicht. Der ehemalige Eremit war damals wie ein zweiter Vater für ihn gewesen. Nun hatte er niemanden mehr.

Erneut verspürte er eine unbändige Sehnsucht nach Lea. Er würde so bald wie möglich mit den Nachforschungen beginnen. Mit ernstem Blick verließ Horatio den Krankensaal, um dem Klostervorsteher über das Ableben des alten Mönches zu informieren.

Während der Nacht hatte Horatio sich im Dormitorium lange auf seiner Pritsche hin und her gewälzt und überlegt, auf welche Weise und wo er am besten mit den Erkundigungen über den Verbleib seiner Schwester beginnen sollte. Schließlich war er zu dem Entschluss gekommen, als erstes Pedro Espinosa aufzusuchen, jenen Freund Alvaros de Salvatierra, der ihnen damals bei der Planung ihrer Flucht nach Italien geholfen hatte.

Soweit sich Horatio erinnern konnte, hatte Pedro hier in Sevilla seine eigene Anwaltskanzlei geführt. Der Mönch hoffte von ganzem Herzen, den Mann ausfindig machen zu können, um Genaueres über Leas Schicksal zu erfahren.

Zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Sevilla verließ Horatio das Klostergelände und ging durch die engen Straßen seiner ehemaligen Heimatstadt. Mit einem Mal überkam ihn ein bedrückendes Gefühl, und er sehnte sich nach der Ruhe und der Abgeschiedenheit seines Klosters in der Estremadura zurück. Es schien ihm, als ob ihn die Erinnerungen an das Vergangene, die ihm an jeder Ecke begegneten, zu ersticken drohten. Dennoch lenkte er seine Schritte in Richtung Santa Cruz. Als er den Platz vor der Kathedrale überquerte, verspürte er mit einem Mal ein Schwindelgefühl. Er musste sich an eine Hauswand lehnen, um nicht umzukippen. Schweiß brach ihm aus sämtlichen Poren und es war, als ob seine Kehle wie zugeschnürt wäre und er kaum mehr Luft bekäme. Er begann zu zittern. Für einen Moment schloss er die Augen und befand sich wieder in dem Käfig auf dem hölzernen Podest, das die Inquisitionshelfer vor dem Portal der Kathedrale errichtet hatten. Der Platz war schwarz vor Schaulustigen, die ihm und den anderen Verurteilten Schmähwörter entgegenschrien. Seine Schwester Lea schmiegte sich bebend an ihn. Am Ende des Podestes saß Tomas de Torquemada, der die Messe las und die Verfehlungen eines jeden Delinquenten verkündete. Hinter ihm standen in schwarze Kutten gekleidete Mönche. Sie hielten das Banner der Inquisition.

Das laute Wiehern eines Pferdes holte Horatio wieder zurück in die Wirklichkeit. Der Platz war bis auf den Reiter und einige Frauen, die mit gefüllten Körben eilig ihres Weges gingen, leer. Mit dem Ärmel seines Gewands wischte sich der Klosterbruder über die Stirn und setzte schließlich seinen Weg fort.

Schon bald erreichte er das Haupttor des ehemaligen Judenviertels, in dem er viele Jahre gelebt hatte. Er ging durch die engen Gassen, in die durch die ausgekragten Obergeschosse der Häuser kaum Sonnenlicht drang. Kurz darauf stand er vor dem gelblichen dreigeschossigen Gebäude in der calle Del Agua – dem Haus, das einmal seiner Familie gehört hatte. Äußerlich hatte sich nichts verändert. Wie damals rankten von den schmiedeeisernen Balkonen Hängegeranien herab – es schien also wieder jemand darin zu wohnen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, hier zu stehen und zu wissen, dass nun Fremde dem Haus Leben einhauchten. Horatio betrachtete die Stelle an der Eingangstür, wo einst die Mesusa befestigt gewesen war. Zweifelsohne war das silberne Gehäuse, in dem die auf einer Pergamentrolle verewigten Texte aus dem Sch’ma Jisrael aufbewahrt wurden, nicht mehr da. Nichts ließ darauf schließen, dass hier einst Juden gelebt hatten. Mit einem tiefen Seufzer blickte Horatio noch einmal auf sein ehemaliges Zuhause, bevor er sich umdrehte und die Straße hinunterging. Auf seinem Weg in den Stadtteil, in dem er die Kanzlei Pedro Espinosas vermutete, passierte er ein weiteres Gebäude, das ein wichtiger Bestandteil seiner Vergangenheit gewesen war, die Synagoge Samuel ha Levi.

Als er die Klinke des Eingangsportals hinunterdrückte, fand er es verschlossen. Außen an der Wand neben der Tür war eine Holztafel befestigt, auf dem der neue Name des ehemaligen jüdischen Gotteshauses stand: Kirche des Heiligen Benitos. Darunter waren die Zeiten der jeweiligen Messen vermerkt. Das gesamte Gebäude war, wie Horatio kurz darauf von einem vorbeigehenden Passanten erfuhr, im Jahre 1492 dem Ritterorden von Calatrava übereignet worden. Dessen Angehörige hatten einen Teil der Synagoge in eine Kirche und den anderen in ein Hospital umgewandelt. Horatio blieb noch eine Weile regungslos davor stehen. Er versuchte sich an die Texte der Tora zu erinnern, doch so sehr er sich auch anstrengen mochte, die Worte wollten sich nicht in seinem Kopf zu Sätzen zusammenfügen. Stattdessen machte sich ein klopfender Schmerz darin breit, so wie er ihn in den ersten Jahren nach seiner Rettung immer wieder verspürt hatte.

Es dauerte noch eine Weile, bis Horatio schließlich vor Pedro Espinosas Kanzlei stand. Er konnte sich vage an die damaligen Erzählungen seiner Schwester erinnern, musste aber trotzdem mehrere Personen fragen, bis ein älterer Mann ihm die Adresse des Advokaten nannte.

Nachdem er die Kanzlei betreten hatte, kam sofort ein Mann aus einem der hinteren Räume und fragte nach seinem Begehr. Sein dunkles Haar war von silbernen Fäden durchzogen, die Augen von einem unbeschreiblich hellen Blau.

„Was kann ich für Euch tun?“ Er strich sein Wams glatt, das über seiner Leibesmitte spannte.

„Seid Ihr Pedro Espinosa?“, fragte Horatio.

„Ja, der bin ich. Wie kann ich Euch behilflich sein?“

„Mein Name ist Bruder Horatio. Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?“

„Mögt Ihr mir nicht zuerst einmal sagen, worum es geht?“ Auch der Anwalt bedachte den mit Narben übersäten Mönch mit einem mitleidigen Blick, so wie die meisten Menschen, die ihm zum ersten Mal begegneten.

„Nun, es handelt sich um ein vertrauliches Gespräch, über einen gemeinsamen Bekannten – Alvaro de Salvatierra.“

Bei der Erwähnung des Namens war Pedro Espinosas rechte Augenbraue kaum merklich nach oben gezuckt.

„Kommt mit nach hinten! Dort können wir ungestört reden.“ Der Advokat verschloss die Tür der Kanzlei, und die beiden Männer gingen durch den Vorhang in den angrenzenden Raum. Ein großer Schreibtisch, auf dem gestapelte Papiere lagen, beherrschte das Zimmer. An der rechten Seite standen ein samtbezogenes Kanapee, zwei Sessel sowie ein kleiner Tisch. Pedro Espinosa forderte Bruder Horatio auf, dort Platz zu nehmen. Er holte einen Krug und goss Wein in zwei Becher.

„Was wisst Ihr von Alvaro?“, begann er und setzte sich in einen der Sessel. „Wer seid Ihr? Was ist mit Eurem Gesicht passiert? Irgendetwas an Euch erinnert mich an jemanden, vielleicht Eure Augen? Ich weiß es nicht.“

„Das kann gut möglich sein, denn Ihr habt vor vielen Jahren meine Schwester Lea gekannt, die mit Eurem Freund Alvaro liiert war“, erwiderte Bruder Horatio und nahm einen Schluck Wein. „Mein Name war damals noch Aaron Bensinior, ich bin Leas Bruder.“

„Aaron.“ Pedro Espinosa schüttelte ungläubig den Kopf. „Aber du hast doch nicht mehr geatmet, als ich …, als du dort auf dem Scheiterhaufen, oh nein, dann warst du gar nicht tot. Heilige Mutter Gottes, Aaron“, er ergriff die vernarbten Hände des Klosterbruders, „bitte verzeih mir! Es musste alles so schnell gehen, die Büttel konnten jederzeit zurückkommen.“ Pedro erhob sich und schloss Horatio in seine Arme.

„Du warst dort an jenem Tag?“, fragte Horatio. „Was ist mit Lea geschehen? Konntest du sie retten?“

Pedro nickte. „Sie lebte noch, als ich dort ankam. Sie war ohnmächtig und hatte schlimme Brandwunden an ihren Beinen.“

Horatio stieß seinen Atem geräuschvoll aus.

„Kurz darauf erreichte auch Alvaro die Hinrichtungsstätte“, fuhr Pedro fort. „Ich hatte ihm einen Boten mit der Nachricht Eurer Verurteilung geschickt. Während ich überprüfte, ob du noch lebtest, trug Alvaro deine Schwester vom Hinrichtungspodest und fuhr mit ihr auf meinem Wagen voraus. Als ich mich davon überzeugt hatte, dass für dich jede Hilfe zu spät kam, folgte ich den beiden auf Alvaros Pferd.“ Wieder schüttelte der Anwalt den Kopf. „Warum habe ich nur nicht bemerkt, dass du noch gelebt hast?“

„Bitte erzähle, wie es Lea weiter ergangen ist!“, forderte Horatio Pedro ungeduldig auf.

„Wie du dich sicherlich erinnern kannst, bestand der Plan darin, dass ihr alle gemeinsam nach Malaga gehen würdet, um dort ein Schiff nach Italien zu besteigen. Das wollte Alvaro nun auch tun. Ich begleitete die beiden noch eine Weile, doch Leas Brandverletzungen waren so schlimm, dass wir auf dem Hof eines jüdischen Bauernpaares um Unterkunft baten. Die Frau des Bauern verstand etwas von Krankenpflege und …“, Pedro machte eine bedeutungsvolle Pause, „sie stellte fest, dass Lea guter Hoffnung war.“

„Nein!“ Horatio schlug die Hände vor das Gesicht.

„Alvaro bat die Bauern, sie auf dem Hof aufzunehmen, so lange, bis das Kind geboren wäre. Ich fuhr dann wieder zurück nach Sevilla. Monate später kehrte ich noch einmal zurück. Deine Schwester hatte nach einer schweren Geburt einem Mädchen das Leben geschenkt. Sie blieben noch bis zum Frühjahr des darauffolgenden Jahres bei den Bauern und machten sich danach auf nach Malaga. Ich vermute, dass sie von dort aus wie geplant mit einer Karavelle nach Italien gesegelt und dann weiter nach Rom gereist sind. Leider habe ich nie wieder etwas von ihnen gehört. Wir hatten es zu ihrer Sicherheit so beschlossen, falls die Inquisitoren mich erneut befragen sollten.“ Pedro lehnte sich zurück.

„Lea hat eine Tochter!“ Horatio konnte es nicht verhindern, dass ihm Tränen in die Augen traten.

Und trotzdem hatte er gehofft, dass Pedro vielleicht noch in Verbindung zu Lea und Alvaro gestanden hätte. Rom war eine große Stadt. Wie sollte er die beiden dort finden?

Pedro bemerkte die Niedergeschlagenheit seines Gegenübers und drückte Horatios Arm.

„Das ist leider alles, was ich dir sagen kann. Wahrscheinlich wird dir nichts anderes übrig bleiben, als selbst nach Italien zu reisen und dort weiter zu forschen.“ Er seufzte. „Obwohl das nicht einfach sein wird, denn sie haben gewiss ihren Namen geändert. Nun sag, wie ist es dir seither ergangen?“

Horatio räusperte sich. „Ich war damals nur ohnmächtig. Es goss in Strömen und blitzte und donnerte, als ich wieder zu mir kam. Es gelang mir, in ein nahe gelegenes Wäldchen zu fliehen, bevor ich erneut zusammenbrach. Dort fand mich ein Mönch, der als Eremit in den umliegenden Bergen lebte und mich gesund pflegte.“

„Und wie kommt es, dass du nun selbst ein Christ, ja sogar ein Mönch geworden bist?“, wollte Pedro Espinosa wissen. „Müsstest du nicht die Christen nun umso mehr hassen, nach dem, was sie dir angetan haben?“

„Während meiner Genesung in der Einsamkeit dort oben in den Bergen brachte mir Bruder Eugenio das Christentum nahe, bis ich irgendwann selbst den Wunsch verspürte, mich ganz in Gottes Hände zu geben. Gewiss verurteile ich die Inquisition auf das Schärfste. Es ist in meinen Augen nicht von Gott gewollt, die Andersgläubigen auf solch drastische Weise zu verfolgen und zur Konversion zu zwingen. Viel besser ist es, Missionierungsarbeit zu betreiben, so wie es Bruder Eugenio damals bei mir getan hat.“ Horatio erhob sich von seinem Sessel. „Ich muss zurück ins Kloster, man wird sich bestimmt schon wundern, wo ich bleibe. Pedro, ich danke dir für deine Zeit.“

Der Advokat stand ebenfalls auf. „Wenn ich dir in irgendeiner Art und Weise helfen kann, dann will ich es gern tun, Aaron, oh entschuldige, Bruder Horatio“, verbesserte er sich rasch. „Und lass es mich wissen, wenn du etwas von Lea und Alvaro erfahren hast. Falls es dir irgendwann gelingen sollte, sie zu finden, bestelle ihnen bitte herzliche Grüße von mir und sage ihnen, dass sie immer einen Platz in meinem Herzen haben.“

Sie durchquerten erneut die Kanzlei und traten auf die Gasse hinaus.

„Das werde ich gern machen, Pedro“, versicherte Horatio.

Die beiden Männer umarmten sich.

„Gott sei mit dir!“, verabschiedete sich der Mönch und ging die Gasse hinunter. Nach ein paar Schritten drehte er sich um, und als er den Anwalt vor der Kanzleitür stehen sah, winkte er ihm noch einmal zu.

Also waren Lea und Alvaro damals tatsächlich nach Italien aufgebrochen. Allerdings bedeutete dies nicht, dass sie dort auch wohlbehalten angekommen waren. Das Schiff hätte während eines Sturms kentern können. Oder vielleicht hatten maurische Piraten, die im Mittelmeer ihr Unwesen trieben, die Karavelle überfallen und die Insassen getötet. Doch daran wollte Horatio lieber nicht denken.

Im Schatten des roten Stieres

Подняться наверх