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7. Kapitel

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Spanien, Sevilla

Seit geraumer Zeit kniete die Frau im Seitenschiff der Kirche Santa Marina vor der Platte im Boden, unter der man vor einigen Tagen ihren Gemahl, den Herzog von Torralba, begraben hatte. Sie trug ein aus dunkelviolettem Samt gefertigtes Trauergewand. Ein Schleier der gleichen Farbe war in ihrem rubinroten Haar befestigt und bedeckte ihr Gesicht, das bereits erste Falten aufwies, dadurch jedoch nicht minder attraktiv wirkte. Die Menschen, die an diesem trüben Morgen ebenfalls den Weg in das Gotteshaus gefunden hatten, bedachten die trauernde Witwe mit mitleidigen Blicken. Sie konnten nicht ahnen, dass die Frau die Tränen, die ihr über die Wangen flossen, nicht aus Gram über den Tod ihres Gemahls vergoss, sondern aus Erleichterung darüber, dass der Himmlische Vater sie endlich von diesem Tyrannen befreit hatte. Fünfzehn lange Jahre hatte Catalina an der Seite ihres Ehemanns ausgeharrt, der so alt wie ihr eigener Großvater gewesen war. Dabei hätte sie damals die Frau eines anderen werden sollen, eines Mannes, den sie aufrichtig liebte, Alvaro de Salvatierra, Sekretär Königin Isabels von Kastilien, welcher sie selbst als Hofdame gedient hatte. Die Königin und Catalinas Onkel, Kardinal Pedro Gonzalez de Mendoza, hatten der Heirat zugestimmt, ihr Hochzeitskleid, ein Gewand aus schimmernder hellblauer Seide, war bereits angefertigt gewesen. Doch dann hatte Catalina herausgefunden, dass Alvaro de Salvatierra nicht sie, sondern die Hofstickerin Lea, eine ehemalige Jüdin liebte. Seit dem Tag, an dem Lea von der Inquisition verurteilt, in Sevilla auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden sollte und ein schweres Unwetter die Stadt heimsuchte, waren sowohl die Stickerin als auch Alvaro wie vom Erdboden verschluckt.

Catalina hatte sich damals auf die Suche nach Alvaro machen wollen, da sie vermutete, dass ihr Bräutigam mit der Jüdin außer Landes fliehen wollte, doch ihr Oheim hatte sie daran gehindert. Er war sogar so weit gegangen, sie kurzerhand mit einem anderen zu vermählen, dem alten vermögenden Herzog von Torralba, der auf einem Castel außerhalb Sevillas lebte. Die Ehe mit dem Despoten war für Catalina die Hölle gewesen. Ständig hatte sie dem Alten zu Willen sein müssen, auch seine beiden Söhne aus erster Ehe waren ihr nicht wohlgesonnen. Für das Schlimmste jedoch, das er ihr angetan hatte, hoffte sie, er möge auf ewig in der Hölle schmoren. Als sie guter Hoffnung gewesen war, hatte er sie während eines Streites gestoßen, und sie war eine Treppe hinuntergestürzt. Sie hatte daraufhin das Kind verloren und war unfruchtbar geworden. Bei dem Gedanken an dieses furchtbare Ereignis traten Catalina erneut Tränen in ihre anthrazitfarbenen Augen. Sie hob den Kopf und blickte in das steinerne Gesicht der Santa Marina, die über dem Altar thronte.

„Nun ist die Zeit gekommen, das Versprechen einzulösen, das ich mir an meinem Hochzeitstag in der Kathedrale von Cordoba gegeben habe“, flüsterte Catalina. „Ich werde nicht eher ruhen, bis ich Rache an Alvaro und Lea geübt habe. Sie sollen büßen für das, was ich erlitten habe, so wahr mir Gott helfe.“

Sie erhob sich vom Boden und bekreuzigte sich. Zum Glück hatte sie der Herzog wenigstens in seinem Testament bedacht, sodass für ihr weiteres Auskommen gut gesorgt war. Vielleicht hatte er, kurz bevor er vor seinen Schöpfer treten sollte, doch noch bereut, was er ihr im Laufe der Jahre angetan hatte. Sie war nun eine reiche kinderlose Witwe, die an keinen festen Wohnsitz gebunden war.

Da sie nicht wusste, wer ihr nach all den Jahren noch Auskunft über das damalige Verschwinden Alvaros und Leas geben könnte – ihr Onkel, Kardinal Mendoza war im letzten Jahr verstorben –, musste sie sich auf ihr eigenes Inngefühl verlassen. Das gab ihr klar und deutlich zu verstehen, dass Alvaro und Lea vor fünfzehn Jahren nach Italien gegangen waren. Alvaro hatte weitläufige Verwandte in Rom, wie er damals einmal erwähnt hatte. Also war es nur allzu einleuchtend, dort auch ein neues Leben zu beginnen. Und genau an jenem Ort, in Rom, würde sie mit ihrer Suche beginnen, beschloss Catalina. Sie würde in Malaga eine Karavelle besteigen und die Reise ins Ungewisse antreten. Sie hatte nichts zu verlieren. Nachdem sie den Segen der heiligen Marina erbeten hatte, verließ sie, ohne noch einmal einen Blick auf die Grabstelle ihres Mannes zu werfen, hocherhobenen Hauptes die Kirche.

***

Kloster San Estéban, Sevilla

Nach seinem Besuch bei Pedro Espinosa ging Horatio erneut zu Abt Matias in dessen Zelle. Er wollte den Klostervorsteher bitten, ihm zu erlauben, nach seiner Schwester zu suchen. Horatio war fest entschlossen, das Wagnis auf sich zu nehmen und nach Rom zu reisen, um dort mit den Nachforschungen zu beginnen.

„Fray Horatio, was kann ich für dich tun?“ Der Abt saß an seinem Schreibpult und blickte auf, als der Mönch den Raum betrat. „Nimm doch Platz!“

Horatio ließ sich auf einem Holzschemel nieder und wischte seine feuchten Handflächen an der Kutte ab.

„Es geht um meine Schwester, Ehrwürdiger Vater. Sie ist die einzige Verwandte, die ich noch habe.“ Horatio senkte den Blick auf seine Finger, die nun gefaltet auf seinem Schoß ruhten. „Ich habe sie seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen. Der Tod Bruder Eugenios hat mir erneut vor Augen geführt, wie sehr ich meine Schwester all die Jahre über vermisst habe.“ Horatio hob den Kopf und schaute dem Klostervorsteher direkt in die Augen. „Ich bitte Euch um Erlaubnis, nach Italien zu reisen, Vater Abt, und dort meine Schwester aufzusuchen. Sie lebt mit ihrer Familie in Rom.“

Er verschwieg, dass er dies nur annahm und nicht mit Gewissheit wusste.

„Das hieße, du müsstest das Kloster für eine lange Zeit verlassen, mein Sohn“, sagte Abt Matias und umfasste das silberne Kreuz, dass vor seiner Brust baumelte. „Du würdest Monate unterwegs sein. Eine solche Reise birgt viele Gefahren. Bist du dir dessen bewusst?“

Horatio nickte. „Ich wäre Euch unermesslich dankbar, wenn Ihr mir diesen Herzenswunsch erfüllen würdet, Ehrwürdiger Vater.“ Er spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann.

Abt Matias schwieg einen Moment lang, dann räusperte er sich. „Du hast unserer Glaubensgemeinschaft seit deinem Eintritt immer treue Dienste geleistet. Prior Domenico erwähnte in seinem Schreiben, dass die Klosterbibliothek in der Estremadura durch deinen Fleiß in den Besitz vieler neue Schriften gekommen ist, die du kopiert hast.“

Horatio nickte lächelnd.

„Wenn es wirklich dein Traum ist, deine Schwester noch einmal zu sehen, so will ich dir diesen Wunsch nicht verwehren“, fuhr der Abt fort.

Horatio stieß den Atem, den er zuvor angehalten hatte, wieder aus. Seine Züge entspannten sich.

„Du hast meine Erlaubnis, nach Rom zu reisen. Nur eines erwarte ich von dir.“ Abt Matias sah den Klosterbruder mit strenger Miene an. „Du musst dich auch weiterhin an die Ordensregeln halten. Am besten ist es, wenn du während deines Aufenthaltes in Rom in einem Kloster unserer Bruderschaft weilst. Ich werde dir ein Schreiben aufsetzen, das du mit dir führen wirst.“

„Ich danke Euch von ganzem Herzen, Ehrwürdiger Vater.“ Horatio kniete vor dem Abt nieder und küsste dessen Hand.

„Steh auf, mein Sohn!“ Das Klosteroberhaupt legte kurz seine Hand auf Horatios Haupt.

„Morgen erwarten wir Bruder Torquemada. Du kannst dir noch seinen Vortrag über die Limpieza de sangre anhören und danach deine Reise antreten. Die beiden Brüder, die mit dir aus der Estremadura hierhergekommen sind, sollen dich bis Malaga begleiten. Von dort aus können sie dann zurück in ihr Kloster reiten.“

Horatio war bei der Erwähnung des Namens Torquemada das Blut in den Kopf geschossen, und er spürte, wie es in seinen Schläfen pulsierte. Er würde es nicht verhindern können, dem verhassten Generalinquisitor noch einmal begegnen zu müssen.

Rasch verabschiedete sich Horatio von Abt Matias und begab sich in die Klosterkapelle, wo er vor der Statue des heiligen Estébans niederkniete. Inbrünstig flehte er, Gott möge ihm die nötige Kraft schenken, den Anblick seines einstigen Peinigers zu ertragen. Zudem bat er um Gottes Schutz während der Reise nach Rom und um ein glückliches Ausgehen seiner Suche nach Lea.

Tomás de Torquemada erreichte das Kloster am nächsten Tag kurz vor der zwölften Stunde. Er reiste stets mit großem Gefolge, da er in ständiger Angst vor einem Racheakt der conversos lebte. Nach dem Mittagsmahl, das der wichtige Gast zusammen mit Abt Matias und einigen anderen Klosterbrüdern in einem gesonderten Raum einnahm, versammelten sich alle Mönche im Kapitel, das sich im Ostflügel der Klausur befand. Der Saal war von gewaltigem Ausmaß, ein hohes Kreuzgewölbe überspannte den Raum und ruhte auf tragenden Bögen.

Bruder Horatio hatte in der Nacht nur wenig geschlafen, zum einen aus Furcht vor der unabwendbaren Begegnung mit dem Inquisitor und zum anderen, weil er über die bevorstehende Reise nach Rom gegrübelt hatte.

Nun saß er neben den beiden Ordensbrüdern, die ihn nach Sevilla begleitet hatten, und starrte ununterbrochen auf die Tür, durch die Torquemada jeden Augenblick in den Raum treten würde. Horatios Handflächen waren schweißnass, im Laufe des Morgens hatte er das Necessarium viermal aufsuchen müssen, und beim Mittagsmahl im Refektorium hatte er keinen Bissen hinunterbekommen. Mehr als einmal hatte er sich zurück in die Estremadura gewünscht, in das Scriptorium des Klosters, wo er friedlich an den Buchkopien gearbeitet hatte. Doch dieser Abschnitt seines Lebens gehörte nun der Vergangenheit an. Er würde versuchen, die nächsten Stunden irgendwie hinter sich zu bringen, und dann gab es für ihn nur noch ein Ziel: Es musste ihm gelingen, seine Schwester wiederzufinden.

Da öffnete sich das Portal des Kapitelsaals. Abt Matias betrat den Raum als Erster, dahinter folgte der Großinquisitor, der sich auf einen Stock stützte. Er trug ein weißes Habit, darüber die schwarze Capa. Immer noch war er von hagerer Gestalt. Regungslos starrte Horatio in das Gesicht des Mannes, dessen Bild sich damals in seine Seele eingebrannt hatte. Die scharf geschnittenen Züge mit den dunklen, tief liegenden Augen, die Falten zwischen den Brauen und zwischen Nase und Mund, die nun noch tiefer und markanter wirkten, und schließlich der Mund selbst mit den schmalen Lippen, die nur lächelten, wenn die zum Tode Verurteilten conversos in den Flammen der Scheiterhaufen vor Schmerzen schrien.

Torquemada stieg langsam die Stufen zur Kanzel empor. Dort blickte er einen Moment lang über die Köpfe der versammelten Klosterbrüder, die ihrerseits dem Prediger erwartungsvoll ihre Gesichter zuwandten.

Dann begann er zu sprechen. Horatio überkam ein Schauer, als er die Stimme vernahm, die ihn und Lea stundenlang in dem dunklen, nur durch das schummrige Licht grünlicher Wachskerzen beleuchteten Raum verhört hatte. Immer wieder hatte Torquemada ihnen dieselben Fragen gestellt, sie mürbe gemacht und ihn, Horatio, zu guter Letzt im Beisein seiner Schwester im Folterkeller der peinlichen Befragung unterzogen.

Während der Inquisitor über das Gesetz der Blutreinheit zu predigen begann, senkte Horatio seinen Kopf und schloss die Augen. Er versuchte Torquemadas schneidende Stimme aus seinem Gehirn zu verbannen und stellte sich stattdessen vor, wie er in Rom Lea wiederbegegnen und sie und seine Nichte in die Arme schließen würde.

„Und daher dürfen wir es nicht zulassen, dass sich diejenigen in unsere Klöster einschleichen, deren Blut unrein ist, in deren Adern jüdisches oder muslimisches Blut fließt“, hallten Torquemadas Worte durch den Saal und ließen Horatio zusammenzucken.

„Nur die absolute Blutreinheit garantiert den wahren Glauben. Es muss der Nachweis einer rein altchristlichen Abstammung erbracht werden! In meinem Kloster Santo Tomás in Avila halten wir es seit der Gründung so.“

Ein Gemurmel machte sich unter den Mönchen breit. Horatio begann zu schwitzen. Nun hatte er einen Grund mehr, Spanien so schnell wie möglich zu verlassen. Wenn man in San Estéban ebenfalls das Gesetz der Blutreinheit einführte und den von Torquemada erwähnten Nachweis einer christlichen Herkunft forderte, dann würde man Horatio als Sohn jüdischer Eltern unverzüglich aus dem Kloster hinauswerfen. Warum nur hasste Torquemada die Juden so sehr?, fragte sich Horatio.

Der Generalinquisitor war am Ende seiner Ansprache angelangt. Er segnete die Anwesenden und stieg danach die Kanzel wieder hinab.

Horatio verspürte Erleichterung. Langsam wich die Anspannung aus seinem Körper. Er erhob sich und wollte den anderen Klosterbrüdern nach draußen folgen, als Abt Matias seinen Namen rief. Er drehte sich um und sah den Klostervorsteher neben Torquemada stehen.

„Bruder Horatio, komm bitte einen Moment zu uns! Ich möchte dich Bruder Tomás vorstellen.“

Horatio erstarrte. Würde Torquemada ihn nach all den Jahren wiedererkennen? Zögerlich näherte sich der Mönch den beiden Männern.

„Das ist Bruder Horatio. Er ist zu Besuch in Sevilla und lebt in unserem Kloster in der Estremadura“, erklärte Abt Matias. „Er hat schon viele Bücher für unseren Orden kopiert.“

Horatio beugte den Kopf und hauchte einen Kuss auf Torquemadas knochige Hand.

„Gott sei mit Euch, mein Sohn!“ Der Inquisitor blickte Horatio prüfend an. Dieser versuchte verzweifelt, den aufsteigenden Brechreiz zu unterdrücken.

„Was ist mit Eurer Haut geschehen? Woher habt Ihr die vielen Narben?“, fragte Torquemada ungeniert.

Rasch verbarg Horatio seine Hände in den weiten Falten seiner Kutte.

„Er ist als Junge in ein Feuer gefallen“, antwortete Abt Matias an Horatios Stelle. So hatte es damals Bruder Eugenio dem Klostervorsteher erklärt.

„In ein Feuer gefallen?“

Horatio spürte, wie der stechende Blick des Generalinquisitors über seinen Körper tastete. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. „Ja, ich habe mit meinem Bruder Nachlaufen gespielt und bin über eine Wurzel gestolpert“, beeilte er sich zu erklären und versuchte, seiner Stimme einen festen Klang zu geben.

Torquemada beugte sich zu Abt Matias hinüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Währenddessen ließ er sein Gegenüber nicht aus den Augen.

Horatio konnte den Anblick des Mannes, der ihm einst fast das Leben genommen hatte, nicht länger ertragen. Wenn er nicht auf der Stelle den Raum verließe, würde er sich zu Füßen der beiden Kirchenmänner übergeben.

„Bitte entschuldigt, mir ist unwohl!“, presste er hervor. „Ich muss das Necessarium aufsuchen.“

Damit drehte er sich um und lief aus dem Kapitelsaal. Erst, als er den Kreuzgang passierte und den Klostergarten erreichte, verlangsamte er seine Schritte. Sein Herz raste, er fühlte, wie das Blut durch seine Adern rauschte. Erschöpft lehnte er sich an den Stamm einer Pinie und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Er musste das Kloster so schnell wie möglich verlassen, nicht eine Nacht würde er mit Torquemada unter demselben Dach verbringen. Zuletzt hatte dieser sein Misstrauen kaum mehr unterdrücken können. Horatio befürchtete sogar, dass Torquemada Abt Matias davon überzeugen könnte, auf der Stelle diesen Nachweis der altchristlichen Abstammung einzufordern. Je länger Horatio über seine missliche Lage nachdachte, umso klarer wurde ihm, dass er seine Reise nach Rom umgehend antreten musste, am besten noch, bevor die Nacht hereinbrach. Sein Entschluss stimmte ihn erleichtert. Wenn seine Ordensbrüder sich zur Vesper in der Kapelle versammelt hätten, würde er sich auf den Weg machen. Trotzdem wollte er vorher noch eine Nachricht für Abt Matias verfassen.

Er verließ den Garten und begab sich ins Scriptorium.

Im Schatten des roten Stieres

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