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6. Kapitel

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Giacomo saß in seiner Dachkammer und setzte die letzten Pinselstriche an Alessias Porträt. Das Bild war wunderschön geworden, und er hoffte inbrünstig, rasch einen Käufer dafür zu finden. Wie sehr vermisste er nun die Abende, an denen Alessia ihm gegenüber gesessen hatte und er in aller Ruhe ihr Aussehen hatte studieren können. Er war selten einem Mädchen mit solch ebenmäßigen Gesichtszügen begegnet, und auch der Anblick ihres halb entblößten Körpers hatte ihn des Öfteren bis in seine Träume verfolgt.

Sobald das Porträt verkauft wäre und er von dem Erlös neue Leinwände und Farben angeschafft hätte, würde er Alessia bitten, ihm noch einmal Modell zu sitzen. Ihm schwebte auch bereits eine Idee im Kopf herum, wie er die junge Frau ins rechte Licht rücken könnte, sodass ihre Schönheit noch besser zur Geltung käme. Er würde sie außerhalb der Stadt am Ufer des Tibers malen.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Gedankengänge. Wer konnte das sein? Er erwartete niemanden. Schnell durchquerte er den Raum und öffnete die Tür.

„Pino! Wie schön, dich zu sehen.“ Giacomo umarmte sein Gegenüber, einen jungen Bildhauer, den er hier in Rom kennengelernt hatte. „Komm herein, mein Freund.“

Der Angesprochene kam der Aufforderung nach, legte Umhang und Barett ab und schüttelte sein kinnlanges blauschwarzes Haar zurecht.

„Ich wollte einmal schauen, wie es dir geht, wir haben uns länger nicht gesehen. Außerdem möchte ich dir einen Vorschlag machen.“

„Ich habe an einem Porträt gearbeitet. Es ist so gut wie fertig.“ Giacomo deutete auf die Staffelei, die unter dem Dachfenster stand.

Pino, der Giacomo um einiges überragte, musste seinen Kopf einziehen, als er vor die Leinwand trat, um das Kunstwerk seines Freundes zu begutachten. Er stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Das Bild ist großartig. Wer ist dieses bezaubernde Geschöpf?“

„Ihr Name ist Alessia“, verriet Giacomo.

„Meinst du, sie würde mir auch einmal Modell sitzen? Ich sehe ihre in Marmor gemeißelten zarten Züge bereits vor mir“, schwärmte Pino.

„Das glaube ich kaum!“, beeilte sich Giacomo zu versichern. „Alessia stammt aus reichem Hause, sie hat es nur mir zu Gefallen getan.“

Er würde es auf keinen Fall zulassen, dass auch Pino in den Genuss käme, eine halb entkleidete Alessia anstarren zu dürfen. Zumal sein Freund ein Schwerenöter war, dem die Frauenherzen nur so zuflogen.

„Du bist in sie verliebt, Giacomo!“ Pino brach in lautes Lachen aus. „Genau, das ist es, und darum willst du sie mit niemandem teilen.“

Giacomo zog die Stirn in Falten.

„Liebt sie dich auch, mein Freund?“

Giacomo blieb die Antwort schuldig und forderte Pino stattdessen auf, an dem kleinen Holztisch Platz zu nehmen, der mitten im Raum stand.

Er füllte zwei Becher mit verdünntem Wein und reichte Pino einen davon.

„Du hast richtig vermutet, ich liebe Alessia“, gestand er, nachdem er einen kräftigen Schluck getrunken hatte. „Sie ist das netteste, süßeste Mädchen, das mir je begegnet ist, und gleichzeitig ist sie so unerreichbar für mich wie nur irgendetwas. Die Familie ist vermögend, ihr Vater ist ein bekannter Anwalt.“

„Trotzdem wiederhole ich meine Frage: Liebt sie dich auch?“, beharrte Pino.

„Ich weiß es nicht. Mein Herz sagt mir Ja, aber wir haben nie über unsere Gefühle gesprochen.“ Ein gequälter Ausdruck lag in Giacomos Augen. „Selbst wenn sie mich ebenfalls liebte, ihre Eltern würden sie doch niemals einem unbekannten, mittellosen Maler wie mir zur Frau geben, der noch nicht einmal weiß, wie er die Miete für dieses armselige Loch zusammenbringen soll.“

„Da muss ich dir recht geben.“ Pino leerte den Weinbecher und stellte ihn zurück auf den Tisch. „Es gibt nur eine Lösung, du musst dir als Künstler einen Namen machen, und hier kommen wir zum eigentlichen Grund meines Besuches bei dir.“

Giacomo blickte seinen Freund neugierig an.

„Ich habe vor, in Kürze nach Florenz zu gehen. Ein befreundeter Künstler hat dort eine Werkstatt. Ich werde ihm zur Hand gehen und wollte dir vorschlagen, mich zu begleiten. In Florenz gibt es viel mehr kunstbegeisterte Menschen als hier in Rom. Du wirst es leichter haben, dir einen Namen als Maler zu machen. Und wenn du es geschafft hast, kehrst du zurück und hältst um die Hand deiner Liebsten an.“ Pino strahlte Giacomo an.

Dieser lehnte sich zurück und dachte einen Moment lang über das Angebot nach. Er weilte jetzt schon über ein Jahr in Rom und hatte bisher nur zwei seiner Bilder verkaufen können. Was hatte er schon zu verlieren? Wenn es ihm gelänge, in Florenz mehr seiner Kunstwerke zu veräußern, sodass er sich ein ordentliches Haus mieten könnte, bestünde vielleicht eher die Möglichkeit, dass Alessias Eltern ihn als Schwiegersohn anerkennen würden – vorausgesetzt, dass seine Angebetete auch seine Gefühle erwiderte. Von einer plötzlichen Erregung erfasst, sprang Giacomo von seinem Stuhl auf. „Ich komme mit nach Florenz“, rief er und füllte die Becher erneut mit Wein. „Lass uns anstoßen, mein Freund! Auf Florenz und die Zukunft!“ Auf eine Zukunft mit Alessia, fügte er noch in Gedanken hinzu.

***

Via Pelamantelli

„Und? Wie war es? Was hat er gesagt?“, fragte Lea ungeduldig, als Alvaro und Alessia endlich lange nach Sonnenuntergang nach Hause zurückkehrten. Vater und Tochter legten ihre Umhänge ab und folgten Lea in den Salon. Alvaro setzte sich auf einen Sessel. Alessia ließ sich auf einem kleinen Schemel zu seinen Füßen nieder.

„Ich hatte ein langes Gespräch mit Seiner Heiligkeit. Meine liebe Lea, vor dir sitzt der erstgeborene Sohn von Papst Alexander dem Sechsten.“

„Siehst du, es war richtig, dass du in den Vatikan gegangen bist.“ Lea umarmte ihren Gemahl. „Ich habe es gleich gewusst! Nun sag, wie hat er reagiert, als du ihm den Brief und das Kästchen gezeigt hast?“

Alvaro goss Wein in einen Kelch, nahm einen kräftigen Schluck und begann zu erzählen.

„Du hast doch hoffentlich nicht erwähnt, dass ich jüdisch bin und in Kastilien von der Inquisition verfolgt wurde?“, unterbrach sie ihn nach einer Weile.

„Natürlich nicht!“, erwiderte Alvaro empört. „Ich sagte ihm allerdings, dass wir uns aufgrund der Inquisition und dem Glaubenskrieg gegen die Mauren in unserer Heimat nicht mehr wohlgefühlt hätten und wir unsere Tochter in einem friedlicheren Land wie Italien aufwachsen lassen wollten.“

„Und wie geht es nun weiter?“, fragte Lea neugierig.

„Der Papst wird eine geheime Bulle ausstellen, in der er mich als seinen Sohn anerkennt. So hat er es auch mit Lucrezia, Juan, Cesare und Jofré gemacht. Sie gelten zwar als die Kinder von Vannozza dei Cataneis Ehemännern, doch in den entsprechenden Bullen, die er in seinem Privatarchiv aufbewahrt, bezeichnet Alexander sie als seine eigenen. Dich möchte er auch kennenlernen.“

„Er wird uns schon bald in den Vatikan bitten, um uns auch seiner restlichen Familie vorzustellen!“, rief Alessia aufgeregt dazwischen. „Er will ein großes Fest geben. Wir brauchen unbedingt neue Kleider, Mama!“

„Mir fällt es immer noch schwer, all das zu glauben.“ Lea schüttelte den Kopf.

„Müssen wir jetzt in den Vatikan ziehen? Vielleicht will der Heilige Vater, dass wir bei ihm wohnen“, fiel Alessia plötzlich ein.

„Gewiss nicht! Für uns wird sich nichts ändern“, beeilte sich Lea zu versichern. „Wir bleiben hier in unserem Haus, und alles wird seinen gewohnten Gang gehen.“

„Deine Mutter hat recht“, stimmte Alvaro seiner Frau zu. „Es mag sein, dass wir hin und wieder zu Feierlichkeiten in den Vatikan gebeten werden, ansonsten wird alles wie bisher sein.“

„Lasst uns schlafen gehen! Ich bin müde. Muss ich dich jetzt mit ‚Eure Heiligkeit‘ anreden, Alvaro?“, scherzte Lea.

„Ich bestehe darauf! Und du musst mir jedes Mal, wenn du mich siehst, die Füße küssen.“

Alle drei brachen in Gelächter aus. Bevor sie sich in ihre Schlafgemächer begaben, löschte Lea noch die Öllampen.

Als Alessia wenig später in ihrer Kammer im Bett lag, musste sie wieder einmal an Giacomo denken. Es fiel ihr schwer, ihn nun nicht mehr sehen zu können und warten zu müssen, bis er sie vielleicht wieder als Modell benötigen würde. Sollte sie noch einmal zu ihm gehen und ihm gestehen, was sie für ihn empfand? Oder sollte sie ihre Gefühle in einem Brief festhalten, den sie ihm dann zukommen ließe? Sie war mehrere Jahre von einem Lehrer unterrichtet worden und des Lesens und Schreibens mächtig. Sie verfügte außerdem über Grundkenntnisse in Latein und Griechisch, und Lea hatte ihr Kastilisch beigebracht. Doch wie sollte sie die Gewissheit haben, dass Giacomo ihre Worte auch las? Und wenn er ihr nicht antwortete, was dann? Nein, sie wollte ihm ihre Liebe von Angesicht zu Angesicht gestehen und ihm dabei in die Augen schauen. Auf irgendeine Weise musste sie ihre Schüchternheit überwinden. Sie würde Giacomo eine Nachricht zukommen lassen, mit der Bitte, ihn sehen zu wollen. Jetzt musste sie sich nur noch überlegen, wo dies geschehen sollte. Alessia zog die Beine an und blickte zur Decke. Auf keinen Fall wollte sie in seiner Mansarde mit ihm reden. Vielleicht in einer Kirche? Santa Maria in Cosmedin kam ihr in den Sinn. Das zwischen dem Circus Maximus und dem Tiberufer gelegene Gotteshaus hatte ihr schon immer aufgrund seiner Schlichtheit gefallen. Außerdem war an einer Wand in der Vorhalle die „Bocca della verità“, der Mund der Wahrheit, befestigt, ein mannshohes Marmorrelief mit dem Kopf des Flussgottes Triton, der die Form eines Löwenkopfes hatte. Es verlieh dem Ort einen Hauch von Mystik. Man erzählte sich, wenn ein Lügner seine Hand in den offenen Mund des steinernen Flussgottes steckte, so würde er dieselbige verlieren.

Nach weiteren Überlegungen kam Alessia zu dem Entschluss, Giacomo in dieser Kirche ihre Liebe zu gestehen. Jetzt musste sie nur noch jemanden ausfindig machen, der dem Maler die entsprechende Nachricht überbringen würde. Sie hatte bereits eine Idee, wer hierfür infrage kommen könnte. Lächelnd streckte sie die Beine wieder aus, zog sich die Decke bis zum Kinn hoch und schloss die Augen. Während sie sich ausmalte, wie Giacomo sie bald verzückt in die Arme schließen würde, glitt sie hinüber ins Land der Träume.

Am nächsten Morgen schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel auf die Dächer Roms. Alessia hatte länger als gewöhnlich geschlafen. Als sie hinunter in den Esssalon kam, stellte sie fest, dass ihre Eltern das Frühstück bereits ohne sie eingenommen hatten.

Anna, das Dienstmädchen, erklärte ihr, dass ihr Vater nach unten in die Kanzlei gegangen sei, und ihre Mutter eine Bekannte in Sant’ Angelo aufsuchen wollte und nicht vor pranzo zurück sein würde.

Alessia setzte sich an den Tisch und löffelte rasch die Schale Haferbrei aus, die Anna vor sie hingestellt hatte. Dann ging sie nach oben in ihre Schlafkammer und nahm einen warmen Umhang aus ihrer Kleidertruhe.

Sie teilte der Dienerin mit, dass sie bei dem schönen Wetter einen Spaziergang machen würde.

„Donna Alessia, Ihr wisst, Eure Eltern wollen nicht, dass Ihr allein unterwegs seid. Wartet einen Augenblick“, bat Anna, „ich sage Ricardo Bescheid, er kann Euch begleiten.“

„Was soll schon passieren? Ich bleibe nicht lange fort. Ricardo hat bestimmt andere Dinge zu tun.“ Ohne auf Annas weitere Einwände zu hören, verließ Alessia rasch das Haus. Das hätte ihr gerade noch gefehlt, ein Bediensteter ihrer Eltern, der ihr auf Schritt und Tritt folgte.

Sie ging bis zum Portikus der Octavia, den Resten einer antiken Säulenhalle, wo auch an diesem Tag die Fischhändler ihre Stände aufgebaut hatten. Dort liefen genug Kinder herum, die – froh, sich ein paar Scudi verdienen zu können – gern einen Botengang erledigen würden. Schon bald hatte sie einen Jungen ausgemacht.

„Hey, du, komm mal her!“, rief sie.

Das etwa zehnjährige Kind lief neugierig zu ihr herüber.

„Willst du dir fünf Scudi verdienen?“, fragte Alessia.

Der Junge blickte sie mit großen Augen an und nickte beflissentlich.

„Du musst für mich zu einem Haus am Campo de’ Fiori gehen und dort jemandem etwas von mir ausrichten. Würdest du das tun?“

Wieder nickte der Junge. Er trug eine schmuddelige Tunika, die er in der Taille mit einem Strick gegürtet hatte, seine Beine und Füße waren trotz der kühlen Jahreszeit nackt.

„Wie heißt du?“ erkundigte sich Alessia.

„Mario.“

„Also, Mario, dann erkläre ich dir jetzt, wo du hingehen musst und was du dort zu sagen hast.“

Alessia ging in die Hocke, beschrieb dem Jungen den Weg zu Giacomos Haus und schärfte ihm die Worte ihrer Nachricht ein. Sie ließ Mario die Sätze mehrmals wiederholen, bis er sie fehlerfrei nachsagen konnte.

„Und du bleibst so lange dort, bis dir der Maler eine Antwort gegeben hat“, mahnte sie. „Und frag ihn nach seinem Nachnamen. Den musst du mir sagen, wenn du wieder zurückkommst, damit ich auch weiß, dass du dort gewesen bist. Na los, geh schon! Auf was wartest du?“ Alessia blickte den Jungen, der keinerlei Anstalten machte, loszulaufen, auffordernd an.

Er streckte ihr seine Handfläche entgegen. „Das Geld!“

„Du bekommst es, wenn du den Auftrag erledigt hast. Ich werde hier auf dich warten.“

Alessia konnte an Marios missmutigem Blick erkennen, dass er sich das so nicht vorgestellt hatte. Aber es würde ihr nicht im Traum einfallen, den Jungen vorher zu bezahlen, da sie befürchtete, er würde sonst das Geld nehmen und davonlaufen. Sie konnte allerdings auch nicht sicher sein, dass er tatsächlich zu Giacomos Haus gehen und dem Maler die Nachricht überbringen würde. Gewissheit hätte sie erst, wenn der junge Mann zu ihrem Treffen erscheinen würde.

Mit klopfendem Herzen blickte sie Marios Lockenkopf nach, bis der Junge zwischen den Häusern verschwunden war. Während sie auf seine Rückkehr wartete, schlenderte sie an den Ständen entlang und betrachtete den Fang der Fischer. Schließlich setzte sie sich auf den Rand eines Brunnens.

Als die Glocken der nahe gelegenen Kirche San’Angelo in Pescheria zur Mittagsstunde läuteten, wurde Alessia immer unruhiger. Man würde sie schon bald zum Essen in der Via Pelamantelli erwarten. Ob der Junge sich verlaufen hatte? Vielleicht hatte er den Maler auch nicht in seiner Dachkammer angetroffen, weil dieser ausgegangen war. Wie lange sollte sie noch warten? Sie wusste, dass ihre Eltern verärgert sein würden, wenn sie nicht pünktlich zum pranzo erschiene, und noch mehr darüber, dass sie ohne Begleitung spazieren gegangen war. Sie erhob sich vom Brunnenrand und blickte in die Richtung, in der Mario vor mehr als zwei Stunden verschwunden war. Dort zwischen den Häusern, war das nicht der Junge? Glücklich erkannte sie kurz darauf, dass sie sich nicht geirrt hatte. Außer Atem blieb Mario vor Alessia stehen.

„Und? Hast du mit Giacomo gesprochen?“, fragte sie und sog scharf die Luft ein. Mit den Handflächen strich sie den Stoff ihres Kleides glatt.

Der Junge nickte.

„Was hat er gesagt? Nun rede doch schon! Wird er nach Santa Maria in Cosmedin kommen?“

„Ja. Er wird sich dort morgen mit Euch treffen.“

Alessias Wangen begannen sich bei Marios Worten zu röten. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Wie lautet sein Nachname?“

„Er heißt di Luna. Giacomo di Luna“, kam es ohne zu zögern aus dem Mund des Jungen.

„Vielen Dank, Mario. Das hast du gut gemacht!“

Sie zückte ihre Geldkatze, die in dem kleinen, an ihrem Gürtel befestigten Samtbeutel steckte, und zählte fünf Scudi in die ausgestreckte Handfläche des Jungen ab. Ohne noch einmal das Wort an Alessia zu richten, rannte der Junge los und war kurz darauf im Getümmel der Fischmarktbesucher verschwunden. Flinken Schrittes machte sich die junge Frau auf den Rückweg in die Via Pelamantelli.

Zum Glück konnte sie noch unbemerkt vor ihren Eltern ins Haus gelangen und saß bereits am gedeckten Tisch im Esssalon, als Lea und Alvaro zurückkamen.

Am darauffolgenden Tag machte sich Alessia mit klopfendem Herzen zu dem Treffen mit Giacomo auf. Sie hatte in der Nacht vor Aufregung kaum schlafen können und war am Morgen erschrocken, als sie die dunklen Augenringe in ihrem blassen Gesicht entdeckt hatte. Wird Giacomo erscheinen?, fragte sie sich.

Sie hatte das Rendezvous absichtlich so geplant, dass es genau zu der Zeit stattfände, in der ihre Eltern ihre Siesta abhielten und tief und fest in ihrem Gemach schlafen würden, sodass sie sich erneut unbemerkt fortschleichen könnte. Als es ruhig im Haus wurde, begab sich Alessia in ihre Kammer und zog das Kleid an, das sie sich bereits am Morgen zurechtgelegt hatte. Es war ihr Lieblingsgewand aus taubengrauem Satin mit einem Samtmieder der gleichen Farbe und mit hellbraunem Satin unterfütterten, angenestelten Samtärmeln. Die langen Locken fielen ihr offen über den Rücken.

Nach einem strammen Fußmarsch hatte die frische Luft wieder ein wenig Farbe auf Alessias Wangen gezaubert, und ihre Augen glänzten bei dem Gedanken daran, dem Maler in Kürze gegenüberzustehen. Je näher sie ihrem Ziel kam, desto fester schlug ihr Herz gegen ihre Rippen.

Schon bald sah sie den siebenstöckigen Campanile von Santa Maria in Cosmedin vor sich. Nervös hielt sie nach dem Maler Ausschau, doch sie konnte ihn nirgendwo entdecken, auch nicht im kühlen Inneren der Kirche. Giacomo war noch nicht da.

Alessia beschloss, vor dem Eingang zu warten, um ihren Angebeteten auf keinen Fall zu verpassen. Die Zeit verstrich so zäh, wie der Honig des Morgens vom Löffel in ihren Haferbrei tropfte. Immer wieder blickte sie in die Richtung, aus der Giacomo hätte kommen müssen. Doch bis auf eine alte Frau, die eine Handkarre hinter sich herzog, sah sie keine Menschenseele. Hatte Giacomo es sich etwa doch anders überlegt? Oder war ihr kleiner Botenjunge gar nicht in der Dachkammer des Malers gewesen und hatte sie angeschwindelt? Aber er hatte ihr doch Giacomos Nachnamen genannt. Traurigkeit überkam sie, gleich einem Schauer, den eine kalte Brise hervorrief. Gerade, als sie beschloss, den Rückweg anzutreten, hörte sie, wie jemand ihren Namen rief. Aus Hunderten Stimmen hätte sie diese eine herausgehört!

„Alessia, es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe.“ Giacomo blieb vor ihr stehen, erhitzt und mit zerzausten Haaren. Er war offensichtlich gerannt.

Er zog sie kurz in seine Arme. „Ich freue mich, dich zu sehen. Ist etwas passiert?“

Alessia spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss und in ihren Schläfen zu pochen begann. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

„Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, weißt du, ich muss mit dir über meine Gefühle für dich sprechen.“ Sie schaute auf. „Ich … ich liebe dich, Giacomo. Ich liebe deine Augen, ich liebe deine Hände, die solche Kunstwerke schaffen, ich liebe den Klang deiner Stimme, besonders wenn du mich cara mia nennst … Ich liebe einfach alles an dir. Du fehlst mir. Ich möchte jeden Tag mit dir zusammen sein.“

Giacomo holte tief Luft und ergriff Alessias Hände. „Das sind die süßesten Worte, die je eine Frau zu mir gesagt hat, Alessia.“ Er blickte in ihre funkelnden Augen. „Ich liebe dich auch, und ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als den Rest meines Lebens mit dir zusammen zu verbringen.“

Alessias Wangen begannen zu glühen.

„Aber ich glaube kaum, dass wir eine gemeinsame Zukunft haben werden, noch nicht.“

Dieser nächste Satz zog ihr die Röte wieder aus dem Gesicht.

„Es geht nicht, ich kann dir nichts bieten, ich bin nur ein mittelloser Maler, der froh sein muss, dass er genug verdient, um nicht hungern zu müssen. Deine Eltern würden mich nie als deinen Gemahl akzeptieren.“

„Aber es reicht doch, dass wir uns lieben!“, brachte Alessia verzweifelt hervor. „Ich brauche keinen Reichtum. Ich würde auch in der kleinen Dachkammer mit dir glücklich sein, wenn wir nur zusammen sein können.“ Tränen schimmerten in ihren smaragdgrünen Augen.

„Alessia, es geht nicht!“ Giacomo umfasste sanft ihre Schultern. „Das musst du verstehen!“

„Nein, ich verstehe es nicht! Du liebst mich eben doch nicht mit der ganzen Kraft deines Herzens.“

Alessia zuckte resigniert mit den Achseln.

„Doch, das tue ich. Mein Herz ruft Ja, aber die Vernunft in meinem Kopf sagt Nein. Du würdest nach kurzer Zeit ohne den Überfluss, den du gewohnt bist, todunglücklich werden.“

„Beweise mir, dass du mich liebst!“, forderte Alessia und blickte Giacomo trotzig an.

Der junge Maler hielt einen Moment inne, dann lief er zu dem steinernen Löwenkopf, der Bocca della verità.

„Ich werde es dir beweisen.“ Triumphierend drehte er sich in Alessias Richtung. „Ich stecke jetzt meine Hand in den Mund der Wahrheit, und wenn ich dich nicht liebe, wird mir der Löwe die Hand abbeißen.“

Alessia schlug vor Schreck die Hände vor den Mund. „Nein, tu das nicht!“, rief sie und stürzte auf Giacomo zu.

Doch da hatte der Maler bereits seine Hand in das marmorne Löwenmaul gesteckt. Die beiden jungen Leute starrten mit angespannten Mienen auf das Gesicht des Flussgottes Triton – doch nichts geschah. Nach einer Weile zog Giacomo seine Hand wieder unversehrt hervor. Er räusperte sich.

„Glaubst du mir jetzt, dass ich dich liebe?“

Alessia nickte. Giacomo blickte ihr in die Augen, dann hauchte er zarte Küsse auf ihre Augenlider und auf die Nasenspitze, bevor sich schließlich ihre Lippen berührten und sie, in einem innigen Kuss vereint, für einen Augenblick die Welt um sich herum vergaßen.

„Ich werde Rom verlassen“, gestand Giacomo, nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten.

Alessia wich ein paar Schritte zurück. Entsetzen spiegelte sich in ihrem Gesicht. „Wo willst du hin? Warum?“

„Ich gehe nach Florenz. Ich werde dort versuchen, mir …“

„Nein, nein!“ Tränen schossen in Alessias Augen. „Wie kannst du weggehen, wenn du mich liebst?“ Sie schluchzte laut auf. Dann raffte sie ihre Röcke und begann zu laufen.

„Alessia, bleib doch hier! Lass mich dir erklären!“, rief Giacomo ihr nach.

Doch er konnte sie nicht mehr aufhalten.

Im Schatten des roten Stieres

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