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2. Kapitel

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Rom, Porta Laterana, Januar 1497

Es versprach ein herrlicher Tag zu werden, als die Sonne am nächsten Morgen hinter dem Horizont hervortrat und die Ruinen längst vergangener Zeiten in rötliches Licht tauchte. Obwohl es noch früh war und eine der winterlichen Jahreszeit angemessene, kühle Temperatur herrschte, war Rom bereits zum Leben erwacht. Auf den Gassen tummelten sich Fußgänger, Eselskarren und die edlen Kutschen der Adeligen. Die Bürger waren auf dem Weg zur Porta Laterana, um der Ankunft Jofré Borgias und seiner Gemahlin Sancia von Aragon, einer unehelichen Tochter des neapolitanischen Königs Alfonso II., beizuwohnen. Jofré war der jüngste Sohn des regierenden Papstes und lebte seit seiner Hochzeit mit Sancia in Neapel.

Auch die Familie Bertorelli wollte sich die bevorstehende Prozession nicht entgehen lassen. Alessias Mutter konnte ihre Tochter am Morgen nur mit viel Überredungskunst zu dem bevorstehenden Ausflug bewegen. Deren verquollene rote Augen waren ihr dabei nicht entgangen. Irgendetwas musste vorgefallen sein. Sie beschloss, Alessia in einem geeigneten Moment darauf anzusprechen.

Als sie an der Piazza del Laterano ankamen, hatte sich dort bereits eine große Anzahl Schaulustiger versammelt. Ein Stimmenwirrwarr, das an das Summen von Bienen erinnerte, erfüllte die Luft, und von überallher drang der Essensgeruch der auf die Schnelle aufgestellten Garküchen und Verkaufsstände.

„Hat der Papst eigentlich außer Jofré, Lucrezia und Cesare noch mehr Kinder?“, fragte Alessia.

Der Spaziergang an der frischen Luft tat ihr gut. Auf ihren blassen Wangen zeigte sich wieder ein Hauch von Farbe. Das Mädchen war ein Ebenbild seiner Mutter. Allerdings war Leas Haar bereits von Silberfäden durchzogen, um ihre Augen und den herzförmigen Mund hatten sich Fältchen eingegraben.

„Ja, da sind Juan, der eine Spanierin geheiratet hat, und noch zwei oder drei Ältere, die bereits gestorben sind“, antwortete Lea.

„Ich dachte immer, Kleriker dürften keine Kinder haben“, fuhr Alessia fort.

Wie ihre Mutter trug sie ein Samtkleid nach der neuesten Mode, mit angenestelten, geschlitzten Ärmeln und einem eng sitzenden Mieder, aus dem ein fein gefälteltes Leinenhemd hervorlugte, darüber einen pelzverbrämten Umhang.

„Das dürfen sie auch eigentlich nicht“, mischte sich nun Alvaro Bertorelli in das Gespräch ein. „Aber die hohen Herren geben ihre Söhne und Töchter als ihre Neffen oder Nichten aus. Alexander nicht, er hat all seine Kinder anerkannt.“

„Und wer ist die Mutter der Papstkinder? Lebt sie mit ihnen im Vatikan?“ Alessia wurde des Fragens nicht müde.

„Vannozza dei Cattanei, die Mutter von Juan, Cesare, Jofré und Lucrezia wohnt in einem Haus in der Stadt, nicht im Vatikan“, klärte Alvaro seine Tochter auf. „Dort lebt die augenblickliche Mätresse des Heiligen Vaters, Giulia Farnese-Orsini. Sie ist mit dem Sohn einer Cousine des Papstes verheiratet. Und nun genug gefragt, piccolina! Die Prozession muss jeden Moment ankommen.“

Alvaro legte den Arm um seine Tochter und küsste sie auf die Wange.

Alessia lächelte und lenkte ihren Blick auf einige Gaukler, die die wartende Menge mit Kunststücken unterhielten. Sie konnte gar nicht so schnell schauen, wie die bunten Bälle und Keulen der Jongleure durch die Luft flogen.

„Hoffentlich müssen wir nicht mehr zu lange warten, ich bin durchgefroren.“ Lea zog sich ihren Umhang fester um den Körper. „Da vorn ist ein Essensstand. Ich werde uns ein paar Leckerbissen besorgen. Der köstliche Geruch verfolgt mich schon die ganze Zeit über.“

„Gute Idee!“, murmelte Alvaro und schaute seiner Gemahlin nach.

Fröstelnd rieb er seine kalten Hände aneinander. Mittlerweile bereute er es, seinen warmen, pelzgefütterten Umhang zu Hause gelassen zu haben. Das helle Brokatwams, das er über seinen braunen Beinkleidern trug, sah zwar edel aus, bot aber kaum Schutz vor dem kühlen Wind.

Kurz darauf kam Lea mit einer Handvoll dampfender Küchlein zurück. Gerade, als sie das köstliche Gebäck verspeist hatten, ertönten die ersten Fanfarenstöße, die die Ankunft des päpstlichen Empfangskomitees ankündigten. Vorneweg marschierten zwei Herolde, die die Wappen der Borgia und des Neapolitanischen Königshauses trugen. Ihnen folgten die in Purpur gewandeten Vertreter der Kardinalshaushalte, die Kommandeure der Vatikansgarde mit zweihundert Mann sowie die Gesandten Spaniens, Mailands, Neapels, Venedigs und des Heiligen Römischen Reiches, allesamt in Seide und Brokat gekleidet. Am Schluss der langen Kavalkade ritt Lucrezia Borgia auf einem prächtig geschmückten Pferd, um ihren Bruder und ihre Schwägerin persönlich in Empfang zu nehmen. Schon von Weitem leuchtete ihr Wahrzeichen, der grasende rote Stier auf goldenem Untergrund – das Symbol der päpstlichen Familie.

„Ist sie nicht wunderschön, Mama?“, rief Alessia, als sie Lucrezia erblickte. „Schau nur, diese glänzenden blonden Locken und die glitzernden Edelsteine auf ihrem Kleid!“

Lea blickte versonnen auf die kostbar gekleidete Papsttochter, die mittlerweile an den Anfang des Zuges geritten war.

„Mama, hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?“ Alessia stupste ihre Mutter in die Seite.

„Was? Oh, eh, ja, sie ist wirklich eine Schönheit“, antwortete Lea.

Für einen Augenblick war es nicht Lucrezia gewesen, die sie dort auf dem feurigen Araberhengst gesehen hatte, sondern eine andere, ebenso stolze junge Frau mit kupferfarbenen langen Locken, in ein weißes, mit Löwen und Türmen besticktes Brokatkleid gehüllt – Isabel von Kastilien. Lea hatte sie einst bei einer Prozession durch Toledo bewundert. Wie immer, wenn sie an Spanien dachte, erfüllte Lea eine leise Wehmut. Obwohl sie viel gelitten hatte, blieb es dennoch das Land, in dem sie geboren und aufgewachsen war, wo ihre Familie begraben lag und sie Alvaro kennengelernt hatte.

„Kein Wunder, dass sie so prachtvoll gekleidet ist“, fuhr Alessia fort. „Bestimmt will Lucrezia ihre Schwägerin übertrumpfen.“

„Alessia! Mäßige deinen Ton!“, rügte Alvaro seine Tochter mit strenger Miene, auch wenn er ihr im Geheimen zustimmen musste. Wahrscheinlich fürchtete die Tochter des Papstes um die Gunst ihres Vaters, der, wie jedermann wusste, dem weiblichen Geschlecht sehr zugeneigt war. Seine Mätresse Julia Farnese war nicht viel älter als Lucrezia selbst.

Plötzlich ertönten Rufe von allen Seiten: „Da sind sie! Sie kommen!“

Und tatsächlich war der sich nähernde Reisezug des Papstsohnes und seiner Gemahlin auf der anderen Seite des Stadttores zu sehen. Jofré und Sancia führten den Tross hoch zu Pferde an. Danach folgten die Gruppe ihrer Diener und dahinter die achtundzwanzig Maultiere, die mit ihrem Gepäck beladen waren. Sogar Narren und Zwerge befanden sich in ihrem Gefolge.

Die Gemahlin des Papstsohnes war ebenso wie ihre Schwägerin auf das Kostbarste gekleidet. Sie trug ein Gewand aus karmesinrotem Brokat, dessen Mieder über und über mit Perlen bestickt war, und einen mit Fell gefütterten Umhang. Auf ihrem dunklen Haar, das ihr bis zur Taille hinabreichte, saß ein goldenes Diadem. In ihrem Gesicht dominierten die großen dunkelbraunen Augen und lenkten von der leicht gebogenen Nase ab. Ihr Lächeln ließ sie strahlen. Der nicht minder festlich gekleidete Jofré Borgia wirkte neben seiner reifen, einige Jahre älteren Gemahlin unscheinbar.

Die Zuschauermenge beobachtete neugierig, wie sich das Paar und Lucrezia begrüßten. Die Papsttochter umarmte zuerst ihren Bruder, bevor sie Sancia rechts und links auf die Wangen küsste. Applaus und Jubelrufe schallten über den Platz.

„Wie sie sich beäugen, wie zwei lauernde Tiger“, sagte neben den Bertorelli eine Frau zu ihrem Mann.

„Was glaubst du, wer wird den Kampf um die Vormachtstellung in der Gunst des Papstes gewinnen?“

„Die Neapolitanerin hat gute Chancen“, antwortete der Angesprochene. „Sie ist jung und schön. Bestimmt wird sie auch Cesare und Juan nicht kalt lassen. Armer Jofré, es wird nicht leicht für ihn werden.“

Die jungen Borgia saßen wieder auf ihren Pferden auf. Der Zug, der nun doppelt so lang war, begann, sich langsam auf der Via Lata in Richtung Vatikan voranzubewegen. Viele der Schaulustigen schlossen sich an. Sie wollten keinesfalls die Ankunft des Paares im Vatikan und seine Begrüßung durch den Papst und Cesare verpassen.

Alvaro und seine Familie hingegen machten sich auf den Heimweg. Der Advokat hatte noch in seiner Kanzlei zu tun. Er vertrat einen neuen Klienten und musste sich in den Fall einarbeiten.

Allerdings kamen die drei nur langsam vorwärts, da sie zunächst den gleichen Weg wie die Kavalkade zurücklegen mussten. Sie wohnten am südlichen Rand des Stadtteils Regola, dort, wo dieser in das Sant’Angelo-Viertel überging, Es war Leas Wunsch gewesen, in der Nähe ihrer Glaubensgenossen zu wohnen, damit sie, wann immer es ihr möglich war, ihre jüdischen Freunde besuchen konnte. Auch wenn die Juden in Italien noch ein unbehelligtes Dasein fristen durften, hatte Alvaro bei ihrer Ankunft, vierzehn Jahre zuvor, seine Frau davon überzeugt, nach außen hin als Christin zu leben, obgleich Lea im Herzen ihrem Glauben treu geblieben war. In Kastilien war das Leben durch die von Königin Isabel und König Fernando eingeführte Inquisition für Juden und besonders für Konvertiten immer gefährlicher geworden. Lea hatte dies auf schmerzlichste Weise am eigenen Leibe erfahren müssen.

An der Ponte San Angelo überquerten die Prozession und das mitlaufende Volk den Tiber. Somit war der Weg für Alvaro und seine Familie wieder frei, und sie erreichten bald darauf ihr Heim in der Via Pelamantelli, ein stattliches, mehrstöckiges Gebäude mit einer Loggia auf der Vorderseite. Den großzügigen Innenhof hatte Lea, ähnlich den spanischen Patios ihrer Heimat, mit üppigen Pflanzen ausgestattet. Im Erdgeschoss befand sich Alvaros Kanzlei. Er hatte damals nach ihrer Ankunft in Rom ein Studium des Rechts absolviert und sich in all den Jahren einen Namen als Anwalt unter den römischen Bürgern gemacht. Mittlerweile zählte er die vornehmsten Adelsfamilien zu seinen Klienten.

Da er noch einiges aufzuarbeiten hatte, zog sich Alvaro in seine Kanzlei zurück, jedoch nicht, ohne seiner Frau noch einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. „Ruhe dich ein wenig aus, meine Liebe!“, riet er ihr. „Es war ein anstrengender Marsch.“

„Du solltest das Gleiche tun, Alvaro! Du arbeitest zu viel!“ Lea strich ihrem Mann über den Arm.

„Mach dir um mich keine Sorgen! Wir sehen uns später beim Abendessen.“ Er winkte Lea und Alessia noch einmal zu, bevor sie im Eingang neben der Kanzlei verschwanden.

Erst jetzt bemerkte Alessias Mutter, dass sie sich in der Tat sehr erschöpft fühlte.

„Ich werde den Rat deines Vaters befolgen und mich eine Weile in meiner Schlafkammer ausruhen.“

Sie umarmte ihre Tochter kurz und zog sich zurück.

Alessia setzte sich in die Wohnstube vor den Kamin und nahm eine Stickerei zur Hand. Sie war sehr geschickt darin, zumal sie in ihrer Mutter eine exzellente Lehrerin hatte. Während sie mit einem rot glänzenden Seidenfaden an den Blüten einer Rosenranke arbeitete, wanderten ihre Gedanken zu Giacomo. Sie musste irgendeine Möglichkeit finden, den jungen Maler bald wiederzusehen.

Sollte sie ihm vielleicht doch beichten, dass sie ihn liebte? Sie konnte ihm ebenfalls nicht gleichgültig sein, das hatte sie während der letzten Wochen an seinen Blicken und den wie zufällig erscheinenden Berührungen bemerkt.

Sollte sie mit ihrer Mutter über ihre Gefühle für ihn sprechen? Vielleicht konnte Lea ihr einen Rat geben. Zumindest würde sie die Lage ihrer Tochter verstehen, hatte sie doch einst selbst um eine ausweglose Liebe gekämpft und gewonnen. Alessia lauschte nur zu gern den Geschichten ihrer Mutter aus deren Vergangenheit: Wie Alessias Großvater seine Tochter, nachdem er erfahren hatte, dass sie einen Christen liebte, einem jüdischen Weinhändler versprach und Lea immer wieder Gründe fand, die Hochzeit aufzuschieben. Wie sie schließlich am Hof Königin Isabels, wo Lea einen Wandbehang mit den Bildnissen der Infanten anfertigen sollte, Alvaro wieder begegnete. Er war mittlerweile zum königlichen Sekretär ernannt worden. Durch die Intrige einer in Alvaro verliebten Hofdame waren Lea und ihr Bruder Aaron in die Fänge der Inquisition geraten.

Erst in Rom hatte die Familie endlich den lang ersehnten Frieden gefunden.

Alessia öffnete die kleine Holzkiste, die neben ihr auf dem Tischchen stand, und entnahm ihr einen Strang grünes Seidengarn. Ja, sie war zufrieden mit ihrem Leben, einzig die Tatsache, dass sie keine Geschwister hatte, stimmte das Mädchen hin und wieder traurig. Aber nach ihrer eigenen schweren Geburt hatte Gott ihren Eltern keine weiteren Kinder mehr geschenkt.

Bevor Alessia den grünen Faden durch das feine Nadelöhr fädelte und sich danach den Blättern der Rosenranke widmete, erhob sie sich und legte noch zwei Holzscheite auf das Kaminfeuer. Die Flammen verbreiteten eine angenehme Wärme im Raum. Ein Blick durch das gegenüberliegende, bis zum Boden reichende Fenster verriet ihr, dass es bereits zu dämmern begann. Während Alessias Gedanken in die Vergangenheit abgetaucht waren, war die Zeit rasch vergangen. Ob ihre Mutter immer noch schlief? Sie beschloss, nach Lea zu schauen, um sie gegebenenfalls zu wecken, damit sie mit Sara, der Köchin, alles Erforderliche für das Abendessen besprechen konnten. Gewiss würde auch ihr Vater bald aus der Kanzlei nach oben in die Wohngemächer kommen.

Alessia legte ihre Stickarbeit auf den Tisch, verließ den Raum und stieg die Treppe zur dritten Etage hinauf. Bereits vor der Schlafkammer ihrer Eltern vernahm sie die angstvollen Schreie ihrer Mutter. Sie öffnete die Tür. Lea warf sich unruhig auf der Bettstatt hin und her.

„Mama, wach auf!“ Alessia setzte sich auf die Bettkante und berührte ihre Mutter sanft an der Schulter. Langsam kam Lea zu sich und blickte ihre Tochter verwirrt an.

„Schon wieder ein schlechter Traum, Mama?“, seufzte Alessia. „Wird dich denn die Vergangenheit nie in Ruhe lassen?“

Lea zuckte hilflos mit den Schultern und setzte sich auf.

„Was hat dich diesmal gequält?“ Alessia ergriff die Hand ihrer Mutter und drückte sie.

„Ich habe geträumt, ich wäre in Sevilla, in diesem scheußlichen Inquisitionskerker. Es war so kalt und dunkel.“ Lea räusperte sich. „Ich lag wieder auf diesem schimmeligen, stinkenden Stroh und musste mich ständig übergeben, wohl auch, weil ich bereits mit dir schwanger ging. Aber dann kam dieser schreckliche Aufseher, der mir immer das Essen brachte, eine wässrige übel riechende Suppe. Er sagte mir, wenn ich nett zu ihm wäre, würde er mir ein Stück Fleisch und Kerzen bringen.“ Lea schüttelte sich bei dem Gedanken an den grobschlächtigen ungewaschenen Kerl, der ihr seinen fauligen Atem ins Gesicht geblasen hatte. „Als ich mich weigerte und ihm sagte, er solle sich zum Teufel scheren, da hat er …“ Lea brach ab, als ihr erneut die Tränen über die Wangen liefen.

„Es war ein Traum. Denk nicht mehr daran! Das alles liegt lange zurück.“ Mit einer zärtlichen Geste wischte Alessia ihrer Mutter die Tränen ab. „Komm, lass uns hinuntergehen! Papa wird bald zum Abendessen kommen.“

Üblicherweise nahm die Familie die cena, das letzte Mahl des Tages, gemeinsam ein. Mittags war das nicht immer möglich, da Alvaro oft in der Kanzlei oder im Gericht zu tun hatte. So versammelten sich die Bertorelli auch an diesem Abend an der langen Tafel in dem nur für die Mahlzeiten genutzten Zimmer. Sie unterhielten sich über die Prozession, während ihr Diener Ricardo die Speisen auftrug, die auf der großen, stets mit einer Vase mit frischen Schnittblumen geschmückten Anrichte bereitstanden. Die Fenster, die dem Raum Helligkeit spendeten, wurden von Vorhängen eingerahmt, dessen beigefarbener Stoff zu den mit Brokat bezogenen Stühlen passte. Bunte Wandbilder, die Lea im Laufe der Jahre angefertigt hatte, schmückten die holzvertäfelten Wände. Da Lea in ihrem Haus wieder nach den mosaischen Regeln lebte, hatten sie eine ehemalige Jüdin als Köchin eingestellt, die für Lea koschere Speisen zubereitete. Alvaro hatte jedoch darauf bestanden, Alessia katholisch zu erziehen, später aber Leas Drängen nachgegeben, ihrer Tochter zumindest den jüdischen Glauben näherbringen zu dürfen. So kam es, dass Alessia ihre Mutter des Öfteren in das Judenviertel nach Sant’Angelo begleitete, wo sie zusammen mit Freunden jüdischen Festlichkeiten beiwohnten.

Als die Familie schließlich beim Dessert angelangt war, betrat eine Dienerin das Zimmer.

„Signor Avocato“, wandte sie sich an den Hausherrn. „Am Haupttor bittet ein Bote um Einlass. Er sagt, er hätte eine dringende Nachricht für Euch aus Spanien.“

Alvaro und Lea blickten sich überrascht an. „Aus Spanien?“ Lea zog skeptisch eine Augenbraue nach oben.

Außer Alvaros Eltern und seinen Brüdern, die immer noch in Toledo lebten, wusste niemand von ihrem Aufenthaltsort in Rom.

„Der Mann kann nur im Auftrag meiner Familie gekommen sein“, überlegte Alvaro. „Hoffentlich ist nichts passiert. Lass ihn eintreten, Anna und führe ihn in die Küche!“, forderte er die Dienerin auf. „Sara soll ihm dort etwas zu essen und zu trinken geben! Ich komme gleich nach.“

„Sehr wohl, Signor Avocato.“ Anna knickste und wandte sich zum Gehen.

„Nein, warte! Ich komme sofort mit und rede selbst mit dem Mann.“ Alvaro erhob sich und verließ zusammen mit Anna den Raum.

Der Bote wartete noch immer vor dem Tor, als Alvaro ihn kurz darauf ansprach.

„Ihr habt eine Nachricht für mich?“

„Ja, für Don Alvaro de Salvatierra von Don Pedro de Salvatierra aus Toledo“, antwortete der Bote und überreichte Alvaro einen versiegelten Brief und ein mit Intarsien verziertes verschlossenes Holzkästchen.

„Vielen Dank. Anna wird Euch in die Küche führen! Dort bekommt Ihr etwas zu essen und zu trinken, und wenn Ihr wollt, könnt Ihr im Haus übernachten“, schlug Alvaro dem Mann vor, der dieses großzügige Angebot dankend annahm und Anna ins Innere des Hauses folgte.

Alvaro blieb noch einen Augenblick vor der Tür stehen und betrachtete nachdenklich den Brief und das Kästchen. Er kehrte nicht ins Speisezimmer zu seiner Familie zurück, sondern begab sich unmittelbar in die Bibliothek. Dort nahm er an seinem Schreibtisch Platz und öffnete als Erstes den Brief. Er erkannte sofort die kleine, eng gesetzte Schrift seines Vaters und begann zu lesen:

Valladolid, den 28. Dezember, anno domini 1496

Mein lieber Sohn,

ich muss Dir leider eine traurige Nachricht übermitteln. Gestern Nacht ist Deine Mutter von uns gegangen. Sie lag schon seit einiger Zeit krank danieder, und so ist mein einziger Trost, dass Gottes Heimholung für sie selbst eine Erlösung gewesen sein muss. Für uns, die wir hier auf Erden zurückgeblieben sind, ist der Verlust jedoch umso schlimmer.

Mein lieber Alvaro, bevor Deine Mutter ihren letzten Atemzug tat, musste ich ihr versprechen, Dir dieses versiegelte Kästchen zukommen zu lassen, was, wenn Du diese Zeilen liest, geschehen ist. Sie konnte mir leider nicht mehr erklären, was sich darin verbirgt, und so hoffe ich, Du wirst es mir irgendwann erzählen.

Alvaro, mein sehnlichster Wunsch wäre, Dich noch einmal zu sehen, bevor auch ich das Zeitliche segnen werde. Doch ich glaube nicht, dass Gott mir diese Gnade gewähren wird. Ich fühle, wie meine Kräfte von Tag zu Tag nachlassen.

Ich hoffe, Dir und Deiner Familie geht es gut, und Ihr könnt in Frieden leben. Sei gegrüßt von Deinen Brüdern und Deinem dich liebenden, trauernden Vater

Pedro, Marqués de Salvatierra

Langsam ließ Alvaro den Papierbogen auf das Schreibpult sinken. Während ihm Tränen über die Wangen liefen, erschien ihm das Bild seiner Mutter, ihre gütigen braunen Augen auf sich gerichtet, so wie er sie vor vielen Jahren zum letzten Mal gesehen hatte. Er war der jüngste der drei Brüder und hatte immer ein besonders inniges Verhältnis zu seiner Mutter gehabt. Alvaro glaubte, ihre kühle Hand auf seiner Schulter zu spüren, eine Geste, mit der sie ihn oft während der hitzigen Diskussionen mit seinem Vater zu beschwichtigen versucht hatte. Er verspürte ein Gefühl der Wut in seinem Inneren. Warum hatte ihm Pedro nicht früher geschrieben, dass seine Mutter krank war? Wenn er es gewusst hätte, hätte er nach Toledo reisen und sie noch einmal sehen können. Alvaro wischte sich über die Augen und lenkte seine Aufmerksamkeit nun auf das vergoldete Kästchen. Es war verschlossen, nur mithilfe eines Dolches, den der Advokat aus einer Schublade seines Sekretärs hervorholte, gelang es ihm, das Vermächtnis seiner Mutter zu öffnen. An der Innenseite des Deckels war ein kleiner Spiegel befestigt, das Kästchen selbst mit dunklem Samt ausgeschlagen. Als Erstes sah Alvaro einen Ring. Vorsichtig nahm er das Schmuckstück in die Hand und betrachtete es eingehend. Es war aus Gold gefertigt, mit einem eingravierten Stier, in dessen Auge ein Rubin funkelte. Außer dem Ring kamen noch zwei weitere versiegelte Briefe zum Vorschein. Der eine war mit dem Namen Rodrigo Borgia versehen, der andere war an Alvaro selbst adressiert. Diesen nahm er als Erstes zur Hand und brach hastig das Siegel auf. Sofort erkannte er, dass seine Mutter den Brief verfasst hatte, und so kamen ihm erneut die Tränen. Alles um sich herum vergessend, begann er zu lesen.

Im Schatten des roten Stieres

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