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Zeuge eines Mordes

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Winter 2041 - Es war eine dunkle, kalte Nacht in New York, ein grosses Feuer in einer Tonne, darum herum einige Obdachlose, die sich die Hände an den Flammen wärmten.

Richard besorgte seine Lebensmittel aus dem öffentlichen Kehricht und bekam ab und an eine Flasche Alkohol von Bekannten aus Supermärkten zugesteckt. Er war obdachlos. Eigentlich musste heutzutage niemand mehr auf der Strasse schlafen. Es gab Einrichtungen, wo jeder, der kein Zuhause hatte, hingehen konnte und etwas zu Essen und einen Schlafplatz bekam. Aber Richard ging dort nur wiederwillig in sehr kalten Nächten hin. Er lebte gerne auf der Strasse, solange es das Wetter zuliess. Es gab ihm ein unbeschwertes Gefühl der Freiheit.

An diesem Abend erzählte er, noch immer durcheinander und aufgebracht, ein paar Freunden, was er in der Nacht zuvor erlebt hatte: „Ich hatte mich nach einer Flasche Wein etwas hingelegt und wollte schlafen. Doch es war kalt, ich bin schnell wieder aufgewacht, öffnete meine Augen und blickte in den sternenklaren Himmel. Ich überlegte, wo ich hin könnte, wo es nicht ganz so kalt sei, da kam mir eine Tiefgarage an der Kreuzung zur Neunzigsten in den Sinn. Da war ich schon ein paar Mal, die lassen bis Mitternacht, meist auch die ganze Nacht eine kleine Seitentür auf, wohl etwas unachtsame Mitarbeiter. Der Weg war ziemlich weit, aber das war es mir gestern Nacht wert. Als ich ankam war es bereits kurz nach Mitternacht. Ich hoffte, der Hintereingang sei nicht ausgerechnet heute zugesperrt, dann wäre der ganze Weg umsonst gewesen. Ich hatte Glück, er war offen. Das ist wirklich ein Geheimtipp für kalte Nächte, die Garage da. Gestern war es aber nicht so gemütlich.

Ich habe mir es in einem Versteck hinter einem Stapel alter Kisten und Abfall bequem gemacht. Falls jemand kommt, würde ich nicht so schnell gefunden und rausgeworfen. Mir war schön warm und ich war kurz vor dem Einschlafen, als ich weiter vorne die Fahrstuhltüre aufgehen hörte, die vom Wohngebäude über der Tiefgarage herunter führte. Ich dachte schon, bitte kein Polizist oder sowas und drehte mich um. Durch ein Gitterpalet konnte ich in den Gang sehen, der vom Lift in die Garage kam, merkte aber auch den Geräuschen schnell an, dass es kein Wachmann war. Ich hörte Schreie, eine aufgeregte, männliche Stimme, sie müssen sich beeilen, dann Schritte, bzw. ein Rennen.

Und danach kamen die beiden in Sichtweite. Ein Mann, circa dreissig, gross, gut gebaut mit schwarzen, vermutlich gefärbten, halblangen Haaren zog eine kleinere, eher zierliche Frau mit langen, dunklen Haaren, hochschwanger hinter sich her. Sie hatte offenbar grosse Mühe zu rennen, ihr Gesicht war schmerzverzerrt und sie hielt sich mit einer Hand am Arm des Mannes fest, mit der anderen ihren Bauch.

Die beiden sahen aus, als seien sie auf der Flucht, niemand würde ansonsten eine hochschwangere Frau so drängen, noch schneller zu gehen.

Als sie kurz vor meinem Versteck waren, stiess sie plötzlich einen lauten Schrei aus und krümmte sich. Der Mann stützte sie, fragte was los sei. Sie antwortete anscheinend unter grossen Schmerzen, sie könne nicht mehr weiter. Er half ihr sich auf den Boden zu setzen und sich gegen die Wand zu lehnen. Sie atmete heftig und blies die Luft immer wieder durch den Mund heraus.

Ich bin ja kein Spezialist, aber ich hätte gesagt, dass das die Wehen waren, die eingesetzt haben. Die beiden flüsterten miteinander, ich konnte nichts verstehen. Die Frau sah ihn eindringlich an und sagte dann laut, dass er gehen solle. Er schaute sie mit glasigen Augen an und schüttelte den Kopf. Sie sagte dann nochmal etwas, das ich nicht verstanden habe, das ihn aber zu überzeugen schien. Er drückte ihr einen Kuss auf den Mund, stand auf, ging einige Schritte in Richtung Tiefgarage. Dann hielt er aber wieder an und senkte den Kopf. Er ging zu ihr zurück und kauerte wie zuvor vor ihr nieder. Er könne es nicht, sagte er. Sie begann heftig zu weinen und hielt seine Hände. Er küsste sie nochmal zärtlich, zuerst auf die Stirn, dann auf den Mund. Er sagte wieder etwas sehr leise und wie ich darauf hin ihre Lippenbewegung deutete, sagte sie, dass sie ihn auch liebe. Die Tränen liefen ihr nur so über die Wangen.

Wenn ich den Umgang der beiden miteinander hätte deuten müssen, hätte ich gesagt, dass er der Vater des ungeborenen Kindes war.

Ich habe bis dahin noch nicht so richtig verstanden was überhaupt mit den beiden los war.

Dann kamen erneut Geräusche aus der Richtung des Fahrstuhls. Der Mann sagte ihr, sie solle versuchen ruhig zu bleiben und nichts zu sagen, egal was passiere. Er liess sie los und stand langsam auf. Mit düsterem Blick schaute er den Gang entlang woher Schritte kamen, als wüsste er genau, wer da aus dem Lift gekommen war. Zwei dunkel angezogene Männer liefen langsam aber bestimmt auf ihn zu. Als sie näher kamen, erkannte ich, dass sie Waffen in den Händen hielten. Der Vordere schien der Anführer zu sein, er verhielt sich sehr autoritär. Zielstrebig ging er auf den Mann zu und richtete die Pistole auf ihn ohne ein Wort zu sagen.

Einige Augenblicke standen die beiden Männer da und sahen sich nur eisern in die Augen, als wüssten beide genau warum sie hier waren.

Es kam mir vor wie Stunden. Dann begann der Bewaffnete mit der Pistole rumzufuchteln, warf einen Blick auf die Frau am Boden und deutete auf sie. Er wollte wissen, wer sie ist. Sie sei nur eine Schlampe, die er auf der Strasse aufgelesen habe und sich mit ihr vergnügen wollte.

Ich dachte nur, das hat vorher aber anders ausgesehen, aber der Typ schien es zu glauben. Er befahl seinem Begleiter sie hochzuheben und festzuhalten, dann kümmerte er sich nicht weiter um sie. Der Begleiter packte sie, während sie winselnde Geräusche von sich gab und offensichtlich immer noch starke Schmerzen hatte, brutal am Arm, zog sie hoch und hielt sie von hinten, mit beiden Armen auf den Rücken gezogen, fest. Sie weinte nach wie vor und schaute die beiden Männer vor ihr mit angsterfüllten Augen an. Sie versuchte zu schreien, doch ihr Mund wurde zugehalten und ihre Kraft reichte nicht aus, um sich zu befreien. Der Anführer befahl dem Mann währenddessen auf die Knie zu gehen. Er tat es. Eisern blieb sein Blick weiter in die Augen des Bewaffneten gerichtet. Der hielt den Lauf unmittelbar an seine Stirn. Der Mann zeigte keine Angst, blinzelte nicht einmal. Dann meinte der andere, wie sehr er sich auf diesen Moment gefreut habe. Er schien es richtig zu geniessen und wartete einige Augenblicke mit der Waffe auf den Kopf des Mannes gerichtet.

Die Frau schluchzte, ihre tränenüberströmten Augen wanderten von einem zum anderen. Er ignorierte sie, schien es nicht zur Kenntnis zu nehmen. Dann drückte er ab. Mein Herz blieb fast stehen, ich musste mir die Hand vor den Mund halten, damit ich nicht rausschrie. Ich hatte solche Angst, dass die mich entdecken, dann hätte der Typ mit mir vermutlich dasselbe gemacht.

Wo bin ich da bloss wieder rein geraten?

Die Frau stiess während dessen ein langgezogenes, verzweifeltes Nein hervor und liess sich auf den Boden fallen, der Begleiter hatte Mühe sie festzuhalten. Er zog seine Waffe und drängte sie damit wieder an die Wand. Zusammengekauert wie ein kleines Häufchen Elend sass sie da.

Ich konnte es nicht glauben, der hat einfach kaltblütig ohne mit der Wimper zu zucken abgedrückt. Im Gegenteil, seinem Gesichtsausdruck konnte man Zufriedenheit entnehmen. Er hat ja sogar gesagt, er habe sich auf den Moment gefreut, so etwas Krankes.“

Richard war wieder ganz aufgewühlt und nahm noch einen grossen Schluck Wein aus dem zweckentfremdeten Kaffeebecher. Das Licht der Flammen schien dabei friedlich auf seine zitternden Hände.

Seine Freunde hörten stumm und gespannt zu.

Erwartungsvoll fragte schliesslich einer: „Und dann, was ist dann passiert?“

Richard atmete tief ein und aus, versuchte sich zusammenzureissen und fuhr fort: „Der, der geschossen hatte, hat dann seine Waffe weggesteckt und sich umgedreht, wollte wieder zum Lift zurück gehen.

Was mit dem Mädchen sei, fragte der andere.

Der meinte nur abschätzig, er solle sie abknallen.

Sie sei schwanger erwiderte er entrüstet.

Den Anführer schien das nicht zu interessieren, er sagte nur, so viel habe er auch gesehen, ob es denn damit ein Problem gäbe.

Offensichtlich hatte er seinen Begleiter ziemlich gut unter Kontrolle.

Der verneinte dann schliesslich unterwürfig und der Anführer drehte sich um, meinte er solle nachkommen, wenn er es erledigt hätte und marschierte davon.

Ich konnte nur kopfschüttelnd zuhören, was ich da hörte. Stellt euch das mal vor? Wenn er es erledigt habe? Wie wenn er noch etwas von der Post abholen sollte, so redete er darüber eine hochschwangere Frau umzubringen.

Die Frau zitterte am ganzen Körper und sah ihn aus ihren tränenüberströmten Augen wie erstarrt an.

Er hob seine Waffe und zielte auf sie.

Ich musste die Augen schliessen, das konnte ich nicht mit ansehen.

Dann fiel der Schuss und ich zuckte zusammen.

Das nächste was ich hörte, war die Stimme des Mannes, sie solle ganz weit weg verschwinden und nie zurückkommen.

Erstaunt öffnete ich die Augen. Er hatte offenbar absichtlich danebengeschossen.

Sie nickte hastig, dann steckte er seine Waffe ein und ging ebenfalls.

Die Frau robbte sich zum Mann, der tot am Boden lag, beugte sich über ihn und weinte bitterlich. Sie hielt sich vor Schmerzen die Hand an den Bauch, es war feucht. Es sah aus, als ob gerade die Fruchtblase geplatzt war. Aus der Wunde am Kopf des Mannes lief etwas Blut über die Stirn den Haaren entlang auf den Boden. Nicht sehr viel, vermutlich weil er sofort tot war. Er lag mit offenen Augen da. Sie waren strahlend blau und blickten leblos in die Leere. Diesen Anblick werde ich wohl nie vergessen.

Ich wollte ihr irgendwie helfen, sie tat mir so leid. Dann habe ich mich wieder zur Seitentür geschlichen und bin aus der Garage raus. Da konnte ich ja jetzt nicht mehr bleiben. Die Frau hat mich zum Glück nicht gehört. Ich habe einige Passanten angesprochen, bis mir endlich einer helfen wollte und die Polizei rief. Es sollte sich einfach so bald wie möglich jemand um die arme Frau kümmern. Ich konnte aber immer noch nicht gehen und habe gewartet, bis Polizei und Krankenwagen da waren. Hinter der nächsten Ecke habe ich mich versteckt. Erst als ich gesehen habe, wie sie auf einer Trage in den Krankenwagen gebracht wurde und ein Arzt über sie gebeugt versuchte sie zu beruhigen, konnte ich gehen, um mir einen neuen Schlafplatz zu suchen.“

Richard atmete tief aus. Das Licht des Feuers wurde langsam schwächer.

„Du erlebst Sachen, zur falschen Zeit am falschen Ort, würde ich sagen.“ meinte einer seiner Freunde.

Ein anderer warf ein: „Ja, aber du kannst von Glück reden, dass die dich nicht entdeckt haben! Wirklich komische Geschichte, weswegen er das wohl getan hat? Man müsste eine Zeitung von heute auftreiben.“

„Hab ich natürlich gemacht heute Morgen. Hab einige Abfalleimer durchforstet, bis ich endlich eine gefunden habe. Ich hoffte so auch noch etwas mehr Informationen über die Hintergründe herauszufinden. Ich hätte auch gerne gewusst, ob es der Frau und dem Kind gut geht. Aber nichts, die Sache wurde mit keinem Wort erwähnt, in der ganzen Zeitung. Überfälle, Vergewaltigungen, andere Schiessereien mit Toten, aber nichts über diese Tiefgarage. Sehr komisch!“

„Ja, dann wirst du wohl damit leben müssen, dass du nichts Genaueres erfährst. Wir sind in New York, er war wie du sagst ja nicht der Einzige der gestern Nacht erschossen wurde.“

Richard nickte traurig: „Ja, ich werde wohl damit leben müssen und hoffen, dass diese Bilder irgendwann wieder aus meinem Kopf verschwinden.“



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