Читать книгу Willkommen in der neuen Welt - Sylvia Oldenburg-Marbacher - Страница 9
Eine liebevolle Familie
ОглавлениеDenniz liebte seine Familie. Der Selbstmordversuch hatte sie sogar noch mehr zusammengeschweisst. Seine Mutter redete oft mit ihm. Er empfand es nicht als nervend oder aufdringlich. Er hatte das Gefühl, ihr das schuldig zu sein und es tat ihm gut. Zwar empfang er es im Generellen unnötig über seine Gefühle zu reden, da dies nichts änderte an der Sinnlosigkeit, die er im Leben sah, doch fühlte er sich jeweils danach irgendwie besser.
Er öffnete sich diesbezüglich nicht vielen Menschen, er wollte damit auch niemanden belästigen oder gar noch in eine depressive Stimmung mit hineinziehen. Meist war das Papier, auf dem er seine Songs schrieb, der einzige geduldige Zuhörer.
Doch nun redete er mit seiner Mutter darüber, weil es sich gut anfühlte und es ihm wichtig war, dass sie ihm nicht böse war und sie verstand, dass er ihr mit dem Selbstmordversuch nicht weh tun wollte. Auch sie berührten diese Gespräche sehr, die Vergangenheit wurde wieder hochgeholt und sie wurde schmerzlich daran erinnert, was sie in ihrer Vergangenheit durchgemacht hatte. Trotzdem war es ihr wichtig, dass Denniz das alles, die ganzen Einzelheiten aus der Vergangenheit, erfuhr. Je älter er wurde, desto mehr konnte sie ihm erzählen, so dass er es auch zu verstehen fähig war. Immer wieder aufs Neue sah sie ihn an und konnte es nicht fassen wie er seinem Vater immer mehr ähnelte. Die strahlend blauen Augen, die gleichen Gesichtszüge, es machte ihr fast Angst, dass er wohl, wenn er älter ist, genauso aussehen würde wie sein Vater.
Mit seinem Stiefvater, Jonathan, hatte er zwar ein gutes Verhältnis, er sah ihn eigentlich auch als Vater, doch gab es Situationen, wo ihm seine Mutter klar machte, dass er das nicht war. Wie damals, als er und Beni an eine Party in Zürich wollten. Jonathan war dagegen, er fand die beiden seien zu jung für eine Party dieser Art, sie war auch erst ab 18 und Denniz fehlten noch einige Tage bis dahin.
Beni stand in der Tür, hatte bereits die Jacke an und wartete. Denniz packte seine Sachen, abgewandt gegen den Esstisch und das Fenster gerichtet. Jonathan stand hinter, schlug die Hände hoch und meinte: „Nein, du wirst nicht auf diese Party gehen, hab ich gesagt! Das ist mein letztes Wort!“
Denniz ignorierte ihn, drehte sich um und wollte gehen, aber Jonathans Hand drückte gegen seine Brust.
Er sah ihn an: „Du kannst mir gar nichts verbieten, du bist nicht mein Vater!“
Da klatschte es.
Jonathan war absolut gegen Gewalt. Nie hatte er seine Hand gegen jemand erhoben, doch jetzt rutschte sie ihm aus. Die Ohrfeige hatte gesessen. Denniz starrte ihn schockiert an. Einige Augenblicke zuvor war auch Denniz Mutter nach Hause gekommen. Sie stand neben Beni in der Tür und hatte die Ohrfeige gesehen.
Denniz starrte Jonathan einen Augenblick an, als sei er aus allen Wolken gefallen, schüttelte dann kurz den Kopf und stürmte an Jonathan vorbei.
„Denniz! Es tut mir leid, das…“ Doch die Worte blieben ihm im Hals stecken.
Denniz reagierte wieder nicht, packte Beni am Arm und zog ihn stürmisch hinter sich zur Haustüre raus.
Ayleen sah Jonathan an und schrie: „Wie kannst du meinen Sohn schlagen? Was fällt dir ein?“
„Da ist es wieder! DEIN Sohn. Kein Wunder sagt er sowas zu mir!“
Jonathan war ausser sich. Er schubste sie zur Seite, ging ins Schlafzimmer und packte das Nötigste. Danach zog er mit hochgezogener Nase an ihr vorbei und verliess ebenfalls wutentbrannt das Haus.
Sie stand nur da, die Schneidezähne auf die Unterlippen gedrückt, und fragte sich wofür sie sich entscheiden sollte. Für ihren Sohn und seinen Vater, dem sie auf ihre Art treu bleiben wollte, oder für ihren Lebenspartner, wobei man ihn in ihrem Fall wirklich so nennen konnte. Er begleitete sie ihr Leben lang, sie konnte sich kaum an die Zeit erinnern, als sie ihn noch nicht kannte. Er liebte sie, das war ihr klar. Und sie liebte ihn genauso.
Sie ging in die Küche, schenkte sich ein Glas Wein und holte eine Schachtel Zigaretten aus einer der Schubladen. Sie rauchte nur noch selten, doch jetzt konnte sie eine gebrauchen. Deprimiert setzte sie sich als sie wieder vom Wintergarten reinkam auf die Couch, schaltete den Fernseher ein, sah aber dennoch gedankenverloren auf den Boden.
Bald darauf kam auch Melanie von der Schule nach Hause. Verwirrt, da es ungewöhnlich war, dass nur ihre Mutter zuhause war, setzte sie sich zu ihr und fragte was los sei. Ayleen erzählte es ihr.
Melanie war 11 Jahre alt. Sie war ein süsses, intelligentes Mädchen, die leibliche Tochter von Jonathan. Sie war sehr gut in der Schule ohne sich gross anstrengen zu müssen. Die Ereignisse in den letzten Monaten haben aber auch sie etwas mitgenommen. Der Selbstmordversuch ihres Bruders, aber auch dessen Erfolg und damit verbunden, dass er weniger zuhause war und für sie da sein konnte. Die Kleine liebte ihren Bruder über alles und war gerne mit ihm zusammen. Obwohl er sie natürlich nicht überall hin mitnehmen konnte, war es schön, wenn er wieder nach Hause kam und mit ihr ein Videogame spielte oder etwas kochte, was früher beinahe täglich vorkam.
Seit die Band erfolgreich war, war er nun aber teilweise wochenlang weg und sie vermisste ihn sehr. Die Informationen über das angespannte Verhältnis zwischen ihren Eltern, von dem sie nun erfuhr, stimmten sie ebenfalls nicht gerade heiter.
Traurig senkte sie den Kopf und ihre Mutter nahm sie in den Arm: „Das wird schon wieder, Kleines! So schnell bringt unsere Familie nichts auseinander, hörst du?“ Zärtlich küsste sie sie auf die Stirn.
Mitten in dieser Nacht klopfte es plötzlich an der Tür zum Elternschlafzimmer. Schlaftrunken bat Ayleen herein, es könne ja nur eines ihrer Kinder sein, dachte sie.
Es war Denniz. Sichtbar betrübt kam er herein: „Kann ich noch kurz mit dir reden, bist du noch wach?“
„Jetzt ja!“ schmunzelte sie.
„Entschuldige!“
Sie setzte sich auf und Denniz setzte sich zu ihr auf die Bettkante.
„Es tut mir leid, was heute passiert ist. Ich wollte das eigentlich nicht sagen, es ist mir irgendwie so rausgerutscht.“
Ayleen nickte verständnisvoll.
„Ich weiss was Jonathan alles für mich getan hat. Fast mein ganzen Leben ist er für mich dagewesen, zumindest seit ich drei Jahre alt war.“
Ayleen senkte den Kopf: „Es ist wohl nicht nur deine Schuld, ich denke ich habe eine ganze Menge dazu beigetragen, dass du ihn nicht als Vater siehst. Seit ich damals wieder mit ihm zusammengekommen war, habe ich alles dafür getan, dass du ihn nicht mal so nennst. Selbst als du damals in der Schule andere Kinder über ihren Daddy sprechen hörtest und Jonathan deswegen einmal so genannt hast, habe ich dich ermahnt, er sei nicht dein Vater, er sei Jonathan. Dein Vater sei nicht mehr da.“
Eigentlich war es kein Wunder, dass Denniz ihn nicht als Autorität akzeptiert hatte. Ayleen hatte diesbezüglich wohl viel falsch gemacht, sie wollte einfach nicht, dass Denniz richtiger Vater in Vergessenheit gerät.
Ausserdem liebte Jonathan Denniz trotzdem. Er hatte ihm sein Leben lang viel beigebracht, zum Beispiel Snowboarden. Schon mit 4 Jahren hatte er ihn mitgenommen in die Berge und stellte ihn aufs Brett. Mit 6 sprang er im Snowpark über die Schanzen und mit 8 fuhr er eines Tages seinen Eltern davon, um über eine 5 Meter hohe Schanze über den Abgrund zu springen. Er hatte zuvor gefragt, ob er dürfe, aber seine Mutter hatte es ihm verboten. Er machte es trotzdem, ihr blieb fast das Herz stehen, während sie dem Sprung zusah nachdem sie noch vergeblich hinterher geschrien hatte. Jonathan stand einfach nur mit offenem Mund da und schaute stolz zu, wie Denniz sauber nach einer gekonnten Drehung wieder auf der Piste landete. Damals war Ayleen wütend auf ihren Sohn und hatte ihn angefaucht, jetzt muss sie darüber schmunzeln. Bald darauf wollte Denniz in den Winterferien in ein professionelles Snowboard-Camp, in dem Jumps und Tricks dieser Art geübt werden. Denniz war schon immer ein talentierter Junge, aber das war ihr zu gefährlich. Auch damals war es dann Jonathan, der seine Mutter dazu überredet hatte, dass er gehen durfte. Er wollte ihn fördern. Das Verhältnis zwischen den beiden war daher eigentlich nicht schlecht.
Denniz hatte wirklich ein schlechtes Gewissen, dass ihm heute so etwas rausgerutscht war. Und er wollte die Verantwortung dafür selbst übernehmen, seine Mutter sollte sich nicht alleine die Schuld dafür geben: „Ich verstehe dich ja, dass du dich so verhalten hattest. Und ich finde es auch schön, dass ich mir meines richtigen Vaters bewusst bin. Aber ich liebe Jonathan deswegen nicht weniger. Und ich möchte schon gar nicht der Grund dafür sein, dass ihr euch streitet!“ Nun sassen die beiden auf diesem Bett und zuckten mit den Schultern.
„Wir sind wohl jemandem eine Entschuldigung schuldig.“ meinte Denniz schliesslich.
„Vielleicht sollten wir in Zukunft etwas mehr Verständnis für ihn aufbringen.“ Ayleen drückte ihren Sohn an sich und drückte ihm einen Gutenachtkuss auf die Wange. Sie war stolz auf ihn. Immer öfter fiel ihr in letzter Zeit auf, dass er nicht mehr der kleine Junge war und sich immer mehr wie ein Mann verhielt.
Am nächsten Morgen gingen die beiden wie abgemacht als Erstes zum Bäcker und holten frische Brötchen und einen Blumenstraus im Laden nebenan. Dann gingen sie zum Hotel, wo sie Jonathan vermuteten und fragten die Dame an der Rezeption nach der Zimmernummer. Er war tatsächlich da und öffnete die Tür nachdem sie klopften. Überrascht, wortlos, aber erwartungsvoll sah er sie an.
Als Ayleen ansetzte etwas sagen zu wollen, fing Denniz an: „Ich bin zuerst dran, ich bin ja schliesslich Schuld an dieser Situation!“ Er atmete schwer, hob dann den Kopf und sah Jonathan in die Augen: „Ich möchte mich für das was ich gestern gesagt habe entschuldigen. Ich habe es nicht so gemeint. Du bist mir wichtig und ich schätze dich sehr. Ich habe so viel von dir gelernt, du warst immer für mich da, natürlich bist du wie ein Vater für mich! Ich hoffe du kannst mir verzeihen!“
Der sture Blick von Jonathan wandelte sich langsam in ein betroffenes Lächeln während er den Worten zuhörte. Er nahm Denniz in den Arm und drückte ihn an sich: „Aber natürlich, mein Junge! Ich könnte doch gar nicht so lange sauer sein auf dich!“.
„Und natürlich kannst du mir auch etwas verbieten wenn es sein muss. Aber nur noch ein paar Tage, dann bin ich 18!“
Jonathan schmunzelte. Dann sah er Ayleen an.
„Ich gehe dann mal. Ich habe noch was zu tun, Bandprobe oder so, und ihr habt ja vielleicht auch noch was zu besprechen. Ihr könnt das Hotelzimmer ja noch etwas ausnutzen.“ Denniz zwinkerte den beiden zu und verabschiedete sich.
„Jetzt werde mal nicht noch frech, Kleiner!“ rief ihm Jonathan nach, konnte aber den Humor in seiner Stimme nicht verstecken.
Jonathan bat Ayleen herein und sah sie an. Er versuchte wieder den bösen Blick von zuvor aufzusetzen. So leicht wollte er es ihr nicht machen, doch es fiel ihm schwer. Sie war zierlich und schaute mit ihren dunkelbraunen Rehaugen zu ihm hoch. Diesem Blick konnte er noch nie wiederstehen.
„Hör zu, auch ich möchte mich entschuldigen. Er ist natürlich nicht nur mein Sohn, sondern auch deiner. Mir ist bewusst, dass du ihn damals adoptiert und ihn wie dein eigenes Kind behandelt hast. Er bat sie herein und sie entschuldigte sich ebenso für ihre Aussage.
„Du hast ihn grossgezogen, ihm all die Sachen beigebracht, die ein Junge von seinem Vater lernen sollte.“ Sie senkte bedrückt den Kopf: „Und ich habe viele Fehler gemacht, ich wollte einfach nicht…“
Jonathan unterbrach sie, indem er sie an sich zog und sie zärtlich küsste.
„Ich kann es ja verstehen. Es bedeutet mir sehr viel, dass ihr hergekommen seid, um euch zu entschuldigen. Aber wir müssen das alles auch nicht totreden! Ich hoffe einfach, ihr habt etwas daraus gelernt und das sowas in dieser Form nicht mehr vorkommt.“
Sie schüttelte den Kopf und küsste ihn nochmals. Die Brötchen fielen zu Boden und die beiden landeten schliesslich auf dem Bett. Gefrühstückt wurde später.