Читать книгу Am Ende fügt sich alles - T. R. Schiemann - Страница 10
Kapitel 8: Nordmexiko, 23. Juli 1994
ОглавлениеMein Vater starb am Tag, nach dem die Bruchstücke des Kometen Shoemaker-Levy in den Jupiter gestürzt waren. Ich erinnere mich genau an die Bilder im Fernsehen. Das Aufprallen. Die ringförmigen Explosionen. Ich stellte mir vor, wie die Trümmer in diesem Gasriesen verschwanden, hineintauchten in die wabernde Masse, in die unendlich fließenden Wolkenbänder, in die Nebelgeschwüre. Ein kurzes Aufflackern, weit entfernt, nichts weiter. Gut sichtbar war der rötliche Wirbelsturm, der seit Hunderten von Jahren tobt und der wahrscheinlich für immer toben wird. Und wäre die Erde getroffen worden? Ich ging schlafen und träumte von kilometerhohen Flutwellen, die auf mich zu rasten wie flüssig gewordene Bergketten. Mir stockte der Atem, ich wachte auf. Da war mein Vater wohl bereits tot.
Der Jupiter, so las ich am nächsten Morgen, ist so riesig, dass er fast eine Sonne geworden wäre. In das Loch, das der größte Brocken in die Atmosphäre riss, passte die Erde zweimal hinein. Auf dem Foto in der Zeitung sah man die Wunden in der südlichen Hemisphäre des Planeten. Dunkle Flecken, die bald darauf wieder verschwinden würden. Ich erfuhr, dass die Masse des Jupiters das Sonnensystem stabilisiert, dass wir ohne Jupiter schon längst von Asteroiden zerschossen worden wären, wir überhaupt nicht existierten.
Das Telefon klingelte, und ich hörte die Stimme meiner Mutter. Sie drang zu mir vom anderen Ende der Welt. Zuerst verstand ich nicht, was sie sagte. Sie nuschelte und schluchzte. Ich klemmte mir den Hörer unters Kinn und faltete meine Zeitung zusammen. Sie war wohl wieder betrunken.
„Papa ist tot“, sagte sie.
Ich schwieg und dachte an Steine, die kugelschnell durchs All schießen, bis sie auf ein Hindernis treffen.
„Papa ist tot.“
Was sollte ich sagen? Ich hatte plötzlich Angst, nichts zu empfinden.
Ich hatte Angst, meine Mutter würde merken, dass ich im Augenblick wirklich nichts empfand.
Auch keine Leere.
Ich fragte: „Wie denn?“
Aber eigentlich war sein Tod alles andere als überraschend. Er war angekündigt worden. Immer wieder, wochenlang. Ein Zustandsbericht, der sich hinzog, der sich abnutzte, sich wiederholte und der schließlich zu einer störenden, ewigen Leier verkam.
Nach Jahren der Stille, des vollständigen Bruchs mit ihr, fast jeden Tag die Klagen meiner Mutter. Es geht ihm schlecht und schlechter und wieder besser. Stundenweise.
Ein Sterben über Wochen. Wobei ich kein Mitleid spürte. Keine Sympathie, sondern in erster Linie Verantwortung und das ständige Bedürfnis zu agieren. Aber wohin?
Die Zeit, meine Zeit, wurde eingeteilt, zerrissen, zerbröselt. Ich wurde eingesperrt in ein Wartezimmer, in den Vorraum des Todes.
Immer in Erwartung.
Ich sah den Krebs vor mir. Wie er sich durch die Eingeweide meines Vaters fraß. Ich sah ihn in seinem Bett dahinsiechen, während mir meine Mutter pünktlich Bericht erstattete. Mir anschaulich darlegte, wie sie ihm die Windeln wechselten und er sich immer öfter nachts einschiss. Sie erzählte mir, dass er manchmal vor Schmerzen schrie. Jetzt haben wir einen Morphium-Dosierer, sagte sie. Sie sagte wir.
Ich folgte dem Verlauf der Krankheit, die irgendwie einen anderen befallen hatte. Nicht meinen Vater, mit dem ich nie mehr sprach, der nie nach mir fragte und der irgendwann zum Sujet meiner Mutter geworden war.
Jetzt hörte ich wieder ihre Stimme, ihr Weinen.
„Papa ist tot.“
Und ich dachte gar nichts. Legte auf.
Dann fing ich an, die beste Flugverbindung nach Hamburg herauszusuchen.
Später ließ ich das Telefon einfach klingeln. Ich hatte es mir verdient, nicht mehr abzunehmen.