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Kapitel 4: Mexico City, 1972

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Mein bester Freund hieß Walter. Eigentlich war Walter mir nicht wirklich ähnlich. Er war strebsam und korrekt und bedächtig in allem, was er tat. Er war ein alt wirkendes Kind, und seine Mutter zog ihn auch entsprechend an. Nach einem langen Schultag sah er nicht verdreckt, ja, derangiert aus wie wir anderen Kinder, sondern eher wie ein Messdiener in seinen gestärkten, kurzärmligen, bis zum Hals zugeknöpften Hemden. Die Hosen hatten messerscharfe Bügelfalten und waren meistens zu kurz geschnitten; dadurch wirkten seine Füße im Verhältnis zum übrigen Körper — er war klapperdürr — viel zu groß. Walter stach aus der Masse der Kinder hervor. In erster Linie durch seine Erscheinung, aber, wichtiger noch, durch seine Intelligenz und seinen wachen Geist. Warum wir damals beste Freunde wurden, weiß ich nicht mehr. Vielleicht handelte es sich um eine Art Zweckgemeinschaft. Ich war in der Klasse einigermaßen beliebt und hielt meine schützende Hand über Walter, der sonst das Opfer ständiger Sticheleien gewesen wäre, und daraus zog er bestimmt seinen Nutzen. Man ließ ihn in Ruhe, weil wir als unzertrennlich galten. Was aber hatte ich von unserer Freundschaft? Wenn ich ehrlich bin, ging es mir darum, von ihm abzuschreiben. Außerdem erledigte er für mich die eine oder andere Hausaufgabe. Es erwies sich in jeder Hinsicht als vorteilhaft, einen Streber an seiner Seite zu haben. Die Lehrer redeten plötzlich von seinem positiven Einfluss, und die Eltern zeigten sich erfreut, dass ich mich nicht mehr so oft mit den schlimmsten Elementen der Klasse zusammentat. Walters Eigenschaften färbten ganz vortrefflich auf mich ab. Letztendlich jedoch mochte ich seine ruhige und ausgleichende Art, und ich war auch ein wenig stolz darauf, dass seine Noten unter meinem Einfluss ein wenig litten.

Irgendwann machte es mir sogar Spaß, gemeinsam mit ihm Schulprojekte durchzuführen. Ich versuchte, das vor den anderen nicht an die große Glocke zu hängen und beteuerte, zu den Klassenarbeiten gezwungen worden zu sein. Ich gab mich gelangweilt und machte mich sogar über Walters Ernsthaftigkeit lustig. Ich boykottierte geradezu unsere gemeinsame Arbeit vor der Klasse. Selbstverständlich war ich mir darüber im Klaren, dass ich da unsere Freundschaft verriet. Deshalb versuchte ich, wenn wir alleine waren, und das mochte ich am liebsten, mit großer Begeisterung bei der Sache zu sein. Walter ignorierte meinen Mangel an Loyalität und nahm ihn als kleineres Übel in Kauf. Immerhin besser, als ohne Grund verprügelt zu werden. So dachte ich. Ich war noch zu jung, um meinem inneren Konflikt die nötigen Konsequenzen folgen zu lassen, und wenn ich es recht bedenke, bezweifle ich, dass ich es heute besser könnte.

Einmal lud mich Walter zu sich nach Hause ein. Seine Eltern stammten aus Sachsen und waren wohl sehr früh ausgewandert. Der Vater besaß eine gut gehende Textilfabrik, und so wohnte die Familie in einem beeindruckenden Haus aus der Kolonialzeit.

Ja, klar, in diesem Haus bin ich viele Jahre später und unter ganz anderen Umständen noch einmal gewesen. Und auch da aus dem Gefühl heraus, dass sich dort etwas für mich entscheidendes und dennoch schwer zu fassendes abgespielt hat.

Aber zurück.

Bei meinem ersten Besuch war nur die Mutter da. Ein blasses Wesen mit streng zurückgekämmtem Haar und rötlichen Pickeln in einem teigigen Gesicht. Sie lief hastig in dem riesigen Haus herum, lächelte grundlos, wenn sie uns begegnete und schaffte es, mir ein klein wenig Angst einzujagen. Dann blieb sie urplötzlich vor mir stehen und fragte mich mit schriller Stimme, ob ich ein Stück Kirschtorte haben wolle. Sie zuckte mit dem Kopf nach vorne und riss die Augen auf. Ich erinnere mich noch genau daran, dass Walter mir beruhigend seine Hand auf die Schulter legte und ich mich erstaunt zu ihm umdrehte. In seinem Blick lag eine Bestimmtheit, die ich noch nie an ihm bemerkt hatte.

Ich besuchte Walter von da an öfter und lernte mit der Zeit auch die übrigen Familienmitglieder kennen. Der Vater war ein hochaufgeschossener Mann, ebenso dürr wie sein Sohn und von gelblich-fahler Gesichtsfarbe. Er sprach sehr selten und wenn es doch manchmal geschah, dass er den Mund aufmachte, konnte ich sein genuscheltes Sächsisch kaum verstehen. Die übrige Familie kicherte jedoch meistens, woraus ich schloss, dass er Humor hatte. Walters Bruder jedenfalls zitterte förmlich vor Vergnügen und murmelte seinerseits Unverständliches vor sich hin. Er hieß Peter, war ein paar Jahre älter als wir, und es fällt mir schwer, mich an ihn zu erinnern, Ich weiß noch, dass er die Angewohnheit hatte, unvermittelt aufzuspringen und geheimnisvoll zu verschwinden, wobei ihn nie jemand fragte, wo er hinwollte. Zum Glück fand die Familie selten zusammen, sodass Walter und ich uns selbst überlassen blieben. Wir verbrachten viel Zeit in einer Art Unterstand, den Walter sich im hinteren Teil des Hauses in einem selten benutzten Zimmer eingerichtet hatte. Dabei hatte er ein schweres und großes Tuch über einen Tisch geworfen und sich so eine kuschelige Höhle geschaffen, die, ausgelegt mit Kissen und bestückt mit allerlei besonderen Spielsachen, zu seinem Rückzugsgebiet wurde. Erst später erkannte ich, wie viel Walter eine derartige Enklave bedeutete. Die Tatsache, dass er mir diesen Ort zeigte, dass er durch diesen Vertrauensbeweis einen anderen, verborgenen Teil von sich preisgab, wurde von mir nie entsprechend gewürdigt.

Eines Nachmittags, wir studierten gerade das winzige, grüne Blatt, das aus einer in nasser Watte gezüchteten Mungobohne gesprossen war, steckte die Mutter überraschend ihren Kopf in unsere Höhle. Ich erschrak, Walter jedoch schrie kurz auf, sein Arm zuckte hoch, und ich dachte sofort, er würde jetzt zuschlagen, als der Augenblick auch schon wieder vorbei war. Die Mutter zog sich zurück, und Walter kroch wortlos aus unserem Versteck. Es dauerte lange, bis er wieder auftauchte und das kleine Pflänzchen in die Hand nahm, als sei nichts gewesen. An dem Tag erfuhr ich von dem verborgenen Zimmer.

Natürlich war mir schon früher aufgefallen, dass wir beim Herumtoben und Spielen einen bestimmten Bereich des Hauses mieden. Von außen gesehen war es ein Erker, der sich über beide Stockwerke erstreckte und der hinten wie ein Anhängsel des Hauses in den Garten ragte. Im unteren Teil versperrten stets geschlossene Jalousien den Blick ins Innere. Oben jedoch, im ersten Stock, hatte man die Fenster offensichtlich vergrößert und so einen großen halbkreisförmigen Glasturm geschaffen. Die Konstruktion hatte mich von Anfang an beeindruckt, zumal sie die Architektur des Hauses zugleich störte und bereicherte. Es war schwer zu erklären, aber mein Blick wanderte wie unter Zwang in die Höhe, sobald wir im Garten herumliefen. Ich glaube, ich fragte Walter immer wieder, was es mit dem Turm denn auf sich hätte, und immer wieder bekam ich eine ausweichende Antwort. Manchmal lächelte er verschwörerisch und murmelte etwas über ein geheimes Zimmer seines Vaters. Damals stellte ich mir dann vor, der Alte würde dort irgendwelche Experimente durchführen, irgendetwas Gruseliges, und ich sah ihn förmlich vor mir, wie er hinter einem riesigen Schreibtisch saß und mit seinen knochigen, braungefleckten Händen kleine Figuren aus Wachs formte, die er nachts zum Leben erweckte. Ich wollte dort hinein, doch Walter ließ sich nicht erweichen, er reagierte im Gegenteil immer unwirscher, wenn ich ihn drängte, doch endlich die Tür aufzuschließen. Die Tür blieb zu. So groß war meine Neugier, dass ich sogar meinen Eltern davon erzählte. Und da geschah etwas ganz Seltsames: Sie drucksten herum und versicherten mir, die Angelegenheit wäre harmlos, und es gäbe bestimmt eine einfache Erklärung für das Zimmer und auch für Walters Verhalten, und ich sollte mich nicht weiter in Sachen einmischen, die mich nichts angingen. Da dämmerte es mir, dass auch meine Eltern etwas verheimlichten.

An jenem Tag also legte Walter vorsichtig die winzige Sprosse in ihre kleine Nische in das Licht einer wärmenden Glühbirne zurück, und ich erfuhr mehr, als mir lieb war. Zuerst sagte er gar nichts. Er schaute mich bloß abschätzend an, kniff die Augen zusammen und fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe. Er kam mir fremd vor, versunken in Gedankengänge, an denen ich nicht teilhaben sollte, und trotzdem fühlte ich mich diesem Menschen plötzlich viel näher als sonst. Das verwirrte mich. Dann straffte sich Walters Körper, er griff sich entschlossen meine Hand und zog mich eilig aus dem Unterstand. Ich wusste sofort, wohin er mich da zerrte, als könne er es nun gar nicht mehr erwarten, meinem Gedränge nachzugeben. Seine Hand zitterte, als er die Tür aufschloss. Ich trat hinter ihm ein. Zuerst war es sehr hell, die Nachmittagssonne ergoss sich durch die riesige Glasfront in das Zimmer, dann sah ich vor mir ein Gestänge, wie das Klettergerüst auf unserem Spielplatz. Ich konnte mir das nicht erklären. An der Decke hing ein überdimensioniertes Zahnrad, und ich glaubte, auch eine Kurbel zu erkennen und zwei kranartige Greifarme, die an einem Bettrahmen befestigt waren. Ein Bettrahmen. Ein Bett! Ich wagte nicht hinzugucken; es lag tatsächlich jemand auf einer Matratze. Da wusste ich es mit einem Mal: Vor mir stand eines jener komplizierten hoch gebauten Krankenhausbetten. Aber wer lag da drin? Klein. Kein Erwachsener. Und auch keine vertraute Form. Zwei dünne Ärmchen, die mit Lederschlaufen fixiert waren. Es war ein kleines Kind, das dort gefesselt lag und das sich schlangengleich, flüssig unter einem Bettlaken hin und her bewegte. Mir wurde flau im Magen. Ich wollte mich schon wegdrehen und wieder raus, aber Walter versperrte mir den Weg. Er sah mich an, doch ich konnte seinen Blick nicht deuten. Dann packte er mich und zwang mich, wieder in Richtung Kind zu schauen. Seine Hände bohrten sich in meine Oberarme, und ich spürte eine wütende Kraft, die keinen Widerstand duldete. Ich leistete auch keinen. Ich war zu erstaunt, so voller Fragen, die ich im Augenblick gar nicht stellen konnte. Ich ergab mich seinem Willen und starrte erschrocken auf das verschrumpelte und verformte Köpfchen. Es war kein Ekel, den ich empfand, keine Furcht, es war Scham über mein Unvermögen, mich dieser Situation zu stellen. Ohne recht zu wissen warum, fühlte ich mich gedemütigt. Und Walter stand unmittelbar hinter mir, bedrohlich und erwartungsvoll. Was wollte er von mir? Ich nahm Einzelheiten in mich auf. Die Händchen, die sich ununterbrochen zu Fäusten ballten und wieder öffneten. Eine hellblaues Laken, hochgezogen bis an die Brust. Die Matratze mit einem gummiartigen Bezug, abweisend, klinisch, eingerahmt von diesem weißen, metallischen Gitter. Schließlich hörte ich das Kind wimmern, ganz leise, aber da war kein Schmerz, keine Verzweiflung in dem Geräusch, da war nur der Ton, so unmenschlich wie das Pfeifen aus einem erhitzten Wasserkessel. Ich ging näher heran, auch in der Annahme, dass Walter dies jetzt von mir erwartete. Ich beugte mich fasziniert über das Gesicht, getragen und gleichzeitig erregt von meinem plötzlichen Wagemut. Es wirkte friedlich, flach und seltsam konturlos, als wäre es auf den Kissenbezug gemalt worden. Ich verspürte den Drang, es zu berühren und war wohl gerade dabei, darüber zu streichen, als Walter mich grob zurückhielt, um mich gleich darauf eilig aus dem Zimmer zu bugsieren. Er schloss die Tür hinter sich, nun wieder bedachtsam und unaufgeregt, wie es seine Art war. Er lächelte mich sonderbar an und sagte mir, das sei sein kleiner Bruder, man könne sich das nicht vorstellen aber er sei wohl glücklich. Ja, wiederholte Walter mit verstellter, dröhnender Stimme, der sei glücklich. Ich stellte keine weiteren Fragen. Wir gingen herunter in die Küche, das heißt, ich folgte Walter etwas benommen, als er entschlossen vorging. Unten werkelte die Mutter. Der Geruch nach gekochtem Essen stieg mir unangenehm in die Nase. Sie stand mit dem Rücken zu uns, und ich sehe noch jetzt, nach all den Jahren, ihren straffen Dutt, die Bluse und den halblangen braunen Rock vor mir, die Schleife der Kochschürze, die blickdichten Strumpfhosen und die abgetretenen flachen Schuhe. Ich weiß das alles noch so genau, weil es im Nachhinein gesehen bloß der Vorspann zu einer denkwürdigen Szene war: Die Mutter drehte sich um, als wir bereits einige Sekunden im Raum standen. Sie lächelte. Doch ihr Lächeln erstarb, als sie Walters Gesichtsausdruck bemerkte. Das glaubte ich zumindest, da ich ja hinter ihm stand. Jedenfalls riss sie dann die Augen auf, fuhr sich in einer Geste schieren Entsetzens mit der Hand an den Mund, vielleicht, um einen Schrei zu verhindern und stürmte an uns vorbei aus der Küche. Erst dann wandte Walter sich mir zu. Mit einem bösartigen, fast triumphalen Grinsen und einer Gehässigkeit, die mich irgendwie mit einschloss, fragte er mich, ob ich eine Cola wolle. Wir verbrachten den restlichen Tag unter dem Tisch und redeten über alles andere. Ganz so, als sei nichts gewesen. Irgendwann holten mich meine Eltern ab, und ich schwieg die ganze Fahrt über. Was ihnen aber auch nicht wirklich auffiel.

In den darauffolgenden Wochen lud mich Walter nicht mehr so oft zu sich nach Hause ein. Vielleicht zwei, drei Mal, ich weiß es nicht mehr, aber ich fühlte mich dort nicht mehr wohl. Den Vater und Walters Bruder Peter sah ich nie wieder, die Mutter grüßte mich mit flüchtiger Unfreundlichkeit. Und sowohl Walter als auch ich sahen ein, dass hier etwas unwiderruflich vorbei war. Im Nachhinein glaube ich jedoch, dass wir damals gar nicht ermessen konnten, was an jenem Tag wirklich geschehen war, und auch nach all den Jahren fällt es mir schwer, unsere Gefühle zu verstehen. Eines weiß ich jetzt aber sicher: In mein unbekümmertes, kindliches Leben hatte sich die unangenehme, ja, dunkle Erkenntnis geschlichen, dass nicht alles gut ist.

In der Schule blieb anscheinend fast alles beim Alten. Ich schrieb weiterhin von Walter ab, und er kam unter der schützenden Hand meiner Freundschaft unbelästigt über die Tage. Aber eigentlich war das nicht mehr wirklich so. Man hatte sich langsam an Walter gewöhnt. Es gab kaum noch jemanden, der es lustig gefunden hätte, ihn zu hänseln, und als das Schuljahr sich langsam dem Ende zu neigte, sah ich seine magere, schlecht gekleidete Gestalt manchmal mit anderen in der Gruppe stehen; ganz so, als gehörte er dazu. Ich musste mir eingestehen, dass wir irgendwann nicht mehr unzertrennlich waren. Unsere Wege im Schulhof führten immer öfter in verschiedene Richtungen, und ich ertappte mich dabei, wie ich anfing, ihn mit Blicken zu verfolgen. Manchmal lief ich in seiner Nähe vorbei, in der Hoffnung, den einen oder anderen Gesprächsfetzen aufzuschnappen, wenn er sich unterhielt. Walter änderte sein Verhalten mir gegenüber, er wirkte stärker und nicht mehr so eckig, mit neuem Selbstbewusstsein erfüllt. Dann wich er mir absichtlich aus. Es kam auch vor, dass er einfach durch mich hindurch sah, mich nicht wahrnahm, mir nicht zuhörte. Aber nicht nur ich suchte verstärkt seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, seltsamerweise wurde er auch von anderen Klassenkameraden häufiger angesprochen. Er lachte mit ihnen, anders, als er mit mir gelacht hatte. Ich fühlte mich betrogen. Was wussten die anderen schon über sein Leben, über seinen kranken Bruder oder über das Turmzimmer? Er hatte es schließlich mir gezeigt. Ich war sein Freund!

Es gab Tage, da interessierte es mich nur noch, ob und wann Walter mich wieder zu sich nach Hause einladen würde. Ich verstand diese neue Situation nicht mehr, Warum verhielt er sich so abweisend, so unnahbar? Und wieso bestimmte er das? Zum Glück saßen wir im Klassenzimmer nebeneinander, und ich nutzte die Zeit, mit ihm ins Gespräch zu kommen, zwanglos und locker wie immer. Aber auch da wollte er nicht mehr so richtig, und schließlich setzte er sich sogar weg. Ich blieb alleine, sprachlos und enttäuscht.

Langsam wurde ich wütend. Ich sann auf Rache und strafte Walter von nun an mit Verachtung, tat so, als wäre er Luft für mich. Und das ging eine Zeitlang. Ich rempelte ihn sogar, unter den verwunderten Blicken meine Mitschüler, einmal an. Ich machte mir den Spaß, Schlamm in seinen Ranzen zu füllen. Doch Walter reagierte nicht. Schließlich tat ich etwas sehr Schlimmes: Ich erzählte es überall herum. Ich machte mich lustig über den kleinen verwachsenen Bruder in dem gruseligen Zimmer. Ich beschrieb das Gestänge und die Kurbeln und das komische Krankenbett. Ich machte mich lustig über das platte Gesicht, das zufriedene Sabbern und beschrieb genüsslich das anhaltende, schrille Wimmern des zuckenden Wesens. Ich lästerte über den geisterhaften Bruder und die hässliche Mutter und ihr verpickeltes Gesicht. Ich beschrieb in allen Einzelheiten die kleine Höhle unter dem Tisch und entlarvte sie in ihrer ganzen einfältigen Kindlichkeit. Ich genoss das etwas betretene Gelächter meiner Zuhörer. Ich lachte, weil ich Walter verletzen konnte, weil ich mich befreit fühlen wollte. Aber in mir loderte nur der verzweifelte Wunsch, zurückkehren zu dürfen in die Wärme einer Freundschaft, von der ich wusste, dass sie nie mehr sein würde.

Am letzten Schultag stürmte Walter in der großen Pause auf mich zu. Im Schlepptau hatte er drei oder vier seiner neuen Kumpels. Sie alle vermittelten den Eindruck von Ernst und Entschlossenheit. Mir war mulmig zumute, und gleichzeitig, für einen Sekundenbruchteil, wurde mir etwas schmerzlich klar: Walter war der Anführer der Gruppe. Mein ungläubiges Staunen fand ein jähes Ende, als mich der erste Faustschlag ins Gesicht traf. Es folgten weitere Schläge, Tritte, und ich war auf einmal hilflos einer furchtbaren Kraft ausgeliefert. Automatisch fing ich an, mich zu wehren, zurückzuschlagen. Wie von fern hörte ich das Gejohle der Schüler, die mittlerweile einen Kreis um uns gebildet hatten. Walter nahm mich in den Schwitzkasten. Seine Nase blutete. Ich sah die großen, roten Tropfen auf den Asphalt des Hofes platschen. Dann fiel ich, und Walter landete auf mir. Er schnürte mir die Luft ab. Japsend versuchte ich, mich zu befreien, aber ich schaffte es nicht. Ich hatte Angst und bot all meine Kräfte auf. Vergeblich. Er hatte mich fest im Griff, und ich schlug mit der flachen Hand auf den Boden. Ich wollte mich ergeben, wollte, dass es aufhört, Walters Blut ganz dicht vor mir. Er stieß mich förmlich mit der Nase hinein, ich hörte ihn keuchen, sein Unterarm bohrte sich erbarmungslos unter mein Kinn, und dann plötzlich ließ er los. Er stand auf, drehte sich einfach um und bahnte sich seinen Weg durch die Menge Schaulustiger.

Walter wechselte im nächsten Jahr die Schule und verschwand aus meinem Leben.

Am Ende fügt sich alles

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