Читать книгу Am Ende fügt sich alles - T. R. Schiemann - Страница 3
Kapitel 1: Südspanien, 2009
ОглавлениеMein Onkel Erik kam auf seltsame Weise ums Leben. Er rutschte in der Dusche aus, als niemand zu Hause war. Im Fallen riss er wohl noch den Hebel der Mischbatterie herum, sodass stundenlang kochend heißes Wasser auf seinen nackten Körper platschte. Meine Familie reagierte entsetzt, denn eigentlich war Erik immer ein Glückspilz gewesen, es passte nicht zu ihm, so schrecklich und unter fürchterlichen Qualen zu sterben. Als meine Tante Bertha ihn fand, lag er knallrot und durchgekocht wie eine Garnele in der Duschwanne. Wir mochten uns gar nicht vorstellen, wie lange es gedauert haben musste, bis er endlich tot war.
Erst im Nachhinein fand man heraus, dass ihn wahrscheinlich sofort ein Herzinfarkt dahingerafft und er bestimmt nicht gelitten hatte.
Meine Mutter sprach bei seinem Begräbnis erleichtert aus, was alle dachten:
Das Glück hatte Onkel Erik bis zum Schluss nicht verlassen.
Natürlich war es meinem Onkel im Lauf seines Lebens alles andere als gut gegangen. Beruflich hatte er nie Erfolg gehabt und auch später, als er sich selbständig machte, verliefen seine Geschäftsideen meist im Sand, und doch hielt sich hartnäckig das Gerücht, der Mann sei ein Lebenskünstler, ein Bonvivant. Sein ständiges Betteln um Geld wurde ihm als Pfiffigkeit ausgelegt, seine besoffenen Eskapaden lieferten den Stoff für lustige Anekdoten.
Dies ist vielleicht die auffälligste Eigenschaft meiner Familie: die Fähigkeit, die Realität stets so zu verbiegen, dass man einfach durch sie hindurch gleiten kann.
Mein Onkel hatte als er selbst keine Chance.
Jetzt, da ich beschlossen habe, mir ein paar Notizen zu machen, vielleicht auch ein wenig ausführlicher über einige Ereignisse aus meinem Leben zu berichten, frage ich mich, ob auch auf mir dieser Fluch der Selbsttäuschung und Verzerrung lastet. Ob ich vielleicht deswegen nie wirklich irgendwo angekommen bin.
Bin ich es jetzt? Ich will es vermuten. Tatsache ist nur, dass mein Weg mich hierher geführt hat, dass ich in diesem Zimmer an diesem Tisch sitze und die heiße Luft spüre, die durch die Balkontür herein weht.
Unten auf der Straße knattert ab und zu ein Moped vorbei, ansonsten ist es still. Es riecht nach Sonne, nach glühendem Asphalt und Meer. Ich schaue auf das Gebäude gegenüber, auf die grelle, weiße Wand, und dann wieder auf den Bildschirm meines Computers. Meine Freunde haben mich immer wieder gedrängt, doch einmal aufzuschreiben, was ich ihnen manchmal bierselig erzähle. Aber das ist letztendlich egal und auch nur ein kleiner Anstoß. Vielmehr möchte ich mir über die Vergangenheit noch einmal Gedanken machen können. Besser gesagt, ich glaube, ich möchte sie noch einmal erfühlen, zu mir holen. Dieses Bedürfnis drängt sich immer deutlicher auf. Es ist ein unterschwelliges unangenehmes Summen. Ich fing also an, Stichworte auf allerlei Zettel zu kritzeln. Und die liegen nun vor mir. Einige kann ich nicht mehr entziffern. Auf anderen wiederum stehen kryptische Sätze. Auf vielen jedoch fing ich mir wichtig Gewesenes wieder ein. Daran werde ich mich erst einmal halten. Es ist schon merkwürdig, was mir da alles eingefallen ist, was für Erinnerungsfetzen plötzlich auftauchten. Erinnerungen, die jetzt immer wiederkehren und die gleichsam an Bedeutung gewinnen. Wie die Sache mit Onkel Erik. Da war ich acht.
Ich will das alles erstmal nicht streng chronologisch ordnen, sondern eher grob in Richtung Gegenwart schreiben und sehen, was dabei entsteht.
Ich weiß nicht wo mich das hinführt. Es wird wohl das Beste sein, wenn ich mich herantaste, assoziativ vorgehe.
Heute aber werde ich warten, bis die Hitze nachlässt, später noch einmal in der „Botica“ etwas trinken, meine Freunde treffen, Zeit verbringen, bis Adriana von der Arbeit kommt.
Morgen geht es dann richtig los. Höchstwahrscheinlich.