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Kapitel 7: Südspanien, 2009

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Wir stehen in La Botica an der Theke und beklagen uns.

„Alles geht zum Teufel“, sagt José Luís. Er nimmt Haltung an. Sein Körper ist erstaunlich durchtrainiert. Er hebt sein Glas wie zum Abschied.

„Ich sehe da keine Lösung“, sagt Manuel, „aus dieser Krise kommen wir nie wieder heraus.“

Manuel ist der Dorfsanitäter, ein kleiner Mann, etwas dicklich mit einem Topfhaarschnitt aus den Sechzigern. Und er sagt jeden Tag das Gleiche. Er wiederholt diese Behauptung gebetsmühlenartig. Anscheinend spendet sie ihm Trost. Er trinkt sein Bier und murmelt: Nie wieder.

Paco, dem die Pizzeria um die Ecke gehört, sagt: „Ich habe dich gewarnt, Manuel, wenn ich noch einmal das Wort Krise aus deinem Mund höre, gibt’s eine Ohrfeige.“ Er hebt drohend die Hand. Paco ist eine elegante Erscheinung. Er sieht ein wenig aus wie Tom Selleck.

„Hey“, fährt José Luís dazwischen, „lass ihn lieber eine Runde zahlen.“

„Der hat doch noch nicht mal Geld, um sein eigenes Bier zu zahlen, du hingegen …"

José Luís ist Marineoffizier im Ruhestand und wohl der einzige der Jungs, der einigermaßen entspannt in die Zukunft schauen kann.

„Ihr seid doch wirklich Arschlöcher. Was kann ich dafür, dass ich, im Gegensatz zu euch, einen anständigen Beruf hatte?“

„Anständig?“, murmelt unsere Freundin Estrella, die sich jeden Tag nach der Schule betrinkt und die jetzt, es ist kurz vor sieben, schon wieder bedenklich vor der Theke schwankt. Wir wissen, sie wird noch eine Weile durchhalten, und dann wird ihr einer von uns helfen, nach Hause zu kommen. Im Dorf ist es kein Geheimnis, dass Estrella trinkt, dass sie auch manchmal mit irgendeinem Touristen in ihrem Bett aufwacht oder im Sommer am Strand. Aber sie ist eine gute Lehrerin. Sie fühlt sich in die Kinder ein, spricht mit deren Eltern, schlichtet öfter Streitigkeiten als der Pfarrer und erwirkt sogar, wenn nötig, einen Kreditaufschub. Erwiesenermaßen verdanken ihr mindestens drei Familien im Dorf die Tatsache, dass die Bank sie noch nicht aus ihren Häusern geschmissen hat. Wichtig ist nur, dass man Estrella vor zwei Uhr mittags erwischt. Danach widmet sie sich mit derselben Leidenschaft, die alle ihre Handlungen bestimmt, dem Alkohol. Soweit ich weiß, und ich kenne sie seit Jahren, möchte sie es nicht anders.

„Anständig sind wir alle“, sagt Paco, „sogar der Ausländer hier.“

„Vielen Dank, wir Ausländer sind auch nur Menschen“, sage ich.

„Ihr habt uns den Euro gebracht und die Schulden“, sagt Manuel.

„Auch ich, der Ausländer, habe Schulden. Ich habe nur beschlossen, sie nie zurückzuzahlen.“

„Dann hast du dich aber nicht in Spanien verschuldet, sagt Paco, denn hier in diesem paradiesischen Land hätten sie dir schon längst dein Apartment weggenommen. Hier verjähren die Schulden nie, sie bleiben bis über den Tod hinaus bestehen. Du bist bestimmt woanders auf die Schnauze gefallen, hast dein Geld bei uns versteckt und genießt unsere Sonne.“

„Erwischt“, sage ich, froh darüber, dass sie meine wahre finanzielle Situation nicht kennen. In Wirklichkeit habe ich keinerlei Geldsorgen.

Manuel schaut auf eine Olive und sagt: „Trotzdem seid ihr Ausländer für diese Misere verantwortlich.“

„Wir brachten euch aber auch die moderne Welt.“

Alle lachen.

„Scheiß auf die Moderne“, murmelt Estrella und bestellt einen Gin-Cola.

„Will hier jemand behaupten, früher wäre es besser gewesen? Hat euch jemand ins Hirn gekackt?“, schreit Paco. „Früher war auch alles zum Kotzen, nur, wir haben es nicht gemerkt. Damals, damals, ich kack auf damals! Nur für José Luís war es besser, nicht, Kumpel, das Militär und Franco, wunderschön! Der Hurensohn vermisst bestimmt die verdammte Ordnung.“

„Leck mich doch am Arsch“, sagt José Luís und schiebt sich ein Stück Schinken in den Mund.

„No pasarán“, murmelt Estrella. „Jetzt kommt alles zurück, wie eine Welle aus Dünnschiss. Es lebe der Opus Dei.“

„Da kommen wir nie mehr raus, nie mehr“, sagt Manuel.

„Die Sozialisten haben das Geld in rauen Mengen verteilt, und wir wundern uns, dass nichts mehr da ist. Spanien ist am Arsch, glücklich werden wir hier nicht mehr“, sagt Paco. „Was meinst du, Ausländer?“

„Ich denke, Glück und Angst schließen sich nicht gegenseitig aus. Man kann glücklich und ängstlich zugleich sein.“

„Du spinnst“, sagt José Luís.

„Wie, Angst?“, fragt Manuel.

„Ausländer sind nun mal komisch, und ich werde nicht müde, das immer wieder zu unterstreichen“, sagt Paco.

Ich überlege und sage dann: „Ich werde versuchen, euch das zu erklären. Es gibt da ein französischen Film mit Jean Rochefort und dieser hübschen Schauspielerin, ich weiß nicht, wie sie heißt …"

„Kack auf die Franzosen!“, schreit José Luís.

„Nein, wirklich“, sage ich, „das ist jetzt ernst. Also der Film heißt ‚Der Mann der Friseuse‘, ist schon eine Weile her. Es geht um die große Liebe und um das Glück, das sich selbst genug ist. Eigentlich um das Glücklichsein, das so unendlich ist, so perfekt, dass es nicht übertroffen werden kann. Versteht ihr? Ein Glück so groß, dass danach nichts mehr kommt. Kein Wunsch, keine Illusion, keine Hoffnung auf mehr. Etwas jenseits der unmittelbaren Gegenwart ist schlicht unvorstellbar, die Zukunft birgt kein Versprechen mehr, keine Verheißung. Jetzt ist das alles umfassende Glück.“

„Die Hölle“, murmelt Estrella.

„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall ist da dieser Typ, Rochefort, der sich in eine Friseuse verliebt und sie sich in ihn. Fortan sitzt er den ganzen Tag in ihrem Salon, versteht ihr? Er tut nichts, außer ihr zuzusehen, wie sie den Leuten die Haare wäscht, sie schneidet. Er hört die Gespräche, den Klatsch, das ganze Leben in diesem Mikrokosmos, in dem er sich immer wohler fühlt, den er immer mehr beherrscht. Sie sieht ihn da sitzen auf einem der Kundenstühle, jeden Tag, vielleicht ein paar Jahre und liebt ihn immer mehr. Sie sehen sich manchmal an, sie reden nicht viel. Irgendwann ist ihnen diese kleine Welt genug. Sie verlassen sie nicht mehr. Über dem Salon ist die kleine Wohnung, in der sie kochen und leben. Einmal feiern sie ein Fest für sich. Sie betrinken sich an den Duftwässerchen und Lotionen und lachen. Es ist die schönste Szene. Ihre Liebe ist vollkommen und wunschlos.“

„Du meinst, die saufen das Parfüm wirklich?“, fragt Manuel.

„Ja, wirklich. Sie wachen am nächsten Morgen mit einem fürchterlichen Kater auf. Es geht immer so weiter. Er sitzt im Salon, liest vielleicht mal die Zeitung, unterhält sich mit den Stammkunden, erfährt ihr Leben, braucht nicht mehr. Und auch sie ist glücklich, aber …"

„Aber was?“, fragen meine Freunde.

„Aber dann kommt bei ihr die Angst, und das wollte ich euch klarmachen. Sie erkennt plötzlich, das dauert nicht lange, die Ausweglosigkeit der Situation. Was passiert, wenn das hier endet, wenn das hier aufhört, wenn es sich auch nur ändert, und sie weiß, es wird enden, so wie alles irgendwann einmal endet. Oder wenn es sich ändert, dann nur zum Schlechten. Sie stellt sich den ungeheuren Verlust vor, den Schmerz. Der Gedanke, ihm könnte womöglich etwas zustoßen, ist ihr unerträglich, bedroht ihr schieres Dasein. Sie trifft eine klare und unwiderrufliche Entscheidung. In einer stürmischen Nacht, sie hat gerade die Kasse abgerechnet, während er vor ihr sitzt, sie anschaut. Sie sagt irgendwas, ich weiß nicht mehr, ob sie sagt: ‚verzeih mir‘ oder ‚ich liebe dich‘. Sie stürzt aus der Tür, läuft die Straße entlang durch den heftigen Regen und springt in die tosenden Fluten eines Staudamms.“

„Sie bringt sich um?“, fragt Paco entsetzt, „warum?“

„Sie ist feige“, sagt Estrella plötzlich ganz klar.

„Ja, feige ist vielleicht richtig. Aber was mich interessiert, ist diese fürchterliche Angst vor der Glücklosigkeit. Sie zieht es vor zu sterben, um nicht in dem Bewusstsein leben zu müssen, einmal das größte Glück, die größte Liebe verloren zu haben. Versteht ihr, wenn man sehr glücklich ist, dann hat man doch auch gleichzeitig immer Angst, nicht mehr glücklich zu sein. Mir ging es auf jeden Fall einmal so. Das ist lange her.“

„Da verhindert sich das Glück doch selbst“, sagt José Luís. „Das ist doch absurd.“

„Das ist das jüdisch-christliche Joch der Schuld, das wir mit uns herumschleppen“, murmelt Estrella wieder.

„Ich glaube, das liegt außerhalb der Schuld. Die Angst im Glück ist eher ein Unvermögen, vielleicht mein Unvermögen.“

„Also, wenn ich das richtig verstehe, hast du keine Angst vor dem Glück, sondern der Zustand an sich erzeugt die Angst“, fragt José Luís nachdenklich.

„Ja, so ist es. So kommt es mir allmählich vor.“

„Und behindert es dich?“

„Ich denke nur oft an diesen Film. Aber jetzt hab ich Hunger.“

„Und was hat das Ganze mit Spanien zu tun?“, fragt Paco.

„Eigentlich nichts, sage ich. Es hat eher mit Glücklichsein zu tun.“

„Na dann“, sagt Manuel, „dann lass uns noch was trinken.“

Dann kommt Adriana zur Tür herein. Die Sonne steht tief, und es wird langsam kühler. Ich bestelle ihr ein Bier, gebe ihr ein Küsschen und trinke. Ob ich nun will oder nicht, es ist tatsächlich so etwas wie Glück.

Am Ende fügt sich alles

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