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Kapitel 5: Südspanien, 2009

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„Lass mich einmal nachdenken“, sagt Adriana. Sie sieht aus dem Fenster. Draußen über dem Meer haben sich, unüblich für diese Jahreszeit, einige dunkle Wolken gebildet.

„Ich glaube, was ich da vor mir sehe, sind Dielen.“

„Holzdielen?“, frage ich.

„Ja, schmal, alt und nicht mehr ganz poliert. Sie waren rau. Ich spielte irgendwas. Auf jeden Fall war es mit irgendwelchen kleinen Figuren.“

Adriana konzentriert sich. Schiebt mit der Fingerkuppe ein paar Krümel auf ihrem Teller zusammen. Es ist Sonntagmorgen, wir trinken Kaffee und essen dazu Brötchenhälften mit Olivenöl.

„Komisch, da ist vorher nichts. So sehr ich mich auch anstrenge, eine frühere Erinnerung aus meinem Gedächtnis zu holen, es gelingt mir nicht. Es ist fast so, als wäre man urplötzlich aus dem Nichts aufgetaucht. Oder wäre von einem anderen, dunklen Ort ohne Zeit in ein bewusstes Sein gebeamt worden.“

„Das stimmt“, sage ich. „Weißt du noch mehr?“

„Ja, ich weiß zwar nicht, ob es derselbe Tag war, aber meine Eltern saßen an einem runden Tisch. Da waren auch noch andere Leute. Ich kroch unter die schwere Tischdecke, die bis auf den Boden reichte und war dann zwischen den ganzen Beinen und Pantoffeln. Es war heiß. In der Mitte stand ein rundes Kohleöfchen. Dann zog mich jemand unsanft hervor und ich spüre bis heute, dass ich sehr verschreckt war, dass dieser Ort unter dem Tisch böse war. Voller Ungeheuer.“

„Hast du dich verbrannt?“, frage ich.

„Auf jeden Fall haben noch Jahre später alle in meiner Familie darüber gelacht. Warum reden wir überhaupt über erste Erinnerungen?“

„Ist das so unüblich?“, frage ich.

„Es häuft sich. Gestern gibst du mir Geschichten über zwei Leute zu lesen, und ich fand die auch ganz interessant. Diese Eva, das kann ich noch nachvollziehen: Unsicherheit, sexuelles Erwachen, pubertäres Imponiergehabe. Nett. Aber dieser Walter, geht es um den Verlust einer Freundschaft, um Schuld?“

„Ich weiß es nicht so genau“, sage ich. „Es geht wahrscheinlich um Verrat. Und es geht um Eigenschaften, die ich an mir nicht mag.“

„Aber vielleicht möchtest du dir auch nur selbst verzeihen, und du erteilst dir Absolution, indem du es aufschreibst und darüber reflektierst, um in Zukunft ein besserer Mensch zu sein.“

„Dein Scharfsinn ist eine Eigenschaft, die ich an dir liebe.“

„Eine von meinen vielen tollen Eigenschaften“, sagt sie.

„Selbstverständlich“, sage ich.

„Also, warum erste Erinnerungen?"

„Ich versuche, mich in dem Wust von Gedanken zurechtzufinden, in denen ich gerade wühle. Ich versetze mich in die Vergangenheit und beschreibe Ereignisse, von denen ich glaube, dass sie bedeutsam sein könnten.“

„Bedeutsam für wen?“

„Für mich. Für mein Leben.“

Adriana schweigt mich an. Zieht lediglich die Augenbrauen in die Höhe. Die Sonne fällt direkt auf unseren Tisch. Die Wolken werden nicht näher kommen.

„Verstehst du? Ich spüre mich irgendwie auf.“

„Aha!“, sagt sie.

„Aha, was?“

„Verwechselst du da nicht bedeutsam mit interessant? Was dir bedeutsam vorkommen mag, ist für andere vielleicht stinkend langweilig.“

„Du meinst die Leser?“

„Natürlich meine ich die Leser. Oder soll es keine geben?“

„So genau habe ich mir das noch nicht überlegt. Im Augenblick ist das eher so als würde ich in mich hineinschauen. Ich versuche das dann zu beschreiben.“

Adriana nimmt einen Schluck aus ihrer Tasse. Sie lässt sich Zeit. Überlegt.

„Im Ernst, du musst dich entscheiden, für wen du schreibst, und ich will offen zu dir sein, ich hasse Menschen, die mir ihre Selbstfindung aufdrängen wollen. Es strengt mich zu sehr an, dauernd Interesse heucheln zu müssen.“

„Wow, du kannst einen wirklich ermutigen“, sage ich.

Adriana lächelt jetzt irgendwie liebevoll, und ich ärgere mich.

„Im Grunde ist es doch immer so, dass man sich ein Publikum vorstellt“, sage ich.

„Wirklich? Ist es nicht so, dass manch einer seinen Überzeugungen oder Taten mit der Feststellung Berechtigung erteilt, er tue das nur für sich, um jede mögliche Kritik von vorne herein zu entschärfen?“, fragt sie.

„Vermutlich.“

„Umso mehr sollte man sich immer im Klaren darüber sein, dass wichtig ist, was die Story voranbringt. Zum Beispiel die Kontinuität. Der Faden.“

„Frei nach Hemingway?“, sage ich.

„Wer hätte gedacht, dass auch du über eine gewisse Bildung verfügst. Jetzt erzähl schon deine erste Erinnerung“, sagt Adriana.

„Auch ich kroch auf dem Boden herum. Allerdings war es ein endlos langer Flur, so kam er mir jedenfalls vor. Ich spielte mit Murmeln. Weißt du noch, diese Glasmurmeln mit solchen farbigen Spiralen darin? Sie waren unterschiedlich groß. Was ich heute noch deutlich in mir vernehme, ist das Geräusch der Murmeln, die an der Fußleiste entlang über den Flur rollen. Das ist Wahnsinn: Ich höre tatsächlich noch, wie sie von mir wegkullern, leiser werden, der Ton immer heller, bis er plötzlich stoppt und ich noch eine Murmel hinterherschicke. Ich kroch durch den Flur, es war das erste Apartment meiner Eltern in Mexico City. Vorbei an zwei offenen Türen. Da war wohl ein Arbeitszimmer. Vom anderen Zimmer weiß ich nichts mehr. Der Flur mündete ins Wohnzimmer, und das kann ich genau beschreiben. Manchmal hob mich meine Mutter auf ein Sofa, das vor dem Fenster stand. Das Sofa war grün. Ich schaute genau auf die Kreuzung Insurgentes und Taxqueña und auf die Bushaltestelle, und es ist so erschreckend klar, dass ich heute Nacht fürchtete, ich könnte durch die schiere Kraft meiner Vorstellung in jene Zeit zurückgeschleudert werden und alles beginne wieder von dort an. Immer wieder.“

„Und wäre das so schlimm?“, fragt Adriana.

„Wenn ich dann wüsste, dass ich alles schon einmal durchlebt habe, wäre es phantastisch. Stell dir mal die Möglichkeiten vor. Die Fehler, die ich vermeiden könnte. Aber ahnungslos? Das Leben noch einmal?“

„Für dich wäre es ja immer das erste Mal“, sagt Adriana.

„Stimmt. Warum habe ich dann heute Nacht diese Furcht empfunden?“, sage ich.

„Vielleicht hattest du Angst, ausgelöscht zu werden, zurückgeführt in einen sehr elementaren Zustand. Das wäre wie der Tod, denn von dir bliebe nichts, du wärst auf diesem Sofa mit Blick auf diese Kreuzung wieder ein anderer.“

„Ja“, sage ich.

„Und weiter?“, fragt sie.

„Es sind wirklich meine ersten Erinnerungen, Ich muss drei oder vier gewesen sein. Da waren etwas später noch die Spaziergänge in einem kleinen Park vor dem Häuserblock. Nichts Besonderes: Ein grüner Fleck. Eingeklemmt zwischen drei großen Straßen. Meine Mutter ließ mich nicht aus den Augen. Um uns herum floss dieser unaufhörliche, laute Verkehr. An der Bushaltestelle gab es Stände, die gekochte Maiskolben anboten oder Gurkenstreifen mit Chilepulver. Ich weiß noch, dass ich immer ein Wassereis haben wollte, aber nie durfte. Und da war noch der Affe und die Hand von Alvaro Obregón.“

„Das musst du mir aber näher erklären“, sagt Adriana und gießt uns noch einen Kaffee ein.

„Der Reihe nach. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite in einem winzigen Vorgarten stand ein runder Affenkäfig, und an manchen Tagen saß dort sogar einer drin. Es war ein kleines Äffchen, ein Kapuzineraffe. Er war zweifarbig. Vorne und um das Köpfchen herum gelb und am Hintern schwarz. Wenn ich Glück hatte, fraß er gerade ein Stück Obst. Ich konnte mich nicht sattsehen und fand es zum Lachen, wenn der Affe wie irrsinnig schrie und in dem Käfig hin und her turnte.“

„Das fandest du schön?“, fragt Adriana.

„Ja.“

„Und die Hand?“

„Es gab in der Nähe ein riesiges Monument mit einem gläsernen Kasten, in dem die verschrumpelte und abgeschossene Hand von Alvaro Obregón ausgestellt wurde.“

„Wer zum Teufel ist Alvaro Obregón?“

„Ein mexikanischer Präsident in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Man errichtete das Monument an dem Ort, wo er ermordet wurde.“

„Und dabei die Hand verlor?“, fragt Adriana.

„Nein, die Hand verlor er Jahre zuvor in einer Schlacht.“

„Klingt einleuchtend.“

„Ich fand die Hand toll. Sie war noch blutverkrustet, und ein Stück Ärmel hing auch daran. Sie stand aufrecht im Kasten.“

„Noch etwas?“

„Es gab da noch ein kleines Wäldchen mit Nadelbäumen. Ich habe da öfter an einen Baum gepinkelt“, sage ich.

„Und?“

„Und, was?“

„Ist diese Geschichte nun bedeutsam oder nicht?“

„Das weiß ich noch nicht“, sage ich. „Aber sie klingt doch gut. Und ab jetzt schreibe ich, wie soll ich es sagen, richtungsorientierter.“

Am Ende fügt sich alles

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