Читать книгу Am Ende fügt sich alles - T. R. Schiemann - Страница 12
Kapitel 10: Texas und Mexiko, 1988
ОглавлениеAuf der Main Street hatte man die Ampeln ausgeschaltet. Nur das Gelblicht blinkte warnend an den Kreuzungen.
„Halte dich bloß an die Geschwindigkeit“, sagte ich.
Rodrigo hielt es nicht für nötig zu antworten. Er gab ein bisschen Gas. Er wollte mich ärgern. Sollte er doch. Ich sah zu ihm herüber und dachte: Mit der dunkelhäutigen mexikanischen Fresse und den schulterlangen, schwarzen Haaren halten sie uns bestimmt an. Und dann dachte ich: Da ist es auch egal, wie schnell er fährt.
„Arschlöcher“, sagte er jetzt.
Er meinte wohl die Gruppe Chicanos, die neben ihren aufgemotzten Autos auf dem hellerleuchteten und leeren Parkplatz der Mall herumstanden und die förmlich darauf warteten, von der Polizei verscheucht zu werden. Vielleicht hatten sie sich aber auch dort versammelt, um von anderen trüben Geschäften in der Nähe abzulenken.
Ein paar Minuten später bogen wir in die Straße Richtung Flughafen ein. Es ging vorbei an einem kleinen Golfplatz, der um diese Zeit durch Rasensprenger bewässert wurde. Auf einer etwas abseits gelegenen eingezäunten Anlage übten einige Unverbesserliche ihre Abschläge im Flutlicht.
Bald darauf tauchte der Flughafen auf. Er war nicht groß. Ein flaches Terminal mit drei Schaltern, einem Gate, einem separaten Ankunftsbereich und einer Cafeteria. Wir ließen die Gebäude hinter uns und gelangten schließlich zu einer Toreinfahrt mit der Aufschrift: „Fracht — Nur Flughafenpersonal“. In einem kleinen Häuschen saß ein Wachmann. Als er uns bemerkte, kam er heraus, näherte sich vorsichtig und schaltete seine Taschenlampe ein. Sobald er sich vergewissert hatte, dass wir es waren, ging er zurück in sein Kabuff, drückte auf einen Knopf, und das Tor glitt auf.
Wir hatten den Kerl schon bestochen, als wir vor zwei Tagen das Zeug ins Flugzeug luden. Außerdem war er vermutlich mit Rodrigo in andere Geschäfte verwickelt. Aber wer konnte das schon so genau wissen. Er würde den Mund halten, soviel war sicher.
Wir befanden uns auf dem Vorfeld, fuhren an Privatmaschinen unterschiedlicher Größe vorbei zu den Hangars. Aus einem fiel Licht. Wir parkten das Auto in der Nähe und stiegen aus. Die Nacht war feucht und sehr warm. Ganz in der Nähe hörte ich lautes Zikadengeschrei. Dann schwoll es ab. Es roch leicht nach Kerosin und Teer. Mir wurde ein wenig schummrig, und ich stützte mich am Hangar ab. Die Wellblechwand kühlte meine Handfläche und vermittelte mir ein kurzes Gefühl von Wirklichkeit. Ich wusste nicht, ob ich das gut fand.
Rodrigo blieb stehen. „Was ist los? Musst du kotzen, oder was?“
Ich wollte keinesfalls Schwäche zeigen und sagte: „Fick dich.“
Er starrte mich an und ging dann weiter. Ich atmete tief durch. Der Schwindel verflog.
Als wir durch das riesige Schiebetor in den Hangar traten, war ich zunächst geblendet. Drei überdimensionale Scheinwerfer waren auf das Flugzeug gerichtet.
Ich blinzelte, gewöhnte mich an die Helligkeit. Da stand sie. Die alte DC3. Man hatte ihr vor Jahren einen schmutzig-braunen Anstrich verpasst und damit nur notdürftig die militärischen Tarnfarben überlackiert. Ich wollte gar nicht wissen, im welchem Krieg sie bereits geflogen war, vielleicht hatte sie ja auch als Rosinenbomber bei der Berliner Luftbrücke ihren Dienst geleistet.
Die Tür hinter dem Flügel stand offen. Davor, auf einem kleinen Metalltreppchen, hockte der Pilot und rauchte. Mein erster Eindruck bestätigte sich: Er sah irgendwie verwahrlost aus. Aber er war uns wärmstens empfohlen worden.
Ein paar Wochen zuvor hatten wir Kontakt aufgenommen. Das war nicht einfach gewesen. Nach zahllosen Telefonaten wurde ein Treffen mit einer Frau, die sich selbst „La Marinera“ nannte, vereinbart.
Das mexikanische Viertel von McAllen lag im Südosten der Stadt. Nur die auf Englisch durchnummerierten Straßenschilder gaben einem das Gefühl, noch in den USA zu sein. Ansonsten sah es genauso aus wie südlich der Grenze. Flache, höchstens zweistöckige Gebäude, vergitterte Fenster, bunt angemalte Häuserwände, Graffiti auf fast jeder verfügbaren Fläche. Unzählige kleine und kleinste Läden, in denen Kleidung, Spielzeug oder Haushaltswaren auslagen. Dazu Reparaturwerkstätten und Frisiersalons mit ihren charakteristischen blauweißen Figaro-Emblemen, Tortillerias, Bäckereien und eine nach vorne offene Metzgerei. Fettig glänzende Würste und Fleischteile, die aussahen wie abgerissene, blutige Gliedmaßen, hingen an Haken. Am Straßenrand Hot-Dog-Wägelchen und Eisverkäufer. Auffallend war noch, dass tatsächlich Menschen zu Fuß unterwegs waren, Kinder hin und her rannten, man hörte sie kreischen, lachen, hörte Gesprächsfetzen, Hundekläffen und Musik. Die stille Welt der Anglos am anderen Ende der Stadt war weit, weit entfernt.
An einer Ecke stand im Schatten einer Markise, so wie es uns gesagt worden war, La Marinera und verkaufte Lose. Wir fuhren langsam mit dem Auto heran. Sie war sehr alt. Ihr weiß-gelbliches Haar war zu zwei Zöpfen geflochten. Sie baumelten auf ihrer eingefallen Brust und einer ausgeblichenen rosa Rüschenbluse.
„Hey“, rief Rodrigo und hupte.
Die Alte schaute zwar in unsere Richtung, blieb aber stumm. Auf einem kleinen Holztisch lagen ausgebreitet ihre Lose.
„Hey“, rief Rodrigo noch einmal.
Die Alte hielt ein Los hoch und sagte: „La Suerte.“
„Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte ich Rodrigo.
„Nur die Marinera weiß, wo der Pilot ist, sagt mein Cousin.“
„Wieso?“
„Ich habe es dir schon vorhin gesagt. Es ist so“, sagte Rodrigo.
„La Suerte“, kam es diesmal etwas lauter von der Alten. „In einer halben Stunde“, sagte sie gleich darauf.
Ich fand das Ganze langsam lächerlich. Ich war müde, und die Straßenszene rollte zweidimensional vor mir ab. Der bläuliche Schatten der Markise auf dem Pflaster wie ein weicher Sumpf in der Sonnenfläche. Die Alte eine verschwommene Erscheinung weit außerhalb des heißen Autos. Den Grund unseres Hierseins war für mich plötzlich nicht mehr nachvollziehbar. Ich ekelte mich. Aber jetzt schnell woanders hin zu wollen, machte auch keinen Sinn. Meine Schläfen pochten. Mein Herz schlug. Ich atmete. Ich könnte die Luft anhalten. Einfach aufhören.
Ich spürte, dass Rodrigo anfuhr.
„Was ist los“, bemühte ich mich zu sagen.
„Ich glaube, es gibt hier eine Taqueria in der Nähe, die La Suerte heißt.“
„Ein Glück“, sagte ich.
Er saß am Tresen. Wir wussten, dass er unser Mann war, weil sich sonst keine anderen Gäste dort aufhielten. Wir nahmen auf den Barhockern neben ihm Platz. Die Bedienung wischte mit einem feuchten Lappen vor uns herum. Bevor wir etwas sagen konnten, bestellte er für uns geeistes Tamarindenwasser. Nun gut, dachte ich.
Der Mann drehte sich mitsamt Barhocker um 180 Grad und hob sein Glas. Wir tranken. Ich glaube, Rodrigo war genauso erstaunt wie ich. Wir sahen uns mit einer ausgemergelten Gestalt konfrontiert, deren Alter schwer einzuschätzen war. Der Kopf war auffallend klein, das Gesicht von unzähligen Falten durchfurcht und irgendwie länglich. Mit den großen Ohren und den buschigen Augenbrauen erinnerte es mich entfernt an Bert aus der Sesamstraße, aber mit blondem Haardeckel. Gekleidet war er in eine Militärjacke, die an seinen Schultern hing wie an einem Kleiderbügel. Seine Füße steckten in riesigen Kampfstiefeln, in die auch seine Khakis mündeten. Er leerte sein Glas, stellte es mit einer unendlich langsamen Bewegung hinter sich auf den Tresen und sagte:
„Ich bin Capitán.“
Bis auf vier oder fünf kümmerliche Exemplare waren ihm die Zähne ausgefallen. Er schnalzte mit der Zunge: „Ihr braucht einen Piloten, richtig?“
Rodrigo nickte.
Dann nickte ich auch.
Er muss uns damals wirklich überzeugt haben. Wir vertrauten ihm schließlich unser Leben an. Capitán. Ein Mann, der etliche Schlachten und Katastrophen überlebt hatte. Er wirkte mit seiner sehr ruhigen und klaren Art unverwundbar.
Er starb wenige Monate nach unserem Flug, als er in Mexiko in einen Hinterhalt geriet, an einer Schussverletzung.
Nach all den Jahrzehnten sehe ich ihn deutlich vor mir in jener Nacht in dem Flughangar in McAllen.
Er rauchte und kam uns grinsend entgegen. „Alles klar, Jungs?“, fragte er.
„Alles klar.“
„Kommt, helft mir, das Tor hier aufzuschieben.“
Es ging leichter, als ich dachte. In der Dunkelheit konnte ich die blauen Randfeuer an der Rollbahn erkennen. Dann stiegen wir in die Maschine. Bis auf eine Sitzbank auf der rechten Kabinenseite hatte man das Innere leergeräumt. In der Mitte, über die ganze Länge des Rumpfes verteilt, stapelten sich unsere festgezurrten Kisten.
Capitán ging gleich nach vorne durch ins Cockpit. Er setzte sich Kopfhörer auf und sprach über Funk mit dem Tower. Rodrigo stand noch unschlüssig herum. Ich hatte mich in einen der unbequemen Sitze an der Seite gezwängt. Wir warteten. Nach einer Weile ging ein kleiner Ruck durch die Maschine. Ich merkte, dass wir langsam aus dem Hangar gezogen wurden.
„Hey, einer von euch sollte mal seinen Hintern nach vorn bewegen“, rief Capitán.
Rodrigo zuckte gleichgültig mit den Schultern. Ich fragte mich, ob seine Gelassenheit wohl gespielt war, aber andererseits hatte er sich nie durch besonderes Temperament hervorgetan.
„Hier neben mich“, befahl Capitán. „Und lass die Finger von der Steuerung.“
„Ich werde den Teufel tun“, sagte ich und starrte auf die Instrumententafel. Mir fiel auf, wie eng es hier war. Ich versuchte, die Pedale im Fußraum nicht zu berühren. Ich hatte das Gefühl, in einem Kleinwagen mit gedrungener Motorhaube zu sitzen, die geteilte Windschutzscheibe unmittelbar vor mir. Aus dem Seitenfenster konnte ich den rechten Propeller sehen, der jetzt begleitet von zwei oder drei Fehlzündungen zum Leben erwachte.
„Schieb das Fenster ruhig auf und atme den köstlichen Duft ein“, schrie Capitán in den Krach der Motoren.
Der linke Propeller lief jetzt auch.
Das Fahrzeug, das uns herausgezogen hatte, entkoppelte und verschwand.
Capitán drückte sachte einen Hebel nach vorn und wir rollten. Es ging zügig, wir waren das einzige Flugzeug auf dem Rollfeld. Ich spürte jede Fuge im Beton. Es klapperte blechern. Capitán drehte an diversen Knöpfen. Dann sagte er noch etwas in sein Mikro, aber ich hörte nur ein immer lauter werdendes Dröhnen, als er den Hebel noch weiter vorschob und mit großem Schwung auf die Startbahn einlenkte.
Mir kam es endlos lange vor, bis die Maschine endlich die Nase hob und in den schwarzen Himmel eintauchte. Wir stiegen nicht steil hoch, eher in einem sehr flachen Winkel. Unter mir flogen Straßenlaternen und ein paar angestrahlte Werbeflächen bedrohlich nah vorbei. Ich konnte sogar Mezquitesträucher und Kakteen erkennen, die unsere Scheinwerfer für eine Sekunde aus der Nacht rissen.
Schließlich drosselte Capitán die Schubkraft. Der Höhenmesser zeigte 1200 Fuß.
Erstaunt bemerkte ich die heiße Luft auf meinem Gesicht und schloss das Seitenfenster. Es wurde sofort leiser. Capitán grinste mich zahnlos an und sagte:
„Wir fliegen jetzt westlich auf US-Territorium immer der Interstate 2 entlang Richtung Mission, La Joya und verabschieden uns pünktlich von dem Kontrollpunkt in Harlingen. Dann drehen wir südöstlich und überqueren die Grenze nach Mexiko, bis wir auf die Autobahn 40 Monterrey-Reynosa stoßen. Der folgen wir weiter südöstlich etwa eine Dreiviertelstunde mit 145 Knoten, bis wir das Funksignal empfangen. In McAllen habe ich als Zielflughafen Monterrey International angegeben. Sobald wir uns in mexikanischem Luftraum befinden, melde ich mich und sage wir wollen zu einem Sportflughafen in der Nähe von Monterrey. Ich glaube nicht, dass wir die besonders interessieren, zumal wir in unkontrolliertem Luftraum fliegen.“
„Wie hast du denn die Fracht deklariert?“, fragte ich.
„Gefälschte Papiere. Aber dicht an der Wahrheit. Elektrogeräte und so. Die Amerikaner kümmern sich nicht wirklich darum, was ihr Land verlässt. Umgekehrt ist das sehr viel schwieriger.“
Es war eine klare Nacht. Der fast volle Mond hing über der kargen Landschaft.
„Da ist sie ja schon“, sagte Capitán.
Die Interstate 2 war deutlich erkennbar als ein schnurgerades Band, dunkler als die blasse und sandige Erde zu beiden Seiten. Zwei Autos fuhren weiter vorne Richtung Westen. Es hatte etwas Beruhigendes, sie dahingleiten zu sehen. Kleine leuchtende Punkte, die sich beharrlich ihren Weg bahnten. Wir ließen sie schon bald hinter uns.
„Wir könnten uns jetzt eine Weile unterhalten“, sagte Capitán.
„Worüber?“
„Na über euch, ihr Clowns!“
„Wie meinst du das“, sagte ich und versuchte meiner Irritation Ausdruck zu verleihen, was bei dem hohen Geräuschpegel in der Kabine ziemlich schwierig war.
„Na, ihr seid nicht unbedingt die hartgesottenen Schmuggler.“
„Wir machen nur Geschäfte.“
„Das geht auch einfacher. Und seien wir einmal ehrlich, was bleibt euch denn nach Abzug aller Kosten noch? Ich und meine alte Kiste hier sind schließlich nicht billig.“
„Es bleibt genug“, sagte ich, obwohl ich es nicht wusste und es mir eigentlich völlig egal war. Rodrigo hatte auf mich eingeredet und praktisch dazu getrieben mit meinem kümmerlichen Rest an Geld hier mitzumachen. Ich kannte zwar den Inhalt der Kisten hinten, schließlich hatte ich ihn ja mitfinanziert, aber Rodrigo hatte mir nicht verraten, wer der Endabnehmer war. Angeblich zu meiner eigenen Sicherheit. Ich fragte nicht weiter nach. Aber das ging Capitán alles nichts an.
„Ich mach das ja nicht zum ersten Mal. Ich rechne das alles so für mich durch, und am Ende komme ich so auf zwanzig- bis dreißigtausend Dollar Reinverdienst.“
„Na und?“
„Der ganze Aufwand für so ein Trinkgeld? Wozu?“
„Schnell verdientes Geld“, sagte ich.
„Du siehst nicht so aus, als würdest du an Geldknappheit leiden.“
„Woher willst du das wissen?“
„Ich rieche das. Vielmehr gesagt, ich rieche Geld, und du stinkst schon fast danach.“
„Beschränke dich lieber auf das Fliegen“, sagte ich. Ich war das gebrüllte Gespräch leid. Ich wollte nicht über Antworten nachdenken müssen. Ich wollte nur, dass Dinge geschahen und Zeit vernichteten. Je schneller, desto besser. Aber Capitán redete weiter.
„Was ist mit deinem Geschäftspartner?“
„Er ist ein Freund.“
„Wie auch immer. Was ist mit ihm?“
„Nichts, verdammt.“ Ich wurde noch lauter. Capitán antwortete nicht, und ich merkte, dass wir nach links abdrehten. Vor uns die Lichter von vereinzelten Siedlungen.
Die Maschine ruckelte, als wir in leichte Turbulenzen gerieten. Capitán zog gleichzeitig nach oben, bis der Höhenmesser bei 1800 Fuß stehenblieb.
„Warum steigen wir?“, fragte ich.
„Ist besser an der Grenze. Hilf mir bei der Trimmung!“
„Spinnst du? Was ist Trimmung?“
„Beruhige dich, war bloß ein Scherz. Ich flieg das Ding schon alleine, obwohl …"
„Obwohl was?“
„Na ja, bei dem Wetter ist das kein Problem.“
„Und sonst?“
„Die Kleine hier wurde für zwei Besatzungsmitglieder konzipiert.“
„Beruhigend!“
Capitán lachte.
Ich schaute durch das Seitenfenster. Nur noch vereinzelte und flackernde Lichtpunkte.
„Und die Grenze?“, fragte ich.
„Die ist hier nur ein Zaun, kaum erkennbar. Aber wenn du Glück hast, siehst du die Mexis wie die Hasen durchs Unterholz hoppeln. Immer Richtung Norden, Amigos!“
„Ich bin auch Mexikaner“, sagte ich, und es klang in dem Augenblick selbst für mich unglaubwürdig.
„Na sicher“, sagte Capitán.
Ich dachte darüber nach, was ich jetzt, in diesem Augenblick, fühlen müsste. Jetzt, da wir in die mexikanische Nacht hineinflogen. In mein Zuhause sozusagen. Veränderte sich etwas? Die Konsistenz der Luft? Wurde die Dunkelheit undurchdringlicher, oder empfand ich Trost, Geborgenheit? Stiegen die aztekischen Gottheiten aus ihren Lava- und Obsidiankammern zu mir empor? Kamen sie mir nah mit ihren jahrtausendealten Fratzen? War der heiße Wind, der an der Außenhülle des Flugzeugs vorbeistrich, in Wirklichkeit ihr toter Atem? Hießen sie mich willkommen? Ich sah nur das leere, mondblasse und endlose Land unter uns. Ich hörte, wie Capitán unsere Position durchgab. Ich hörte die Motoren, deren Vibration in mich überging.
Aber wohin kehrte ich zurück? Was war hier noch von mir übrig? Von meinem anderen Leben? Ich konnte mir nichts vorstellen, und so sehr ich mich bemühte, blieben die Erinnerungen an meine Kindheit, an früher, hier fern und ohne Tiefe. Bilder, die ich kurz im Vorbeigehen betrachtete und deren Bedeutung sich mir verschloss. Nur Claudia blieb deutlich. Und unsere Zeit in Mexiko. Die paar Orte, die ich ihr gezeigt hatte. Einige Hotels und einige Restaurants. Viele Stunden im Auto. Straßen. In dunkelgrüne Vegetation gestanzte Dörfer. Vulkane. Täler und trockene Flussbetten und Felswände, in die sich die Sonne brannte. Und der Himmel, der immer weiter, mächtiger war als alles andere. Der Raum, in dem wir uns bewegten, hatte mich erfüllt. Ich war stolz gewesen, und auch meine Liebe hatte sich ausgedehnt in jede Schlucht, in jeden Stein. Das sah ich plötzlich vor mir: Steine am Wegrand, im Rückspiegel immer kleiner werdend, um schließlich ganz zu verschwinden. Und dann hörte ich auf, daran zu denken, wollte nicht mehr. Versuchte die Vorstellung von Claudia wegzudrängen. Ich riss die Augen auf, die ich wohl vor einer Weile unbewusst geschlossen haben musste und zwang ihr Gesicht in die beleuchtete Instrumententafel, in den länglichen Kopf von Capitán, zwang mich in die Gegenwart, bis das Gesicht verschwand.
Capitán öffnete, schloss den Mund, redete wohl.
„Was?“, fragte ich.
„Mexikaner. Ich habe es dir doch gerade gesagt, Mann, hörst du denn nicht zu?“
„Nein.“
„Also noch einmal. Ich hatte mal einen Co-Piloten, im Krieg, 69, saß hinter mir. Wir flogen so eine Maschine, eine Bronco, nagelneu. Kennst du die? Egal. Tolles Ding, zweimotorig, schnell, konntest unglaubliche Sachen mit ihr machen, Raketen abschießen, mit fast 300 Meilen pro Stunde knapp über die Baumkronen jagen und überall starten und landen. Wahnsinn, ganz anders als diese Mühle hier. So, die Bronco hatte wie gesagt zwei Sitze hintereinander. Und der Mexi saß hinter mir, und ich sagte immer zu ihm, ich müsste schon genug darauf achten, nicht von den verdammten Vietcong abgeschossen zu werden und könnte nicht auch noch einen beschissenen, bewaffneten Greaser hinter mir im Auge behalten. Treviño hieß er. Hat mir einmal das Leben gerettet, als ich eine Kugel einfing und im Cockpit ohnmächtig wurde. Brachte mich auf den Boden zurück. Hatte wirklich Eier, der Kerl.“
„Klar“, sagte ich. Mir ging Capitán mächtig auf die Nerven. Ich wollte sein Geschwätz nicht hören und wandte mich demonstrativ ab.
„Ist ja gut, ich halt ja schon den Mund. Ich muss schon sagen, ihr beide, du und dein wortkarger Kumpane, ihr seid wirklich schlechtgelaunte Vögel.“
„Wie auch immer“, sagte ich.
„Dort sieht man schon Monterrey flackern. Wir verlassen jetzt die Autobahn 40 und drehen nach Süden. Laut euren Positionsangaben müssten wir in ungefähr zwanzig Minuten den Zielort erreichen. Du gehst jetzt nach hinten, siehst zu, dass dein Kumpel sich anschnallt und kommst dann wieder nach vorne, kapiert?“
„Zu Befehl“, sagte ich und zwängte mich aus dem Sitz.
Rodrigo war erstaunlicherweise eingeschlafen. Ich tappte mit zwei Fingern auf seine Schulter. Ohne einen Muskel zu verziehen, wachte er auf. Vielmehr gesagt, wechselte er völlig bewegungslos von einem Zustand in den anderen. Seine schwarzen Augen schauten mich ausdruckslos an, und ich fragte mich, wie schon so oft, wie er mich wahrnahm. Wir kannten uns jetzt vielleicht etwas über ein Jahr. Was war ich für ihn, für seine Frau? Ein Freund? Eine zufällige Bekanntschaft? Nichts? Warum wollte er mich dabei haben?
„Wir sind bald da“, sagte ich.
„Gut“, sagte er.
Ich verschwand wieder ins Cockpit.
Dort spürte ich schon, dass die Maschine langsamer wurde und wir stetig absackten.
„Wir sind jetzt auf 500 Fuß“, sagte Capitán nach einer Weile. „Bald werden wir die Landebahn sehen.“
So sehr ich mich auch anstrengte und in die Nacht hinausstarrte, konnte ich außer einer fahlen Wüstenlandschaft nichts erkennen.
„Vorne links, du Idiot“, sagte Capitán.
Und da sah ich sie: Ein schnell näher kommende Lichtquelle, die sich bald als die Fernlichter mehrerer Autos entpuppte. Capitán schaltete nun seinerseits unsere Landescheinwerfer ein. Unten wurde kurz auf- und abgeblendet. Capitán verringerte die Höhe auf 250 Fuß. Auf beiden Seiten der improvisierten Landepiste flammten jetzt Signallichter auf. Offensichtlich würden wir auf nackter Erde ausrollen müssen.
„Ich drehe jetzt eine Platzrunde. Vergewissere mich, ob wir genügend Landestrecke haben und ob sonst alles in Ordnung ist“, sagte Capitán, drückte die Maschine noch weiter herunter und raste die Piste entlang. Dabei zählte er laut bis fünfzehn und zog nach dem letzten Signalfeuer hoch.
„Reicht höchstwahrscheinlich. Nach meiner Schätzung haben wir ungefähr tausendfünfhundert Meter.“
„OK“, sagte ich.
Nun flogen wir in einer weiten Linkskurve noch einmal über das Areal. Ich bemerkte Bewegung unten. Man hatte zwei Pick-Ups schräg positioniert, so dass sie jetzt den Anfang der Rollpiste mit ihren Scheinwerfern ausleuchteten.
Capitán bediente die Seitenruderpedale, zog und drehte gleichzeitig am Steuergriff und hantierte an den Schalterarmaturen, und ich wunderte mich, dass er dieses Flugzeug überhaupt alleine fliegen konnte. Einfach schien das jedenfalls nicht. War er während des bisherigen Fluges sparsam und kontrolliert in seinen Bewegungen gewesen, so wirkte er jetzt etwas hektisch. Ich hingegen kam mir reichlich nutzlos vor.
Dann wurde es wieder ruhig. Ich sah die Landebahn direkt vor uns.
„Ich lasse das Fahrwerk raus. In drei Minuten sind wir unten“, sagte Capitán.
Wir wurden noch langsamer. Ich hatte das Gefühl, in der Luft anzuhalten und hörte den Fahrtwind auf die Landeklappen treffen. Es sah so aus, als wollte Capitán direkt in die Autos krachen, ich spannte unwillkürlich die Nackenmuskeln an, dann setzten wir unsanft auf, prallten ab, bremsten so stark, dass ich in die Sicherheitsgurte gedrückt wurde, und rollten schließlich holpernd bis zum Stillstand.
Rodrigo hatte schnell die Tür hinten geöffnet. Ein kurzer Sprung aus dem Flugzeug, und wir standen da in dieser leeren, schwülen Nacht. In der Luft noch salzige Spuren des nahen Golfes. Wir warteten. Capitán lehnte lässig am Rumpf und zündete sich eine Zigarette an. Wir schwitzten. Zwei Pick-Ups und ein Kleinlaster näherten sich mit großer Geschwindigkeit, stoppten kurz vor uns und hüllten uns in eine Staubwolke. Sechs Männer sprangen von den Ladeflächen. Zwei von ihnen trugen Gewehre. Dann stieg offensichtlich der Boss der Crew aus.
„Ich bin Cuadrón“, stellte er sich vor. „Meine Männer laden jetzt das Zeug aus und kontrollieren die Ware. Wenn alles stimmt, bekommt ihr dann euer Geld.“
Der Kerl sprach langsam. Er sah uns abfällig an. Sein Auftreten, seine ganze arrogante Art gefielen mir nicht.
„Ich will das Geld sehen“, sagte ich gereizt und spürte Rodrigos Hand auf meiner Schulter.
„Alles zu seiner Zeit“, sagte der Kerl. Er wirkte im Licht der Autoscheinwerfer, die ihn von hinten anstrahlten und uns blendeten, größer, als er vermutlich war. Er trug ein weißes langärmeliges Hemd, das ihm über die Hose hing. Ich erkannte sein Gesicht nur undeutlich, mir fiel jedoch der Schnurrbart auf, der sich im Stil mongolischer Kriegerfürsten an den Mundwinkeln nach unten bog. Und überhaupt sah der Kerl asiatisch aus.
„Jetzt oder gar nicht“, sagte ich, um ihn zu ärgern.
„Es ist schon in Ordnung. Es war so ausgemacht, er inspiziert das Zeug, wir kassieren, wir hauen ab“, sagte Rodrigo. Der Druck seiner Hand auf meiner Schulter verstärkte sich.
Capitán lehnte jetzt nicht mehr am Flugzeug, er trat ein paar Schritte zur Seite und blickte sich mit erhöhter Wachsamkeit um.
„Klar, aber ich traue dem Idioten nicht, wieso sind die bewaffnet?“, sagte ich.
Der Kerl hob lediglich die Augenbrauen und schwieg. Ich glaubte in seinem Blick auch noch Verachtung zu erkennen.
„Lass die Leute ihre Arbeit machen“, sagte Rodrigo warnend, aber ich war bereits an einem Punkt jenseits der Vernunft angelangt.
Einen endlosen Augenblick lang standen wir alle unschlüssig herum. Alle schauten auf mich.
Plötzlich stieg in einem Teil von mir ungeheure Wut hoch. Und ich sage es so, weil es wirklich so war: Während ich immer aggressiver wurde, konnte ich mich geradezu selbst dabei beobachten. Ich empfand meine Wut als einen absonderlichen Klumpen in meinem Inneren, als eine Art fremdes Geschöpf, das langsam von mir Besitz ergriff. Und ich ließ es zu. Obwohl ich wusste, dass ich diesem Sog nicht hilflos ausgeliefert war, ließ ich es zu. Stürzte mich hinein.
„Ich verhandele nicht mit dummen Arschlöchern wie dir“, hörte ich mich sagen. Ich riss mich von Rodrigo los, der mich noch aufhalten wollte, und schritt auf den Kerl zu und dachte an nichts und fühlte mich wunderbar befreit.
Der Kerl rührte sich nicht, und ich ließ mich von meiner Wut leiten, von einem Hass, der sich völlig irrational und geballt gegen diesen Mann richtete, den ich vor wenigen Minuten noch gar nicht gekannt hatte.
Dann spürte ich den Schlag hinter meinem Ohr. Da war kein Schmerz, und mir war auf einmal völlig klar, dass ich nur darauf gewartet hatte, dass ich in den letzten Sekunden bloß einen vorherbestimmten Ablauf von Ereignissen nachgespielt hatte.
Dann kam der zweite Schlag. Der Gewehrkolben traf meinen Brustkorb. Ich knickte weg.