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Kapitel 11: Südspanien, 2009

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Adriana ist wie immer sehr früh aufgestanden. Sie fährt ungefähr eine Stunde zur Arbeit, und ich bin mir mittlerweile nicht mehr so sicher, ob es richtig war, mir dieses Apartment zu kaufen. Aber es ist schön. Und vom Balkon aus sieht man das Meer. Und, ja, die Seeluft tut gut.

Aber es sind auch zwei Stunden täglich im Auto. Zwei Stunden. Ich hätte auch näher an ihrer Arbeit etwas kaufen können. Adriana stört das alles nicht so sehr. Sie liebt ihren Lehrerjob, und sie ist glücklich hier, und die Fahrt nutzt sie zum Lernen. Sie hat sich letzte Woche die Hörbuchfassung von Thomas Manns „Tod in Venedig“ angetan, auf deutsch. Sie will sich, wie sie sagt, an die Melodie der Sprache gewöhnen. Sie gibt zu, wenig verstanden zu haben.

Wenn ich es recht bedenke, bin ich es, den manchmal Zweifel an unserer Lebensführung überkommen. Deswegen wird es immer wichtiger, dass ich gegen ein schleichendes Gefühl der Überflüssigkeit anschreibe.

Heute soll es jedoch sehr heiß werden. Der Levante hat in der Nacht zuerst zögerlich angefangen zu blasen und dann immer mehr an Kraft gewonnen. Jetzt ist der Morgenhimmel diesig vom Staub ferner, östlich gelegener Wüsten und meine Selbstdisziplin auf dem Nullpunkt.

Es ist schon länger her, dass ich in der Gegend um Cabo Roche unterwegs war, und ich denke, heute ist ein guter Tag, um dorthin zu fahren und ein wenig nachzudenken. Vielleicht aber auch, um einige bewusst aufgeschobene Erinnerungen zuzulassen.

Mein winziges japanisches Auto hat keine Klimaanlage, ich muss also das Fenster herunterlassen und mich dem Wind aussetzen, der mit voller Wucht hereinweht und dabei einen dumpfen Unterdruck erzeugt. Es dauert eine Weile, bis ich die riesigen Hotelanlagen und Golfplätze hinter mir gelassen habe und den einigermaßen unverbauten Küstenstreifen erreiche. Natürlich stehen auch dort vereinzelte Ferienhäuser von Leuten, die genug Einfluss oder Geld haben, um geltende Bestimmungen zu umgehen, aber im Großen und Ganzen überwiegt tatsächlich die Natur. Kleine Pinienwälder, die fast bis an den Strand reichen, einige Kakteen, viel rötliche Erde, krummgewachsene wilde Pistazien und allerlei sonstige hartgesottene Gräser. Ich parke das Auto vor einem kleinen heruntergekommenen Haus mit einem zerstörten Wintergarten, das vor nicht allzu langer Zeit ein Fischrestaurant beherbergte. Neben der vergitterten Tür hängt noch ein Schild: „Es gibt frittierten Fisch“.

„Jetzt nicht mehr, Baby“, sage ich laut in den Wind. „Jetzt nicht mehr.“

Ich finde schnell einen ausgetretenen Pfad, der eine Böschung hinunter führt und gehe bis ans Wasser. Hier weht es noch stärker. Eine neblige, dünne Decke aus Sandkörnern pfeift über den Strand. Es sticht an meinen nackten Knöcheln. Ich beuge mich in den Sturm und blinzele in das gleißende Licht, muss aber sogleich schützend die Hand vor die Augen heben. Ich drehe mich um, so geht es besser. Das Meer ist aufgepeitscht. Das Geräusch der sich brechenden großen Wellen dringt verschleiert zu mir, verklingt im unentwegten Wind. Es hilft nichts. Ich drehe mich wieder um, senke den Kopf und kämpfe mich voran. Ich möchte zum Leuchtturm und zum kleinen Yachthafen. Dort ist es geschützter, dort finde ich eine Bar und ein Bier. Und außerdem habe ich das wunderbare Gefühl, allen Widrigkeiten zum Trotz auf ein Ziel hinzusteuern.

Ich muss dann doch länger laufen als geplant. Der kleine Laden mit den groben Holztischen und den Sonnenschirmen, den ich angesteuert habe, ist nämlich pleite. Im Hafen liegen nur ein paar Fischerboote, und die Mole ist Abstellplatz für rostende Anker und Ketten. Ich höre das blecherne Scheppern von Flaggenleinen an flaggenlosen Masten. Weit und breit kein Mensch.

Ich gehe also weiter die Landstraße entlang hügelaufwärts, durchquere ein Feld mit wilden Olivenbäumen, die den Wind etwas abhalten und stoße schließlich wieder auf die Straße und auf ein Restaurant im Cortijo-Stil, in dem ich schon einmal mit Adriana Muscheln gegessen habe. Ein paar knorrige und sonnengegerbte Bauern stehen am Tresen und versuchen, den in voller Lautstärke laufenden Fernseher zu überschreien.

Ich bestelle ein Bier. Das Mädchen hinter dem Zapfhahn lächelt mich freundlich an und stellt noch ein Schälchen mit eingelegten Oliven vor mich hin.

Es wird ein Fußballspiel übertragen. Der Sportreporter kommentiert jeden Spielzug mit großer Begeisterung. Mir ist in letzter Zeit aufgefallen, dass immer mehr Spiele gezeigt werden. Selbst unbedeutende Begegnungen drittklassiger Vereine, für die sich früher keiner wirklich interessierte, werden übertragen. Adriana meint, die Häufigkeit gesendeter Sportveranstaltungen stehe in direktem Verhältnis zu der eskalierenden Wirtschaftskrise. Vermutlich hat sie Recht.

Ich bestelle ein zweites Bier und verziehe mich auf die Veranda. Der Levante treibt Plastiktüten und Papierfetzen über den verlassenen Parkplatz. Die altersschwachen Mopeds der Bauern stehen direkt unten an der Treppe wie dürre Klepper, die gemeinsam Schutz suchen. Geflochtene Körbe voller Pinienzapfen hängen wie Satteltaschen an den Gepäckträgern.

Stimmungsmäßig bin ich noch ganz in der Nacht, in der Nähe von Monterrey, über die ich gestern geschrieben habe. Ich kann meinen leichtsinnigen Wutausbruch heute nicht mehr so richtig nachvollziehen. Ich setzte mich und meine Begleiter einer großen Gefahr aus. Ein zutiefst eigennütziges Verhalten. Aber was hatte ich bezweckt?

Ich versuche, mich zurückzuversetzen: Man warf mich unsanft auf die Ladefläche eines Pick-Ups. Ich hatte nicht wirklich das Bewusstsein verloren. Vielmehr schwebte ich in einem sehr schmerzhaften Rausch dahin. Ein Zustand fast wie das plötzliche Hochfahren aus einem Albtraum. Ich lag bäuchlings auf der warmen Metalloberfläche, konnte kleine Rostflecken erkennen, Erde, trockene Grashalme. Alles unmittelbar vor meinen Augen. Ich roch verbranntes Holz oder Kohle. Ich konnte mich nicht bewegen, nur unter Schwierigkeiten atmen und spürte quälende, scharfe Stiche auf der linken Seite. Ich versuchte, mein Gewicht zu verlagern. Es war mir nicht möglich.

Aber trotz allem, und das ist vielleicht das vorherrschende Gefühl gewesen, die Empfindung, die über die Zeit in mir überlebt hat, ging es mir gut. Ich durchlebte eine Pause, einen Augenblick Frieden. Ich war ein explodierter Körper, der sich in einer Rückwärtsbewegung wieder zusammenfügte. Das dauerte nicht lange, aber lange genug. Ich erkannte klar und deutlich, dass das geht und dass in meinem Inneren noch ein Rest von mir existierte. Als Rodrigo sich dann über mich beugte, war der Blitz erloschen, es blieb der Schmerz. Ich hörte Rodrigo in mein Ohr flüstern, er sagte: Du dummes Arschloch.

Ich ertappe mich dabei, wie ich auf das wärmer werdende Bier in meiner Hand starre. Den Bruchteil einer Sekunde lang scheint mir die Erinnerung wirklicher als dieser Augenblick.

Ein riesiger SUV fährt jetzt auf den Parkplatz des Cortijos. Ein älterer Mann steigt umständlich aus, geht um den Wagen herum und hält einer etwas jüngeren Frau die Tür auf. Der Mann trägt eine grüne Kappe und auch sonst ist alles, was er trägt, grün. Nur die Stiefel glänzen braun und teuer. Die Frau ist ähnlich gekleidet. Ihr fliegt der Rock um die Beine. Sie versucht, ihn würdevoll unten zu halten. Beide sehen aus, als seien sie der Zeitschrift „Town & Country“ entsprungen. Sie gehen an mir vorbei und nicken. Ich nicke zurück. Das Bier schmeckt lasch. Ich trinke es in einem langen Schluck aus und beschließe, mir noch eins zu holen.

Einmal hat Claudia mir gesagt, dass es nichts Schöneres gibt als den ersten Schluck Bier. Wir haben dann gleich eine Liste über wunderbare Nebensächlichkeiten aufgestellt. Ich glaube, wir kannten uns noch nicht lange, es muss also irgendwo in Hamburg gewesen sein. Ich weiß es nicht mehr. Und die Liste? Regen gehörte dazu. Regen, der an einem dunklen Herbsttag gegen ein Fenster prasselt.

Mit nackten Füßen an einem sehr heißen Tag über kühle Fliesen laufen.

Der Geruch von Zuhause. Der Augenblick, wo man die Tür öffnet, vielleicht nachdem man ein paar Tage nicht da gewesen ist. Es riecht nach Leere, die einen Willkommen heißt. Nach Staub und Nacht und Stille und irgendwie nach einem selbst. Claudia hörte gar nicht mehr auf, mir solche Glücksmomente zu beschreiben.

Wo waren wir nur gewesen?

Mein drittes Bier perlt ganz vorzüglich.

Ich denke an Rodrigo, der jetzt irgendwie mein Freund ist.

Claudia und ich haben ihn und seine französische Frau Natalie in McAllen kennengelernt. Sie besuchten unsere Galerie, in der Claudia einige Bilder von sich ausstellte. Ich war damals sehr stolz. Die Bilder waren wirklich beeindruckend, keine Großformate, handlich, und sie verkauften sich gut. Besonders die Rentner aus New Jersey oder Cleveland, die hier überwinterten, fanden Gefallen daran. Claudia hatte eine Phase. Sie sammelte Navajo-Schmuck, den wir in Arizona aufstöberten, besonders die silbernen Ketten mit den Türkis-Einlagen. Die malte sie dann ganz in der amerikanischen Tradition des Fotorealismus ab und ließ sie aus einem eher verwaschenen Aquarellhintergrund hervorstechen. Ganz so, als hätte Georgia O‘Keefe eine superklare Einsicht gehabt, sagte Claudia.

Sie waren wirklich ein auffallendes Paar. Er groß gewachsen, elegant. Und dunkel war nicht nur seine Hautfarbe, sondern seine Ausstrahlung. Claudia mochte das natürlich sofort. Natalie war wunderhübsch, selbstbewusst, mit einem dieser makellos-ovalen Gesichter und einem Mund, der dafür geschaffen war, Worte wie tutu, fou oder ennui auszusprechen. Sie interessierten sich sofort für Claudias Arbeit. Besonders Natalie betrachtete die Bilder eingehend. Nicht in dieser blasierten Art sogenannter Kenner. Sie sagte auch nicht: Die sind aber hübsch. Sie traf Claudias Nerv. Sie mochte wirklich, was sie da sah.

„Sie ist eine der wenigen, die sich selbst vollkommen aus meinem Werk herausgehalten hat“, sagte Claudia später zu mir. „Verstehst du das?“

Vielleicht verstehe ich es jetzt. Vielleicht gelingt es mir auch langsam, mich ohne den Filter meiner eigenen Befindlichkeit einzulassen. Claudia war da schon weiter und Natalie offensichtlich auch. Und Rodrigo? Was war mein erster Eindruck?

Ich glaube, ich wollte vom ersten Augenblick an von ihm anerkannt werden. Er sagte nicht viel. Ich umso mehr, und ich ertappte mich in den ersten Wochen unserer Bekanntschaft dabei, wie ich mich manchmal in Argumentationen verrannte und vergeblich auf ein Zeichen von ihm wartete, auf ein Nicken, eine Aufmunterung. Vergebens. Sein seltenes Lächeln galt nur Natalie. Und Claudia. Es war immer so, als wären die beiden Wasser und er eine vertrocknete Topfblume.

Was für eine Rolle ich da spielte, ist mir unklar geblieben. Vielleicht waren Natalie und Rodrigo genau das, was ich brauchte. Vielleicht waren sie sogar der geeignete Nährboden für meine Verzweiflung. Vielleicht möchte ich das auch gar nicht mehr so genau wissen.

Abends sitzen wir bei Paco in der Pizzeria. Draußen tobt der Levante unvermindert weiter, und die Tische auf der Terrasse werden wohl trotz Windschutz schwer zu besetzen sein. Es ist noch früh.

„Ich war heute in diesem Restaurant, weißt du, in Cabo Roche, und habe dort ein paar Bierchen getrunken.“

„So, so“, sagte Adriana.

„Ich bin vom Leuchtturm aus dorthin gelaufen.“

„Wirklich? Wie lang hat das denn gedauert?“

„Fast eine Stunde. War etwas anstrengend, bei dem Wind.“

Wir schweigen eine Weile. Ich halte mein Weinglas gegen das letzte Licht des Tages. Ein Barolo. Rubinrot. Ölig. Ich kippe das Glas ein wenig, lasse den Wein kreisen. Atme den Duft ein. Trüffel. Sandelholz. Ein Hauch Himbeere. Mir ist bewusst, dass mich Adriana mit einem spöttischen Zug um den Mund unverwandt anschaut. Ich weiß auch, dass sie meine Darstellung einer Weinprobe nur bedingt lustig findet. Aber ich stecke fest. Mir ist nicht ganz klar, was ich ihr eigentlich erzählen will. Oder genauer: Ich möchte nicht unmittelbar mit meinen Gedanken und Gefühlen herausplatzen. Also nehme ich einen kleinen Schluck Wein, lasse ihn über die Zunge laufen. Ziehe geräuschvoll Luft über den Gaumen. Lege den Kopf nach hinten, schließe die Augen und konzentriere mich auf den Abgang.

Adriana applaudiert.

„Toll“, sagt sie.

„Ja, nicht wahr“, sage ich.

„Überzeugend.“

„Auch das Schlürfen?“

„Ganz besonders das Schlürfen. Es unterstreicht elegant deine offensichtliche Weinkompetenz.“

„Ich würde also in einer Runde arroganter Arschlöcher nicht unangenehm auffallen?“

„Im Gegenteil“, sagt sie und lacht.

Das ist Adriana. Wir können spielen. Und keinen Augenblick zweifle ich daran, dass sie mich durchschaut.

„Ich habe viel nachgedacht bei dem Spaziergang“, sage ich.

„Ich weiß“, sagt sie.

Das Restaurant ist halb voll. Es riecht, wie es beim Italiener riecht. Nach Brot, Tomate, nach Oregano und Ofen. Das ist überall so.

Paco kommt an unseren Tisch, um die Bestellung aufzunehmen. Er strahlt Energie und gute Laune aus. Aber ich kenne ihn.

„Wie läuft es?“

„Ihr seht es ja selbst“, sagt er. „Die Saison wird immer kürzer. Es sind nur noch sechs gute Wochen. Mitte Juli bis Ende August. Früher war der September sicher, und jetzt? Ein paar übrig gebliebene Madrileños. Dann Rentner, für die eine Pizza ein exotisches Gericht ist, von dem man besser die Finger lässt. Und dann noch dieser verdammte Wind.“

Uns fällt keine geeignete Antwort ein.

„Aber egal. Was wollt ihr essen?“, fragt Paco

„Was auch immer du willst“, sagt Adriana.

„Wie wäre das als Vorspeise: eine mit Zwiebeln in Olivenöl kurz angebratene Pancetta auf lauwarmem Chicorée und reduziertem Balsamico.“

„Mmhh“, sagt Adriana.

„Und als Hauptspeise?“, frage ich.

„Ich habe wunderbar frischen Seeteufel in einer Kapern- und Senfsauce, auf meiner selbst gemachten Tagliatelle.“

„Wir möchten zwei Pizza Salami“, sage ich.

„Im Ernst?“

„Hör nicht auf ihn“, sagt Adriana. „Er ist ein Idiot.“

Pacos „El Viandante“ liegt direkt an der Einfahrt zum Dorf. Die Straße führt über eine schlichte Betonbrücke und durchquert nach etwa fünfzig Metern eine Art kleine Plaza, von der sternförmig Gassen und Fußgängerwege abgehen. Von unserem Fensterplatz aus hat man einen guten Blick auf diesen dörflichen Knotenpunkt.

Die Kellnerin hat gerade etwas ungeschickt die Teller abgeräumt und ich freue mich auf ein oder zwei Orujos, da macht mich Adriana auf eine Gestalt aufmerksam, die an einer Häuserwand lehnt.

„Diego ist unterwegs“, sagt sie.

Die Gestalt trägt trotz der Hitze einen schwarzen Rollkragenpulli, Jeans und grüne Gummistiefel. Sie versucht anscheinend, sich von der Wand abzustoßen, um auf die andere Straßenseite zu kommen. Das misslingt. Immer wieder taumelt sie einen Schritt vorwärts, um gleich darauf wieder zurück zu stolpern, so als würde sie ein unsichtbares elastisches Band nach hinten ziehen.

„Soll ich ihm helfen?“, frage ich. Es ist mir unangenehm, den Mann bei seinen vergeblichen Bemühungen zu betrachten.

„Nein, lass mal, das schafft er schon“, sagt Adriana.

Jeder im Dorf kennt Diego. Jeder weiß, warum er hier ist, und jeder wundert sich, dass er noch lebt. Um seine Vorgeschichte ranken sich unzuverlässige Gerüchte. Man munkelt, dass er früher Verwaltungsangestellter im Baskenland gewesen sei. Einige wollen sogar erfahren haben, dass die ETA ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt hat, weil er die Revolutionskasse plünderte. Dann sind da noch diejenigen, die behaupten, er sei der Erbe eines riesigen Vermögens und leide zusätzlich an gebrochenem Herzen.

Diego ist, das glauben alle, schwer krank. Angeblich wurde bei ihm vor fast fünf Jahren ein Leberkarzinom diagnostiziert. Nach anfänglichen Therapien, darunter eine Chemo und eine vergebliche Operation, wurde er als unheilbar entlassen. Die Ärzte rieten ihm, seine Angelegenheiten möglichst schnell zu regeln und ansonsten die kurze Zeit, die ihm noch blieb, intensiv zu nutzen. Vor langen fünf Jahren entschloss sich Diego also, mit seinem bisherigen Leben zu brechen, seine Freundin zu verlassen und seinen Besitz in Bares zu verwandeln.

Er zog hierher und wartet seither auf den Tod.

Das erzählt man sich so. In unterschiedlichen Varianten.

„Stell dir vor, jeden Tag dieses Elend“, sagt Adriana, „jeden Tag seit Jahren trinkt er, bis er umfällt.“

Ich frage mich, ob er vorher schon getrunken hat.

Wahrscheinlich nicht so viel. Aber weil er damals sicher war, dass ihm nur noch Wochen blieben und seine Leber sowieso schon hinüber war, wollte er sich unbedingt schnell zu Tode saufen.

„Was meinst du, hat er Schmerzen?“

„Er sagt nein.“

„Wie alt ist er überhaupt?“

„Schätzungsweise Mitte vierzig.“

„Aber der Tod kommt nicht“, sage ich.

„Nein, er denkt nicht dran. Diego lebt praktisch mittellos in einer Zwischenwelt.“

Währenddessen hat sich Diego mit Schwung nach vorne katapultiert und gelangt langsam und bedenklich schwankend auf die gegenüber liegende Straßenseite. Dann verschwindet er aus unserem Blickfeld.

„Er schafft es immer wieder“, sagt Adriana.

„Er hat einen starken Willen“, sage ich.

„Vielleicht liegt darin seine Tragik.“

Paco setzt sich zu uns an den Tisch. Nur kurz, denn das Restaurant hat sich doch noch gefüllt.

„Isabelita hat übrigens die Aufnahmeprüfung für die Polizei bestanden“, sagt er.

Er schaut uns betrübt an.

„Könnt ihr euch das vorstellen? Meine Isabelita! Die konnte früher noch nicht einmal einen Ball fangen, und jetzt nimmt sie die Polizei! Was ist bloß aus diesem Kackland geworden. Kleine Mädchen als Polizistinnen und sogar bewaffnet. Soldaten mit einem IQ von achtzig. Da kriegt man doch Angst. Hauptsache, die Arbeitslosenzahlen werden geschönt. Meine Tochter mit Pistole. Vielleicht muss sie sogar für ein paar Monate in den Norden zu den verdammten Basken. Da vermummt sich die Polizei, und die Terroristen zeigen in aller Ruhe ihr Gesicht. Mir wird schlecht, scheiß auf die Sozialisten.“

„Immerhin bin ich jetzt praktisch unkündbar“, sagt Adriana.

„Gieß noch mehr Öl ins Feuer“, sagt Paco.

„Wir haben eine schwangere Verteidigungsministerin“, sage ich.

„Ach, leckt mich doch“, sagt Paco und steht auf.

Wir sitzen später auf dem Balkon unserer Wohnung. Der Wind hat nachgelassen, aber das hängt mit der Ebbe zusammen. Jetzt weht eine heiße Brise, die wahrscheinlich in den frühen Morgenstunden wieder an Stärke gewinnen wird. Vom Strand klingt ziemlich laut Musik zu uns herauf. Wir trinken noch einen Absacker.

„Was ist los?“, fragt Adriana.

„Was soll los sein?“

Sie würdigt mich keiner Antwort.

Ich bin eine Weile still. Denke an Diego, den todgeweihten Trinker. An Claudia.

„Ich weiß nicht“, sage ich dann laut.

„Hhm?“ Adriana nippt an ihrem Whiskey.

„Für Diego kommt der Tod nicht unerwartet“, sage ich.

„Ja, und?“

„Er ist ihm sozusagen vorgestellt worden. Hier ist dein ganz persönlicher Tod, sagte der Arzt. Ich lasse euch beide jetzt einmal alleine, damit ihr euch richtig kennenlernt, damit ihr euch näher kommt.“

„Du meinst, dann ist es leichter?“

„Man kann sich vielleicht besser darauf vorbereiten.“

„Aber der Tod ist doch dann schon da, er übernimmt das Leben, setzt sich hinein, durchdringt alles. Das ist doch schrecklich, da ziehe ich doch die Ungewissheit vor“, sagt Adriana.

„Ich weiß nicht“, sage ich erneut.

„Du weißt heute eine ganze Menge nicht.“

Ich bin plötzlich gereizt. Mich stört Adrianas lehrmeisterliche Art. Mich stört, wie sie sich entspannt zurücklehnt und die Eiswürfel in ihrem Glas klirren lässt. So sicher in ihrer Welt.

„Was erwartest du eigentlich von mir?“

„Ich?“, fragt sie.

„Den ganzen Abend geht das schon so. Du sitzt da, und ich habe das Gefühl, ich müsste jetzt meine Gedanken offenlegen, damit du sie benoten kannst wie die Arbeiten deiner verdammten Schüler.“

„Hör mal, du bist es, der hier herumdruckst. Seitdem du schreibst, bin ich deinen unterschiedlichen Stimmungen ausgesetzt. Der Künstler verzweifelt an der Welt. Ich hoffe, du bist noch nicht an der Schwindsucht erkrankt.“

„Das ist wirklich verletzend“, sage ich.

„Wir können uns ja im Morgengrauen duellieren. Die Wahl der Waffen überlasse ich dir. Dann hast du auch den Tod vor Augen, allerdings hast du dann vielleicht auch Pech und erwischst mich.“

„Adriana, bitte …"

„Selbstmord ist da schon sicherer. Es empfiehlt sich, einen Schierlingsbecher bis zur Neige zu leeren.“

„Du schaffst mich, ehrlich“, sage ich, und ich meine es wirklich.

Und trotzdem ärgere ich mich, denn worüber ich eigentlich reden will, ist Claudia. Ihren Tod. Bevor ich darüber schreibe. Darüber möchte ich mit Adriana reden, und ich bin wütend auf sie, dass es nicht geht.

„Es gibt da einen Film“, sage ich stattdessen, aber sie unterbricht mich.

„Kannst du nicht einmal ohne …"

„Jetzt lass mich einfach reden, geht das vielleicht?“

Adriana hebt beide Hände in einer auffordernden Geste, die heißen soll: Wenn es denn sein muss. Ich verkneife mir eine bissige Antwort und sage:

„Es gibt da einen Film. Black Robe. Er spielt im frühen 17. Jahrhundert in Kanada. Es geht um einen Jesuitenpater, der Indianer zum Christentum bekehren soll. Dazu muss er im Winter flussaufwärts zum Stamm der Huronen paddeln. Ihn begleitet eine Gruppe Algonquin-Indianer. Ich weiß das alles so genau, weil mich der Film damals wirklich beeindruckt hat. Also, einer der Algonquin, ein älterer Häuptling, hat hellseherische Fähigkeiten. Er träumt immer wieder von einem Raben, der ihm auf einer verschneiten Insel erscheint. Es ist stets der gleiche Traum. Später stellt sich heraus, dass es diese Insel wirklich gibt und dass sie tatsächlich der Ort ist, an dem er stirbt. Er hat also sein ganzes Kriegerleben seinen Tod geträumt, ohne es zu wissen. Erst im letzten Augenblick wird ihm die Ironie dieser Erkenntnis bewusst: Das Leben, der Tod, ist vorbestimmt, unsere Aktionen ändern nichts daran. Das würde einen von jeder Angst befreien.“

„Praise the Lord“, sagt Ariana.

„Ja, ich weiß, das gibt es in fast jeder Religion. Aber zu wissen, wo genau man stirbt ist doch erleichternd, findest du nicht?“

„Von welcher Zeitspanne reden wir hier? Der terminale Krebskranke in seinem Hospizbett weiß auch genau, wo er sterben wird.“

Da ist wieder Adrianas Überheblichkeit, die mir heute kolossal auf die Nerven geht.

„Glaubst du, dass Diego irgendwie von seinem Tod träumt?“, frage ich.

„Wenn ich mir seine kaputte Gestalt anschaue, sein verwüstetes und dreckiges Gesicht, dann glaube ich allerdings, dass er täglich seinen Todestraum auslebt. Außerdem ist der Rabe deiner Erzählung wirklich nichts Besonderes. Er ist in vielen Kulturen ein mythologischer Vogel, ein Bote aus dem Jenseits, ein Zukunftsflüsterer, ein Gestaltenwandler, Hugin und Munin, bla, bla.“

Adriana zerkaut die Reste eines Eiswürfels und grinst dabei:

„Ich stelle mir gerade vor, wie so ein schwarzer Rabe auf Diegos Schulter hockt und ihm tiefsinnige Orakel einflüstert, die dieser in seinem Suffkopf natürlich gar nicht verstehen kann. Na ja, anderseits sind Orakel auch nicht dazu da, verstanden zu werden.“

„Ich gehe jetzt ins Bett“, sage ich, stehe auf und lasse sie dort einfach sitzen, bevor sie noch etwas sagen kann.

„Gute Nacht.“

Ich liege wach.

An manchen Tagen ist Claudia mir fern. Sie ist weit weg, eine schemenhafte Figur auf der Reling eines auslaufenden Schiffes. Sie entzieht sich.

Dann aber ist sie plötzlich wieder hier, bei mir. Es handelt sich hierbei natürlich nicht um eine körperliche Präsenz, das wäre bedenklich. Nein, sie ist so etwas wie ein übergeordneter Bereich meiner Gedankenwelt. Eine Einflüsterin. Und mit ihr kommt diese Dunkelheit auf, der ich wahrscheinlich nie entkommen werde oder auch entkommen will. Es ist eine samtene, traurige Dunkelheit in einer Tiefe, die nur mir zugänglich ist. Ich denke da vielleicht gar nicht mehr an sie, sondern mit ihr. Öfter glaube ich, durch ihre Augen zu sehen, und die Welt, die ich dann betrachte, gehört eher ihr als mir.

An anderen Tagen gehe ich einfach zurück in die Zeit mit ihr.

Am Ende fügt sich alles

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