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K A P I T E L 1

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Ein Ort, der nicht sein darf, Anno Domini 1561

Ein schriller, animalischer Schrei riss den neunjährigen Jungen aus einem tiefen Schlaf. Was war das? Er horchte angestrengt, spürte aber nur noch das Echo, das sich anfühlte, als würde seine Haut vibrieren. Eine gequälte Seele, fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf.

Hektisch glitt sein Blick zum Bett seines Spielkameraden.

Die Erkenntnis, dass etwas ganz und gar nicht stimmte, traf ihn wie der Schlag mit einer Eisenstange. Keuchend richtete er sich auf und starrte auf die Stelle, an der Walters Bett stehen müsste. Purer Horror durchflutete ihn. Da waren eisige Finger, die nach seinem Leib griffen. Fröstelnd schlang Maximilian von Schönburg die Arme um sich. Das muss ein Traum sein. Wo ist Walter? Wo bin ich?

Er konnte den Blick nicht von der Stelle lösen, auch wenn das Grauen ihn von der Wand geradewegs anzuglotzen schien. Das Grauen hatte die Form von massiven Eisenketten und dazugehörenden Manschetten, die in der Wand befestigt waren. Dunkelbraune Flecken, die verteilt über die Wand prangten, lenkten seine Aufmerksamkeit auf sich. Sie schienen ihm eine Geschichte erzählen zu wollen. Ich will es nicht wissen!, dachte er und spürte Panik in sich aufsteigen. Gepeinigte Menschen geisterten vor seinem inneren Auge herum. Nein! Er wollte sie nicht sehen. Ich muss endlich wieder klar denken. Es stand für ihn außer Frage, dass er sich in einem Kerker befand, und es gab nur eine logische Erklärung für diesen Umstand. Und auch wenn er ziemlich verärgert war, musste er jetzt grinsen.

»Walter, dein Spiel ist aus«, rief er. Denn er war sich sicher, dass es sich nur um einen weiteren derben Spaß seines Spielkameraden handeln konnte.

Er bekam keine Antwort. Aber sicherlich würde der andere Ritterssohn gleich auftauchen und sich über ihn lustig machen. So kannte Maximilian ihn.

Wie in Zeitlupe ließ er seinen Blick durch die Zelle wandern. In der rechten Ecke stand ein Eimer für die Notdurft. Mit dem Sichten des Eimers nahm er den penetranten Gestank wahr, der sich immer mehr auf seine Lunge legte. Sein Magen rebellierte. Rasch wanderte sein Blick weiter. An der linken Wand, die noch dreckiger war als die andere, stand eine Anrichte, auf der Gerten und Peitschen lagen. Maximilian schluckte, und die lähmende Angst kehrte zurück. Er zitterte und ballte die Fäuste. Am liebsten würde ich Walter eins auf die Nase geben.

Nun stellte er auch fest, dass er nicht in dem weichen Bett seiner Gastfamilie geschlafen hatte, sondern auf einer einfachen Holzpritsche. Er spürte, wie sich Tränen in seinen Augen bildeten. Ich bin ein Ritterssohn, keiner darf sich so etwas mit mir erlauben. Missmutig wischte er die Tränen fort. Ich werde nicht weinen.

Seine Kehle brannte, und sein Mund fühlte sich trocken an. Direkt vor seiner Pritsche standen ein Hocker und ein Tisch, auf diesem stand eine Tonkaraffe. Hoffentlich ist da Wasser drin.

Als er sich erhob, spürte er einen starken Schwindel und torkelte zum Tisch. Das Wasser schmeckte nach Staub. Aber das war ihm jetzt egal. Als er genug hatte, stellte er die Karaffe zurück. Ein vergittertes Tor fing seine Aufmerksamkeit ein. Bestimmt stand Walter hinter der Ecke und lachte sich ins Fäustchen.

Was war nur vor seinem Einschlafen passiert?

Maximilian erinnerte sich, dass ihm, wie so oft in letzter Zeit, unwohl gewesen war. Anfangs hatte er es auf das Heimweh geschoben, das ihn plagte. Er vermisste seine Eltern und die heimatliche Burg so sehr. Walters Amme hatte so merkwürdige Andeutungen gemacht: »Du musst das akzeptieren. Im Moment seid Margret und du euren Eltern im Weg.«

Auch auf Nachfragen erfuhr er nichts Genaueres. Das war der Grund, dass er von einer weiteren Schwangerschaft der Mutter ausgegangen war, das hätte auch ihr Unwohlsein vor der Abreise erklärt. Was er nicht verstand, war die Tatsache, dass Grete und er so lange auswärts verweilen mussten, aber er akzeptierte den Willen seiner Eltern. Traurig dachte er an seine kleine Schwester. Es brach ihm fast das Herz.

»Arme Grete«, seufzte er.

Die Vierjährige verstand noch nicht, warum sie bei fremden Leuten waren und ihre Mama nicht bei ihr war. Sie weinte oft. Maximilian hatte versucht, sie zu trösten, so gut er es vermochte, indem er ihr erfundene Geschichten von feuerspeienden Drachen erzählte. Eines der Untiere hielte die Mutter gefangen, und ihr Vater müsse gegen den Drachen kämpfen, um seine Gemahlin zu retten, und dann wären sie wieder alle glücklich zusammen, und die Familie hätte sich dann sogar vergrößert. Grete lauschte ihm immer gespannt und stellte viele Fragen, auf die der Junge manches Mal keine Antwort fand.

Wo ist Grete jetzt? Sitzt sie allein in ihrer Kammer und ruft nach mir, weil sie wieder einmal schlecht geträumt hat?

Er erinnerte sich an die bittere Medizin, die Walters Amme ihm vorm Einschlafen verabreicht hatte. Brrr! Er schüttelte sich. Das Gebräu war so ekelhaft gewesen. Was war dann passiert? Er musste eingeschlafen sein, und dann hatte ihn dieser furchtbare Schrei geweckt. Wer hatte diesen Schrei ausgestoßen? Wirklich ein Mensch? Nie zuvor hatte der Junge so etwas gehört.

»Walther, ich bin mir sicher, dass du mich hörst. Lass mich frei!«, forderte Maximilian lauthals.

Doch zu seiner großen Verwunderung trat jemand ganz anderes anstelle des Sohnes seiner Gastfamilie an das vergitterte Tor.

Was will die denn?

Finger, die ihn immer an Spinnenbeine erinnerten, umklammerten die Stäbe.

»Plärr nicht rum, das tut meinen Ohren weh.«

Es war Walters Amme. Sie sperrte auf und stieß die Tür kräftig nach innen. Laut quietschend gab sie nach.

Maximilian spürte abermals eine feine Vibration auf seinen Armen. Er sah, wie sich eine Gänsehaut gebildet hatte. Ich muss hier raus!

Nichts würde ihn jetzt noch hier halten können. Er lief der Amme entgegen, doch das garstige Weib, das sich nur kurz gebückt hatte, um ein volles Tablett aufzuheben, versperrte ihm den Weg.

»Nein! Du kannst hier nicht raus.«

Irritiert blieb Maximilian stehen und sah sie an. Macht sie etwa bei Walthers Scherz mit?

Instinktiv wich er einen Schritt vor ihr zurück.

Das Gesicht der Frau, das immer nur Strenge zeigte, hatte sich jetzt zu einem kalten Lächeln verzogen, und er spürte im Nacken eisige Finger, die nach ihm griffen. Er zitterte, und sein Herz raste. Ich will fort! Er wich soweit es ihm möglich war zurück. Die Wand zu seiner Linken stoppte ihn. Diese Frau ist böse, das war für ihn so sicher wie das Amen in der Kirche.

Sie betrat das Verlies vollständig, stellte ein Tablett, auf dem ein Holznapf, Schreibwerkzeug und ein zusammengerolltes Pergament lagen, auf dem Tisch ab. Dann nahm sie eine royalblaue, lange Feder von dem Tablett und schwang sie durch die Luft.

Was für eine wunderschöne Feder. Nie zuvor hatte er so eine faszinierende Feder gesehen. Anhand der Länge und Größe schätzte er den dazu gehörenden Vogel als groß ein. Selbst Pfauenfedern sahen ganz anders aus. Bei den Gedanken fielen ihm die Pfauen seines Vaters ein, und der Mut kehrte zurück. Ich bin der stolze Sohn eines Ritters. Das ist nur eine Amme.

»Was wollt Ihr?«, fragte er mit festerer Stimme.

Die Amme nahm das Pergament, entrollte es raschelnd und reichte es ihm.

»Ich will, dass du einen Brief an deine Eltern schreibst. Ihr habt unsere Gastfreundschaft schon lange genossen. Es wäre schlecht, wenn sie auftauchen und euch holen wollten. Sie sollen sich doch keine Sorgen machen, während du …« Sie brach ab und tauchte mit einem teuflischen Grinsen den Federkiel in die Tinte.

Wovon redet sie? Seine Gedanken machten einen Purzelbaum nach dem anderen. Er konnte sich auf die Worte der Amme keinen Reim machen. Warum sollten seine Eltern ihn und Grete nicht abholen? Ich will doch nur nach Hause.

»Das werde ich nicht«, entgegnete er trotzig. »Ihr werdet mich aus diesem Verlies gehen lassen!« Maximilian legte seine ganze Kraft in die Forderung.

Die Amme lachte trocken und rollte mit den Augen. Wie ein unheilvoller Schatten stand sie in der Zelle.

Ihre Stimme klang gefährlich ruhig. »Du wirst sehr wohl einen Brief schreiben, den ich dir diktieren werde. Glaube es mir, du ungezogenes Balg!«

Dabei hatte sie ihm den Kiel der royalblauen Feder gegen den Hals gebohrt, sodass er erschrocken zusammenfuhr.

Trotzig schüttelte er den Kopf. »Den Teufel werde ich«, entgegnete er mutig.

In meinem Leben werde ich mir nichts von einer Amme befehlen lassen. Vor allen Dingen nicht, wenn die Amme ihn einsperrte und zu etwas zwingen wollte.

»Wie könnt Ihr es wagen? Wisst Ihr denn nicht, wer mein Vater ist? Ich werde alles Eurem Herrn, dem Ritter von Schwarzschild berichten, und dann wird er sehr böse auf Euch sein. Das wird Euch Euren Kopf kosten. Ich rate Euch, lasst mich und meine Schwester frei, dann werde ich auch nichts verraten!«

Die Amme verzog ihre schmalen Lippen zu einem bösen Grinsen und verließ ohne ein Wort die Zelle.

Jetzt war keine Zeit zu verlieren. Er musste hier raus. Ich habe nicht gehört, dass sie das Schloss zusperrte. Aber als er das Tor aufdrücken wollte, bemerkte er bitter, dass er sich geirrt hatte.

Verzweifelt rüttelte er an den Gitterstäben – ergebnislos. Mit aller Macht kehrte die Verzweiflung zurück und wies den Mut in seine Schranken.

Maximilian schrak zusammen, als sich sein Magen lautstark meldete. Wie lange hatte er schon nichts mehr gegessen? Neugierig warf er einen Blick in die Schüssel, die auf dem Tablett stand. Aus dem Eintopf ragten ihm mehr Knochen als Essbares entgegen. Trotzdem aß er gierig und achtete darauf, sich nicht an den Knochen zu verschlucken. Als die Schüssel nur noch ungenießbare Knochenteile enthielt, stellte er sie wieder auf das Tablett. Er wollte sich gerade auf seine Pritsche setzen, als die Amme wieder vor seiner Zellentür stand. Erneut grinste sie diabolisch.

Warum kann das hier kein böser Traum sein? Ich will sie nicht sehen. Krampfhaft kniff er seine Augen zu, damit ihm ihr grausamer Anblick erspart blieb.

»Sieh her, du Naseweis«, forderte ihn die Frau auf.

Tapfer beachtete er sie nicht weiter und hielt die Augen fest geschlossen, bis die Amme erneut eintrat und ihm einen Schlag mit einer Reitgerte versetzte.

Es brannte wie Feuer. Durch einen Tränenschleier sah er, dass die garstige Amme etwas in der Hand hielt. »Nein!«, keuchte er entsetzt und hatte seine eigenen Schmerzen umgehend vergessen.

Auch, wenn er es wollte, war er jetzt nicht mehr in der Lage, seine Augen vor dem Horror zu verschließen. Direkt vor seinen Augen wedelte die böse Frau mit einem von Gretes Zöpfen hin und her und lachte meckernd dazu.

»Du armseliger Wicht. Es ist mir egal, ob du ein Ritterssohn oder der Sohn eines Henkers bist. Du hast einfach kein Benehmen, und ich mag keine ungezogenen Kinder. Aber da du dich ja für so schlau hältst, weißt du sicherlich, was das hier ist, nicht wahr?«

Sie drückte ihm den Zopf fest gegen seine Wange. Maximilian biss sich vor Schmerz auf die Lippe.

»Dann weißt du auch, dass du den Brief an deine Eltern schreiben wirst, sonst wird das Nächste, was ich dir von der kleinen Margret bringe, ein Ohr sein.«

»Nein! Ich will zu meiner Mama und zu meinem Vater.«

Er wimmerte. Vergessen war der Stolz eines Rittersohnes. Der Horror war zu groß. Er war zu klein, um es mit der gemeinen Frau aufzunehmen. Aber Grete schwebt in großer Gefahr! Die Gedanken in seinem Kopf schlugen Purzelbäume. Er konnte nichts greifen und ordnen. Das darf einfach nicht wahr sein. Was macht dieses garstige Weib mit Grete? Aber er wagte es auch nicht, sie danach zu fragen. Er wollte die Antwort nicht hören, weil er Angst hatte, dass sie schlimmer war als er es sich vorstellte. Stattdessen griff er mit einem tauben Gefühl den Federkiel und kritzelte das, was die Amme ihm diktierte, auf das Blatt.

Maximilian bekam nicht mit, was er schrieb. Viel zu sehr bangte er um Grete. Er wollte zu ihr, sie wegen des verlorenen Zopfes trösten. Er wusste, wie sehr seine Schwester ihre Haare liebte. Aber die Amme riss ihm das Pergament aus den Händen, kaum dass er es fertig unterschrieben hatte. Sie schlug ihn mit dem Zopf ins Gesicht und verschwand mit der leeren Schüssel und der wunderschönen Feder aus seinem Verlies.

»Wo ist Grete?«, hörte er seine eigene Stimme, die sich fremd in der ungewohnten Umgebung anhörte. Aber das schändliche Weibsbild war fort, und er war allein mit der Angst um seine geliebte Schwester.

Die Gilde der Rose -Engelsmagie-

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