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K A P I T E L 4

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Dortmund, Anno Domini 1561

Lauert sie hier schon irgendwo? Hektisch suchte mein Blick die Umgebung ab. Mein Herz raste und ich konnte keinen vernünftigen Gedanken fassen. Es würde mich nicht überraschen, wenn Natalja siegessicher hinter einem der Brombeerbüsche hervortreten würde. Hastig folgte ich Hekate quer durch den Wald und spürte, wie Äste sich in meinem Rock verhedderten, als würden sie mich festhalten wollen.

»Schneller, Freyja!«, kommandierte meine Ahnin.

Ich verstand sie wieder einmal nicht und schüttelte trotzig den Kopf.

»Wohin willst du denn jetzt? Warum hast du das gemacht? Blitz und Donner wollen uns etwas Wichtiges mitteilen. Wo sind die beiden denn jetzt?«

Verzweifelt blickte ich mich nach unseren Zaubervögeln um, aber von ihnen fehlte jegliche Spur. Als ich mich wieder nach vorne drehte, traf mich Hekates Blick hart, sodass ich keuchend stehen blieb. Ihre Antwort gefiel mir noch weniger.

»Halte deine Gedanken beisammen, Freyja. Wir müssen sehen, dass wir schnell nach Hause kommen. Ich brauche ein paar Sachen. Wir können uns nicht lange aufhalten. Ich werde dir sagen, was du einpacken sollst, und dann brechen wir auf. Um Blitz und Donner mache ich mir später Gedanken.«

Ich verstand sie nicht. Warum, in aller Welt, sprach sie nicht offen über ihre Pläne, schließlich waren es doch auch meine. Ich ärgerte mich und versuchte einen zweiten Vorstoß, während wir weiter durch den Wald liefen: »Hekate, Blitz und Donner …«

Und dann geschah etwas, das alles andere nebensächlich erscheinen ließ. Nach einer Biegung stand uns eine Person gegenüber, und all mein Ärger war mit einem Schlag vergessen.

»Das gibt es doch gar nicht.« Ich zwinkerte, und mit einem Mal brachen sämtliche Dämme in mir und ein Freudenfeuerwerk, das seinesgleichen suchte, brach in mir aus.

Hekate war mir in diesem Moment egal, und auch die Angst, die ich vor der Medusa gehabt hatte, war in diesem Moment vergessen. Unkontrolliert, wie ein kleines Mädchen, stürmte ich in die Arme der Person, die ich so sehr vermisst hatte. »Mama.«

Sie umschlang mich ebenfalls, und mein Glück brodelte noch weiter über, weil ich froh und dankbar war, keinem Geist gegenüber zu stehen. Sie war es tatsächlich - aus Fleisch und Blut. Freudentränen rannen über meine Wangen, und das Glück entlud sich in heftigen Schluchzern, die ich nicht kontrollieren konnte. Mit einem Mal war mir klar, was die Zaubervögel uns erzählen wollten. Sie wollten sie ankündigen. Danke, große Mutter, betete ich innerlich und zog den vertrauten Geruch, den ich seit meiner Geburt kannte, tief in meine Lunge.

»Meine kleine Freyja«, hauchte Mama in mein Haar.

Ein Schauder fuhr mir bei ihren Worten über den Rücken. Als sie sich von mir löste, erkannte ich, dass sie ebenfalls weinte. Sie wischte die Tränen mit einem Lächeln fort und fuhr sich durch die langen Haare, die kupferner als zuvor leuchteten. Ihre wunderschönen smaragdfarbenen Augen sahen mich direkt an.

»Freyja, mein Kind. Endlich! Endlich darf ich dich wiedersehen. Ich habe dich so vermisst.«

Erneut schossen mir Freudentränen in die Augen. Ich schluckte sie hinunter und wischte mir ebenfalls über mein nasses Gesicht. Ein dicker Kloß schien in meinem Hals zu stecken. Ich schluckte und bemerkte, wie schwer mir das Sprechen fallen würde. Deshalb schwieg ich, inhalierte weiter ihren Geruch. Sie war es tatsächlich. Daran bestand kein Zweifel. Meine Mama, die ich jetzt so lange nicht mehr gesehen und leider auch nichts von ihr gehört hatte. Sie lebt und ist wohlauf. An etwas anderes konnte ich überhaupt nicht mehr denken.

Nach einer gefühlten Ewigkeit riss Hekates Räuspern mich aus meinem Gefühlsmeer. Gedanken, spitz wie Pfeile, bohrten sich in mein Gehirn. »Vorsicht, Freyja. Was tust du? Sieh in ihren Kopf!«

Empört schüttelte ich über so viel Unverschämtheit den Kopf. Wütend herrschte ich meine Urgroßmutter an. »Das ist meine Mutter.«

Hekate schüttelte störrisch den Kopf und bombardierte mich weiter auf der mentalen Ebene. »Das spielt jetzt keine Rolle. Sieh in ihren Kopf!«

Verärgert beschloss ich, meine Ahnin nicht weiter zu beachten, und richtete stattdessen wieder meine Aufmerksamkeit auf Mama: »Wie geht es dir?«

Kurz zuckte sie zusammen, als hätte ich sie bei etwas erwischt. Ihr Blick, der vorher noch so viel Gefühl offenbarte, war starr und eiskalt, sodass sich mir eine feine Gänsehaut über den Leib zog.

»Mama«, ich kam nicht weiter, denn ihr urplötzliches hysterisches Lachen tötete jedes weitere Wort von mir ab.

Bin ich schuld an ihrem Verhalten? War es meine Frage, die ein erlebtes Trauma hervorgeholt hatte? Ich kam mir in diesem Augenblick so dumm vor und verfluchte mich für meine Taktlosigkeit.

Hitze flutete mein Gesicht. Meine Gedärme schienen sich zusammenzuziehen. Was soll ich machen? Wie kann ich ihr helfen? Ich schmeckte Blut und bemerkte, dass ich mir die Lippe aufgebissen hatte. Genauso schlagartig, wie es begonnen hatte, verhallte ihr Lachen, stattdessen fragte sie in strengem Ton: »Wer ist diese Frau?«

Ein unbekannter Schleier lag auf ihren Augen, und ich konnte mir diesen nur wie folgt erklären: Sie ist traurig, unendlich traurig.

Mein nächster Gedanke erschreckte mich und ließ mich gleichzeitig innerlich protestieren. Vielleicht hat Hekate doch recht und ich sollte lieber lesen, was sie so bedrückt. Nein!, rief ich mein Gewissen zur Ordnung. Ich kann doch nicht meine eigene Mutter ausspionieren. Wie sehr verletzte es mich, wenn Hekate meine Gedanken las oder es auch nur versuchte? Undenkbar!

Hekate mischte sich erneut ungefragt mental ein: »Bist du dir denn sicher, dass es sich bei der urplötzlich aufgetauchten Frau um deine Mutter handelt? Du hast ihr furchtbares Lachen gehört. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr! Sei nicht dumm, Freyja, sieh lieber nach, dann siehst du, was ich meine.«

Ich fühlte mich wie eine Kugel in einem Flipper Automaten. Mein Blick huschte zwischen Hekate und Mama hin und her. Was ist richtig, was ist falsch? Es ärgerte mich, dass die ersten Keime der Zweifel, die meine Ahnin in mir gesät hatte, zu sprießen begannen. Ich muss eine Entscheidung fällen! Es kann keinem schaden, wenn ich in Mamas Kopf nach dem Rechten sehe. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich darauf, den Weg zu ihren Gedanken zu finden. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, aber das, was ich vorfand, übertraf alles, was ich mir ausmalen konnte.

So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen. Gut, ich gebe zu, dass ich diese Fähigkeiten, in Köpfe anderer zu gucken und ihre Gedanken zu lesen, selten nutze. Außer ein paar Ausnahmen in der Vergangenheit, aber deshalb wusste ich auch sofort, dass mit meiner Mutter etwas ganz und gar nicht stimmte. Ich hielt inne und konzentrierte mich auf das Bild, das sich mir bot. Was um alles in der Welt ist das? Äußerlich ließ ich mir nichts anmerken und nickte meiner Mutter stumm zu. Sie erzählte irgendetwas von Drachen und Schmetterlingen. Hoffentlich erwischt sie mich nicht in ihrem Kopf. Vor mir lagen viele Buchstaben, ihre Gedanken. Sie schimmerten in Pastelltönen und wären an sich wunderschön, wenn sie nicht von vielen Schnüren zusammengequetscht worden wären. Sie waren gefesselt. Ich konnte unmöglich erkennen, um welche Gedanken es sich handelte. »Wer hat dir das angetan?«, fragte ich, war mir aber sicher, dass Mama nicht auf meine Frage eingehen würde.

»Siehst du?«, antwortete mir meine Urgroßmutter statt Mama. »Du hattest recht«, bestätigte ich sie. »Aber du siehst daran auch, dass es wirklich meine Mutter ist. Jemand hat ihre Gedanken gefesselt.« Ich war selbst in die mentale Schiene gesprungen und wunderte mich, dass ich es nicht laut aussprechen wollte. Meine Ahnin antwortete mir auf der gleichen Ebene. »Ja, du wirst recht haben, Freyja. Wir sollten sie schnellstmöglich befreien.«

Weitere Gedanken schwebten um mich herum. Meine Mutter dachte an Hekate. Sie empfand sie als nervig. »Eigentlich hat meine Mama nicht so lästerliche Gedanken. Das sieht ihr überhaupt nicht ähnlich«, verteidigte ich sie sofort. Fast zeitgleich fiel mir ein, dass ich nie zuvor die Gedanken meiner Mutter gelesen hatte und es somit auch nicht behaupten konnte. Diese Tatsache erschreckte und verwunderte mich zugleich. Hatte ich ihr so etwas wirklich nie zugetraut? Was war ich doch naiv gewesen. In jedem Menschen gab es doch so etwas. Warum sollten wir Rosenhexen da anders sein?

Ich trat näher an die gefangenen Gedanken. Ich muss sie irgendwie befreien. Aber wie?

»Axara, Axara«, erklang ein melodisches Tirilieren, das mich derartig erschreckte, dass ich sprunghaft ihrem Kopf entwich.

Der durchdringende Blick meiner Urgroßmutter traf mich empfindlich. Stumm ließ sie es zu, dass sich Blitz und Donner auf ihrer Schulter niederließen.

»Blitz und Donner, wie schön«, begrüßte meine Mutter emotionslos unsere Zaubervögel.

Blitz‘ Knopfaugen schienen mich zu durchbohren, und dann geschah etwas, womit ich nie im Leben gerechnet hätte.

Donner hackte meiner Urgroßmutter in die Wange und flog auf meine Schulter.

Hekate entglitt ein Schmerzensschrei. »Was soll das?«, schimpfte sie. »Drehen denn jetzt alle durch?« Blitz tat es seinem Gefährten gleich und flog zu Axara.

Blut lief Hekate die Wangen hinab, und ich zwinkerte, ob ich es mir doch nicht nur einbildete. So etwas hatten die beiden noch nie getan.

»Das ist deine Strafe, Hekate«, erklärten sie mit dem Brustton der Überzeugung.

Hekate schüttelte den Kopf und blickte fassungslos zu mir herüber: »Strafe, wofür?«, fragte sie.

»Du wolltest nicht hören, was wir dir zu berichten hatten. Hier steht sehr viel auf dem Spiel, und derartiges Verhalten können wir nicht tolerieren.«

Hekate schnappte empört nach Luft. »Ihr könnt nicht tolerieren? Was heißt das? Ihr seid unsere Zaubervögel.« Ihre Stimme schwoll mit jedem ihrer Worte weiter an.

Blitz und Donner hatten sich ihr jetzt beide zugewandt: »Wir sind eine Familie, und wir sind älter«, erklärten sie. »Wir wollten euch informieren, dass Axara mit dem Kind im Haus auf euch wartet und sie dringend Hilfe benötigt.«

»Ich, ich bin Axara«, gluckste Mama. »Ich soll Hilfe benötigen?«, fragte sie in sehr leisem Tonfall, dabei kicherte sie wieder dieses irre Lachen. Wie schon zuvor beendete sie es abrupt und zeigte dann auf meine Urgroßmutter. »Wer ist das?«

»Mama, das ist Hekate«, stellte ich unsere Urahnin vor. Innerlich war mir gar nicht wohl, und ich hoffte inständig, dass sich die angespannte Situation wieder beruhigen würde.

Ich hatte absichtlich verschwiegen, dass es sich um ihre Großmutter handelte, dennoch entgleisten für einen kurzen Augenblick Mamas Gesichtszüge. Erkennen spiegelte sich in ihren Augen, die mit einem Mal klar aussahen. Obwohl sie sich vorher nie persönlich begegnet waren, jedenfalls hatte Mama es mir immer so erzählt. Sie hatte von ihr immer nur als die weise Frau gesprochen. Nun standen sie sich das erste Mal gegenüber, und erneut überfuhr meinen ganzen Körper eine Gänsehaut in Anbetracht dieser Tatsache. Diese Szene rührte mich wahnsinnig.

Hekate schien dieses Gefühl nicht ergriffen zu haben, denn sie fragte direkt: »Axara Rose? Du bist die Mutter von Freyja? Wer oder was und vor allen Dingen warum ist ein Teil deiner Gedanken gefesselt?«

-Bam- Also, wer Hekate im Haus hat, erspart sich eine Axt. Ich beobachtete Mama, die sichtlich nach Fassung rang. Auch ich brauchte einen Moment, um ihre direkten Worte und ihre Kühnheit zu verdauen. Ja, es war richtig, was Hekate getan hatte, so brauchte ich nicht weiter um den heißen Brei herumreden und konnte mich der Problemlösung stellen.

Mamas Verzweiflung lag bleischwer in der Luft. Aber ich konnte noch etwas deutlich fühlen. Es war Trauer, große Trauer, die mich fortzureißen drohte und mir selbst Tränen in die Augen schießen ließ.

Mama schluckte und hilfesuchend glitt ihr Blick zu mir. Zu gerne hätte ich sie in die Arme genommen und ihr geholfen, aber ich kämpfte gerade selbst gegen diese tiefe Trauer an, die mich ebenfalls ergriffen hatte. Sie nickte mir wissend zu und wandte sich direkt an Hekate, dabei ergriff sie ihre Hände. Ihre Stimme war brüchig: »Ich bin froh und dankbar, Euch gefunden zu haben.«

Ich sah, dass Hekates Oberkörper zurückwich. Ihr Blick spiegelte immer noch Skepsis.

»Freyja, wir müssen mit dir alleine reden«, unterbrachen die Zaubervögel dieses merkwürdige Familientreffen. Ich nickte geistesgegenwärtig. »Gehe sofort in den Wald!«, forderten sie mich auf.

Froh, endlich mehr von ihnen über die groteske Situation zu erfahren, tat ich, was sie von mir verlangten. Nach nur ein paar Metern konnte ich wieder frei atmen und spürte die Leichtigkeit, die die Bäume verströmten.

Sie drängten mich durch eine dichte Hecke. Ich fühlte mich, als hätte ich eine andere Welt betreten. Vor uns lag eine große Lichtung und ehe ich fragen konnte, zwitscherten sie gemeinsam wie aus einem Schnabel: »Hier kann uns niemand hören.«

»Axara wurde von dem Baby gefesselt«, erklärten sie mir, ohne dass ich weiter nachzufragen brauchte.

Ich antwortete nicht und lauschte, was sie mir erzählten: »Du weißt, dass das Kind eine Mischung aus Dämonenblut und weißem Hexenblut ist. Das Böse hat eine starke Kontrolle übernommen. Auch wenn deine Schwester noch sehr klein ist, besitzt sie bereits große dunkle Macht. Wir möchten dir jetzt etwas verraten, was dich schockieren wird. Setz dich besser, Freyja.«

Mein Magen fühlte sich wie zugeschnürt an. Was für Grausamkeiten werden sie mir anvertrauen? Mein Körper fing unkontrolliert an zu zittern. Ich lehnte mich schutzsuchend an eine dicke Eiche. Die raue Rinde in meinem Rücken schenkte mir Sicherheit und Halt.

»Die Geschichte hat sich wiederholt. Es ist nicht das erste Mal, dass Zeratostus es geschafft hat, sein Blut mit dem der weißen Hexen zu mischen.«

Ich spürte, wie mir vor Verblüffung der Mund aufklappte und ich wild mit dem Kopf schüttelte, als wollte ich mit meinen Haaren lästige Fliegen vertreiben. Was sagten sie? Das kann nicht sein! Es hieß doch immer, dass es diesem widerlichen Kerl nie zuvor gelungen war. Stimmt das auch nicht? »Nein«, stammelte ich und erntete sofort einen strengen Blick der beiden Vögel.

»Doch, es ist ihm bereits einmal gelungen. Aber er weiß es nicht. Damals hat sich deine Großmutter geopfert, um das Böse zu besiegen.«

Die Worte, die unerbittlich auf mich einprasselten, ergaben keinen Sinn. Hilflos zuckte ich mit den Schultern. »Oma hat sich geopfert? Von was sprecht ihr? Zeratostus hat sie auf den Scheiterhaufen gebracht.« Meine Stimme wurde immer leiser, weil ich mich an diesen schrecklichen Tag erinnerte.

»Ja, das hat der Dämon veranlasst. Aber das meinen wir jetzt nicht. Freyja, du musst jetzt sehr tapfer sein.« Sie benahmen sich ganz anders als sonst. Ich hatte das Gefühl, mit Fremden zu sprechen.

Was um alles in der Welt wollen sie mir erzählen? Mein Herzschlag schien für einen Moment aussetzen zu wollen, als ich eine Antwort erhielt, die mich umhaute, wie noch nie etwas zuvor in meinem Leben.


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