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Reflektiert und echt

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Ich möchte das entstandene Gefühl für die Situation nutzen, um auf einen Aspekt aufmerksam zu machen, der sich meines Erachtens gerade in der Reiterei oder im Zusammensein mit Pferden oft unbemerkt einschleicht. Wir Menschen bemerken es leider oft erst zu spät, wie wir auf unsere Pferde wirken. Bedauerlicherweise können wir das Pferd aufgrund seiner einfühlsamen, sensiblen und sehr feinsinnigen Art nicht nur positiv, sondern auch negativ mit unseren Stimmungen beeinflussen. Dies geschieht umso leichter, wenn uns das Pferd vertraut und es sich uns unvoreingenommen öffnet. Je mehr Vertrauen wir vonseiten unseres Pferdes entgegengebracht bekommen, umso größer ist daher unsere Verantwortung für die Gestaltung des Zusammenseins. Dabei geht es mehr um eine innere als um eine äußere Haltung.

Eine Unreflektiertheit des Menschen, der keine Vorbereitung für die Begegnung trifft und nicht im Hier und Jetzt ist, und damit über sich und seine Ausstrahlung unter Umständen bewusst gar nicht Bescheid weiß, ist für manches Pferd ein schwer lesbares und damit schwer einzuschätzendes Gegenüber. Sicher gelingt es vielen Menschen sehr gut, auf dem Weg von der Arbeit zum Stall abzuschalten, umzuschalten und sich auf ihr Pferd oder ihre Aufgaben im Stall zu freuen. Doch machen Sie sich bitte bewusst: Starke Gefühle, die nicht aus der unmittelbaren Situation entstehen, oder eine emotionale Überreaktion auf eine Situation Ihrerseits sind für Ihr Pferd nicht zuzuordnen. Es kann nicht erkennen, in welchem Kontext so manches, was Sie tun, steht. Es weiß nicht, was Sie noch vom Alltag mit sich herumtragen. Es kann nicht begreifen, aus welchem Anlass Sie vielleicht heute gehetzt, fahrig, unkonzentriert, gereizt, huschig, launisch, unfair, verunsichert oder gar zornig sind. Und vor allem versteht es auch nicht, dass es damit nichts zu tun hat. Mit seinen Sinnen kann es Sie riechen, hören, sehen, fühlen, eventuell sogar schmecken. Ihre Stimmung ist für Ihr Pferd real und liefert ihm ein konkretes Bild von Ihnen als sein momentanes Gegenüber. Heute. Jetzt. Wenn Sie noch den Alltag mit sich tragen, so gibt es für so manches Gefühl aus der Sicht des Pferdes keinen ersichtlichen Grund und somit tappt es im Dunkeln. Es sehnt sich fluchttierartig aus der Situation heraus und sucht einen Ausweg. Als Pferd hat es den Wunsch, sich wieder Sicherheit zu verschaffen. Bei emotionaler Überladung wirken Sie verunsichernd. Aus der Sicht des Pferdes sind Sie damit heute keine gute Partie und schon gar kein gutes Leittier, an das man sich halten sollte. Jedes Pferd hat den instinktiven Wunsch, frei und sicher zu sein. Auch frei von Werten, Beeinflussung, frei von Negativität. Freiheit bedeutet für das Pferd Harmonie und Gemeinschaft. Als Grundvoraussetzung dafür braucht es eine zuverlässige Familie. Gegenwärtig und erfassbar. Jetzt.

Unterschiedliche Pferde reagieren auf Stimmungen und Stimmungsschwankungen ihrer Persönlichkeit entsprechend sehr verschieden. Ursprungsinstinkt, Rang, Lebenserfahrung und Reife spielen dabei eine entscheidende Rolle. Wenn also Sie in einer Alltagsgeschichte feststecken, ziehen Sie Ihr Pferd unweigerlich mit hinein und forcieren eine für das Pferd natürliche Reaktion: Das Raubtier agiert – das Fluchttier reagiert. Bei positiven Gefühlen werden die Sinne des Pferdes in ihrer Grundschwingung angesprochen: Harmonie und Gemeinschaft. Diese Stimmungen und Gefühle stellen kein Problem dar und geben ein positives und vertrautes Grundgefühl einer Herde. Doch alle negativen Gefühle erfordern vom Fluchttier Pferd eine Reaktion. Schließlich erscheinen Sie plötzlich als nicht einschätzbares Gegenüber und landen damit unter Umständen in der Schublade „hungriges Raubtier“. Kein Wunder, dass das zu Missverständnissen führt. Ohne Vorbereitung und Reflexion, wie es uns selbst geht, erreichen wir allzu oft das Gegenteil von dem, wonach wir uns sehnen. Manche zerstören ihre Basis zum Pferd, für die sie sich wochenlang, manchmal jahrelang angestrengt haben, in nur einer einzigen raubtierischen Begegnung!

Ich selbst habe in meiner Laufbahn als Pferdefrau diese sehr menschliche Erfahrung mit verschiedenen Pferden machen müssen, weil ich noch zu der Zeit ihre Sensibilität und ihre Verbindung zu ihrem Ursprung, zu ihrer Natur unterschätzt habe, die Nähe zu ihrem Instinkt, der immer dann aufgerufen wird, wenn wir das Pferd verunsichern. Und ich hatte ihre Bedürftigkeit unterschätzt, einen tiefen inneren Frieden zu spüren, in dem sie sich sicher und geschützt fühlen. Und vor allem hatte ich in der Zeit geglaubt, die Früchte meiner Vertrauensarbeit wären mehr wert und stünden damit längst über den natürlichen Instinkten.

So habe ich Jahre damit verbracht, einem großen, starken, mächtig erscheinenden Quarter-Horse- Wallach das Vertrauen in mich anzubieten und hart mit ihm daran zu arbeiten. Heute weiß ich, was das für ein Paradoxon ist: Vertrauen und „harte Arbeit“! Trotz guter inhaltlicher Pferdearbeit bin ich, ohne es zu merken, immer mal wieder unreflektiert und durchzogen von Alltagsstimmungen auf seinem Paddock gewesen, manchmal nur, um Pferdeäpfel abzusammeln oder um eben kurz nach dem Rechten zu schauen. Durch seine größtenteils sehr negative Erfahrung mit Menschen, die ihn auf seinem Schicksalsweg überhaupt zu mir geführt hatten, war er so sehr sensibilisiert für Stimmungen, dass er nicht anders konnte: Er musste mich scannen, erkennen und ernst nehmen – und reagieren! Er musste sich an das halten, was er in mir sehen, hören, riechen und somit als Gesamtbild ahnen konnte. Seine für mich sichtbare Fassade war zwar ruhend, kräftig und stark, doch tief im Innern war er das verunsicherte Jungpferd, das furchtbare Angst vor impulsiven, ungerechten und unreflektierten Menschen hatte. Er war ein Pferd, dem viel Ungerechtigkeit und Leid zugefügt wurde, und er hatte nie verarbeitet, was geschehen ist. Gemäß seiner Vergangenheit hatte er sich angewöhnt, lieber immer auf der Hut zu sein, wenn ein Mensch in der Nähe ist. Gut getarnt. Er war ein Meister darin, denn äußerlich hätte man wetten können, dass er dort steht, in sich ruht und entspannt darauf wartet, angesprochen zu werden. Doch insgeheim hat er geradezu erwartet, dass etwas nicht ganz hundertprozentig stimmig ist. Aus seiner einstigen Not heraus war eine Furcht entstanden, die er zu tarnen versuchte und der er nichts entgegenzusetzen hatte. Und er hatte recht: Da war was! Er steckte in seiner Vergangenheit fest – und ich zu der Zeit in meiner. Er wartete darauf, dass etwas nicht stimmte, denn seine Sinne hatten es ihm längst verraten. Nur dass seine Geschichte mit mir nichts zu tun hatte – und meine nichts mit ihm. Doch zusammen am gleichen Ort, beide nicht vollständig bei sich im Hier und Jetzt, jeder in seiner unverarbeiteten Vergangenheit und deren Emotionen verwickelt, musste die Situation eines Tages eskalieren.

Heute danke ich „Don“ von Herzen für diese aufschlussreichen Erfahrungen und Unterweisungen. Er ist bis heute einer meiner größten Lehrer, wenn es darum geht, im Jetzt zu sein. Echt und ehrlich. So, wie ich heute immer gefestigter bin.

Seitdem bin ich immer bestrebt, in mir geklärt und für das Pferd eindeutig lesbar zu sein. Dadurch entsteht wahre Begegnung. Sein und Schein ist manchmal ein großer Unterschied! Ich habe verstanden, dass es keinen Sinn macht, meinem Pferd Theater vorzuspielen …

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