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Dem Pferd zu Gast sein -
Die Methode der passiven Beobachtung

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Um eine Herzenskommunikation zuzulassen, schauen Sie sich nun möglichst unvoreingenommen an, wovon Ihr Pferd heute alles beeinflusst wird. Ein gutes Ergebnis erzielen Sie durch Ihre gute Vorbereitung und ein sich öffnendes Herz. Es ist eine „Draufschau“ auf die Situation, neutral und von außen, möglichst wertfrei und ausschließlich sachlich bemerkend. Alles hat die gleiche Gültigkeit.


Angekommen im Hier und Jetzt, kann ich mein Pferd frei von Bewertung beobachten und seine Tagesverfassung und natürlichen Bedürfnisse erkennen. Dies schon VOR der Begegnung zu erfassen, macht es mir leichter, ein gutes Leittier und eine noch bessere Freundin zu sein.

Dabei handelt es sich zuallererst um die Grundbedürfnisse des Pferdes und seine Alltagslebenssituation. Es ist von Bedeutung, was heute auf dem Hof, im Stall oder dem Gelände, auf dem Ihr Pferd lebt, los ist. Eine Art erster Eindruck – sozusagen als Gast, weil Sie die gewohnten Einflüsse sonst eventuell gar nicht bemerken würden. Oft sind uns die Umstände zu vertraut, um sie als bemerkenswert einzustufen. Jetzt sind Sie dafür sensibilisiert und wissen, dass es eine Rolle spielen könnte, was Sie wahrnehmen. Wenn Sie es schwierig finden, die Situation so neutral zu beobachten, nehmen Sie sich gerne einen Freund oder eine Freundin mit und beobachten Sie zusammen, was an diesem Ort los ist.

Für Pferde spielt je nach Typ das Wetter eine Rolle – zumal sich so manches Pferd von Natur aus niemals in die Gegend verirrt hätte, in der es heute lebt. Manche Pferde genießen den Regen, die Sonne, den Wind, den Schnee, das Tauwetter – andere leiden darunter, weil es ihnen in dieser Weise gar nicht entspricht. Es ist von Bedeutung, welche Jahreszeit wir haben, denn die Jahreszeit sagt mir als Betrachter viel über natürliche Bedürfnisse und Möglichkeiten, die ich dadurch habe – und auch nicht habe. In mancher Jahreszeit lässt sich ein wundervoll entspannter Ausritt morgens um sechs Uhr umsetzen – in einer anderen ist es für beide nur mit Stress beladen und unbehaglich. Wieso sollte man so etwas also tun?!

Für naturverbundene Pferde kann es ebenso wichtig sein, wie voll der Mond ist, denn auch ihr Schlaf könnte gegebenenfalls davon beeinflusst werden. Ich selbst habe eine kleine Vollblutstute, die ich während der Vollmondtage lieber mit allem Neuen in Ruhe lasse. Sie ist dann hektisch und gereizt und kann sich schlecht auf mich einlassen, weil sie schlicht und ergreifend nachts weniger tief schläft.

Frühling bedeutet für die meisten Pferde, dass die Hormone geweckt sind. Gegen den Urtrieb, sich fortzupflanzen, erscheine ich mit meinen Menschenangeboten für das Pferd jetzt weniger attraktiv als in der übrigen Jahreszeit. Fortpflanzung ist in der Natur ein Hauptdaseinszweck. Den Trieb zu unterdrücken ist möglich, aber anstrengend – für beide Seiten. Sicher kann man von einem Pferd als Gegenüber auch erwarten, dass es sich ein wenig zusammenreißt und mir sein Bestes gibt – aber es wäre klug, um die beeinflussenden Faktoren wenigstens zu wissen und sich selbst entsprechend darauf einzustellen. Und wenn man sich von seinem Pferd Achtung und Anerkennung wünscht, gewinnt man im Rang schon durch das Wissen und Erkennen der für das Pferd wichtigen Prioritäten. Wie sollte ein Pferd, das mit seinem Instinkt verbunden ist, es auffassen, wenn Sie es von den wichtigsten Dingen der Pferdewelt abhalten? Wenn Sie sich in seine Lage versetzen und aus diesem Blickwinkel heraus schauen: Würde Ihr Ansehen Ihrem Menschen gegenüber dadurch steigen? Manchmal sammeln wir Punkte durch Verständnis und Nachsichtigkeit.

Unterschätzen Sie nicht die Wirkung, die es haben könnte, wenn Sie sich gegen die Anforderungen und Versuchungen der Natur stellen. Ihr Pferd wird immer eher seinem natürlichen Trieb Glauben schenken als einem Menschen. Wir tun also gut daran, uns mit der Natur zu verbünden und nur solche Dinge von unserem Freund zu verlangen, die momentan eine natürliche Logik besitzen. Das macht Eindruck!

Widmen wir uns weiter den beeinflussenden Faktoren, denen Ihr Pferd eventuell ausgesetzt sein könnte: Wie geht es Ihrem Pferd heute in seiner Pferdefamilie? Ist sein Rang in der Herde eher hoch oder eher niedrig? Oder steht Ihr Pferd gerade in Verhandlung um eine wichtige Position? Seien Sie sicher: JEDE Position gilt es vonseiten des Pferdes zu sichern oder zu behaupten, um sie zu behalten oder endlich abzulegen. Wenn es seinen Rang einem neuen Mitglied gegenüber gerade rechtfertigen oder festigen muss – macht es dann Sinn, es heute aus der Herde, aus der internen „Verhandlung“ zu nehmen? Oder ist es in der Herde durch eine Krise der Gesundheit oder des Selbstvertrauens gerade im Rang abgerutscht? In diesem Fall wäre es vielleicht ein Segen, dass Sie es aus der Herde herausholen und ihm eine Auszeit unter guter Obacht schenken. Aber dann wäre folglich auch klar, wie Sie die gemeinsame Zeit des Zusammenseins gestalten würden. Oder?

Genauso verhält es sich mit einem Pferd, das eventuell nur so vor Kraft und Energie strotzt, längst die Chefposition innehat und gelangweilt rangniedere Pferde von einem Ort zum anderen schickt. Waren Sie schon einmal so fit, mutig, ausgeschlafen, stark und enthusiastisch, dass Sie mit Ihrer Energie nicht wussten, wohin? Ich kenne das gut, vor allem aus meiner Kindheit, und war dann froh, wenn meine Eltern mir eine dafür gut geeignete Aufgabe zum Abarbeiten gaben oder mein älterer Bruder mich auf dem Sofa mal ordentlich durchkitzelte. Zu Anfang fand ich das immer doof – aber das Resultat in meinem Befinden war fantastisch. Also: Wenn Ihr Pferdepartner zufällig ein Herdenchef ist, dann seien Sie mutig genug und kitzeln Sie mal ein bisschen entgegenkommend an seinen Kompetenzen. Halten Sie ihn vom Größenwahn ab und helfen Sie ihm, die Energie zu nutzen und zu lenken. Grenzen zu finden gibt ihm wieder Halt und kanalisiert seine Kräfte. Er wird es Ihnen danken – und mit ihm die gesamte Herde.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Befindlichkeit, die durch die Alltagsgestaltung Ihres Pferdes oder der gesamten Herde entsteht. Ich werde oft zu Pferden gerufen, die sich in eine körperliche, emotionale oder seelische ungesunde Richtung entwickeln. Einige werden vielleicht aggressiv und impulsiv, andere neigen eher dazu, traurig, ängstlich oder pessimistisch gestimmt zu sein. Gesundheitliche Fehlentwicklungen folgen meist auf dem Fuß. Wenn Sie als Pferdehalter ein langfristig gesundes Pferd haben möchten, rate ich daher dazu, den Alltagsablauf Ihres Pferdes zu überprüfen. Eine solche Überprüfung besteht einzig und allein aus der sehr sachlichen passiven Beobachtung des Pferdes und seines unmittelbaren Lebensraums. Lebt Ihr Pferd in einer Herde? Haben die Pferde viel um die Ohren? Oder eher wenig? Gibt es viel Sozialpflege in der Herde oder Streit, Disharmonie und Gerangel um Positionen? Ist die Herde gemischt? Wie und wo, wie oft und wie viel Futter bekommt Ihr Pferd am Tag? Von wem? Stimmen sein Fressverhalten und sein Fressbedürfnis mit dem Angebot und seiner Bedürfnisbefriedigung überein? Oder hat es Stress dabei, dafür zu sorgen, dass es eine geeignete Menge abbekommt? Wann findet Ihr Pferd Ruhe und für welchen Zeitraum? Lebt Ihr Pferd vorrangig in der Box? Gibt es eine saisonale Veränderung, wie die Boxen genutzt werden? Mag es seine Box? Hat es einen Auslauf? Wie oft oder wie lange am Tag kann es natürlich seinen Bedürfnissen nachgehen? Wann ist mal Ruhe im Stall? Wann ist am Tag die absolute Hochzeit für Trubel? Wie viele Menschen kommen an der Box vorbei? Sprechen sie Ihr Pferd an oder beachten sie es gar nicht?

In so manchem Stall habe ich beobachtet, dass, obwohl die Pferde gut untergebracht und nach neuesten Standards der Pferdehaltung optimal versorgt wurden, es deutliche Diskrepanzen von dem einen zum anderen Pferd gibt. Wo das eine Pferd stundenlang an der Offenstallraufe das Bedürfnis von 14 bis 16 Stunden Rupfen, Fressen und Kauen befriedigt, bereits dick und rund ist, weil es dazu keinen Meter mehr laufen muss, stehen andere gedemütigt, wartend, hungrig, frustriert oder eingeschüchtert im Abseits und warten darauf, dass der Wind endlich einen Halm in ihre Richtung weht. Nur diese eine Situation kann mich als Beobachter verschiedene Schlüsse ziehen lassen: Einige Pferde sind überversorgt, andere unterversorgt – das macht etwas mit jedem Einzelnen. Obwohl sie in der gleichen Herde unter ansonsten gleichen Bedingungen leben, ist es ein riesiger Unterschied für alle Beteiligten, welches Pferd ich zum Spielen, Arbeiten oder Pflegen aus der Gruppe hole. Ich habe Pferde kennengelernt, die aus verschiedenen Einflüssen heraus überfordert sind, Pferde, die unterfordert sind, und ebenso Pferde, die überfordert sind, weil sie unterfordert sind.

Die grundsätzlich wertvollen und sicher richtigen Bedingungen, die in der Pferdehaltung in der Theorie gut vertreten werden, müssen also der praktischen Prüfung unterzogen werden. Nicht alles, was prinzipiell gut ist, ist für jedes Pferd von Vorteil. Interessant daran ist, dass sowohl das Pferd mit langfristiger Überforderung als auch das Pferd mit langfristiger Unterforderung später oft sehr ähnliche, manchmal sogar gleiche psychische oder körperliche Fehlentwicklungen und Erkrankungen zeigt. Seit Langem sehe ich in meiner Pferdepraxis psychosomatische Abweichungen auf dem Vormarsch – Tendenz steigend. Rechtzeitig zu bemerken, wie es unserem Pferd in seinem Alltag überwiegend geht, ist demnach purer Gesundheitsschutz und kann viele Tierarztkosten sparen.

So manches Pferd leidet in unserer guten Haltung unter Monotonie, weil sein Tagesablauf so absolut einschätzbar wiederkehrend ritualisiert wurde – das ganze Jahr hindurch gleich. So etwas gibt es in der Natur nicht. In der Natur gibt es ein paar Grundsätze, denen das Pferd sich, ohne sie ändern zu können, fügen muss. Diese natürlichen Grundsätze geben dem Pferd eine Art Rhythmus vor und verbinden es mit der Natur. Das ist der Wechsel von Tag und Nacht, der Verlauf der sich langsam ändernden Jahreszeiten und das damit im Zusammenhang stehende Futterangebot. Die verändernde Energie einer Mondphase über einen Monat und die damit im Zusammenhang stehende hormonelle Regelung. Die Natur ist also ständig in einem langsamen, sanften Wandel, und eben dieser Wandel stellt das Pferd langsam, aber andauernd vor neue Herausforderungen und Anpassungen. Dadurch wird es nie langweilig und das Pferd ist je nach Konstitution, Erfahrung und Alter mehr oder weniger gefordert. Diese natürliche Herausforderung der Anpassung hält Pferde nicht nur gesund – sie macht sie auch stark und selbstbewusst. Ritualisiert lebende Pferde hingegen leiden allzu oft unter der Zwangsanpassung an das immer Gleiche. Intuitiv spüren sie, dass das nicht natürlich ist und sie nach und nach ihre natürlichen Anpassungsfähigkeiten damit einbüßen. Ihre Fähigkeiten, in der Natur instinktgestützt zu überleben, werden dadurch geschmälert. Daher schauen Sie bitte, ob Ihrem Pferd eine gewisse Monotonie und Wiederkehr von Alltagsgestaltung eher entgegenkommt, weil es vielleicht ohnehin gestresst ist und die Rituale braucht, um sich daran zu orientieren und sich geborgen und sicher zu fühlen. Oder ob Ihr Pferd an der entstehenden Monotonie leidet und glücklich wäre, einen etwas natürlicheren und damit lebhafteren Aktionsfluss zu erleben, um zu spüren, dass es lebt und sich an seinem Wohlbefinden und seinem natürlichen Wandel zu erfreuen. Die Anforderung an uns Pferdehalter ist in diesem Sinne, für das Pferd eine gute Mitte der Haltungsmodalitäten zu finden und dem Pferd Anpassung und Veränderung in dem Rahmen zu ermöglichen, wie es der Natur des Pferdes entspricht.

Für ein Pferd, das in natürlichen Abläufen lebt und sich damit auf artgerechte Weise auseinandersetzen kann und muss, ziehe ich daher von Grund auf andere Schlüsse für unsere gemeinsame Zeit und unsere gemeinsamen Ziele, als für ein Pferd, das ohnehin den ganzen Tag Kräfte sparen kann und sich vielleicht sogar langweilt.

Diese Beispiele haben Sie nun hoffentlich noch sensibler dafür gemacht, worauf Sie bei der Betrachtung Ihres Pferdes und seiner Lebenssituation achten können. Schauen Sie, was Ihrem Pferd in seinem Privatleben gerade wichtig ist und wie es ihm geht. Das kann von den Unruhen durch einen Neuzugang auf der Nachbarweide über eine veränderte Futtersituation oder einen hormonellen Umschwung durch länger werdende Frühlingstage alles sein, was es mit den Sinnen zu erfahren gibt. Eine Herausforderung für unsere Wahrnehmung! Je genauer und klarer wir sehen, in welcher Situation sich unser Pferd befindet, desto angemessener können wir auf unser Pferd eingehen. Das schützt nicht nur das Pferd vor Über- oder Unterforderung – sondern auch uns.

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