Читать книгу Uriel - Tanya Carpenter - Страница 10
ОглавлениеKapitel 1
Donner grollte über ihnen. Jedes Aufeinandertreffen ihrer Schwerter wurde von grellen Blitzen begleitet, die den wolkenlosen Himmel in Flammen setzten. Hätte ihr Kampf in der wahren Welt stattgefunden, die Menschen wären vor Furcht in ihren Häusern erstarrt. Die Ankunft des Armageddon konnte nicht gewaltiger sein. Sie würden kommen. Bald!
Aber dieser Kampf hier fand zwischen den Ebenen statt, jenseits von Himmel und Hölle und abseits der Erde, auf die sie alle gefallen waren. Vage Schemen nur dürften sich bis hin zum irdischen Firmament fortsetzen und die Astronomen, die sie sahen, in Verzückung versetzen. Himmelslichter. Sterneneruptionen. Oder womöglich sogar Ufos?
Ein bitteres Lachen formte sich in Drace’ Kehle. Wenn die wüssten …
Es war ein aussichtsloser Kampf, den sie hier fochten, er und Greco. Das wusste Drace, und sein Bruder zweifellos ebenso. Irgendwann würde einer von ihnen aufgeben und sein Heil in der Flucht suchen, weil sie einander nicht bezwingen konnten. Es galt nur, Zeit zu gewinnen. Je länger er Greco hier festhielt, umso größer standen die Chancen, dass die Nephilim in Sicherheit gebracht wurde. Hoffentlich machten die Azrae und ihre Cherubim-Freunde keinen Fehler. Es hing so viel davon ab.
»Gib auf, Drace. Du stehst auf der falschen Seite, wenn du versuchst, mich aufzuhalten.«
Aus Grecos Stimme klang kein Zorn, eher eindringliches Flehen. Er war überzeugt von dem, was er tat, daran hatte Drace nie gezweifelt. Im Herzen seines Bruders sah er keine Bosheit, er tat nur, was seiner Meinung nach getan werden musste, Kollateralschäden inbegriffen.
Nur hieß das noch lange nicht, dass er im Recht war. Im Gegenteil, es machte sie Sache umso schlimmer. Ihm war ebenso wenig etwas vorzuwerfen, wie jedem anderen von ihnen. Er tat, was er für das Richtige hielt. Am Ende wollten sie alle nur nach Hause – und manch einer wollte auch ein bisschen Rache.
»Du irrst dich, Bruder. Nicht ich bin es, der die falsche Seite gewählt hat. Halt ein, so lange du noch kannst. Was du planst, ist Wahnsinn. Manch eine Macht kann man einfach nicht beherrschen.«
In Grecos Augen funkelte es vor Entschlossenheit. Er riss seine Klinge zurück und führte einen weiteren Streich gegen Drace, den er nur knapp parierte. Das Licht des Funkenregens war so gleißend hell, dass es sie blendete. Die Vibrationen des Metalls brachten die Muskeln in Drace’ Armen zum Beben. Ein schmerzvolles Ziehen, das sich bis in seinen Rücken fortsetzte. Greco war stark, nicht zu unterschätzen. Das Feuer, das ihn antrieb, gab ihm Kraft. Drace biss die Zähne zusammen, stemmte sich nach vorn und warf seinen Bruder zurück. Für einen Moment standen sie wie erstarrt voreinander, beide atmeten schwer und waren dankbar für die Atempause.
»Ich kann nicht umkehren«, erklärte Greco voller Inbrunst. »Ich bin schon viel zu weit gegangen. Aus gutem Grund. Er wird für alles bezahlen. Er – und auch die Seraphim.«
Es war für Drace wie ein Stich in sein Herz; er hätte nicht schlimmer sein können, wenn Greco ihn mit der Klinge geführt hätte. Drace liebte seinen Bruder – all seine Brüder, doch sie waren selten einer Meinung. Nur waren die Konsequenzen diesmal mehr als er duldend mit ansehen konnte. Er parierte zwei weitere Hiebe von Greco, als dieser mit neu gewonnener Energie auf ihn einstürmte. Einen Kampfschrei auf den Lippen, der wie das unheilverkündende Donnern der Kanonen auf einem Schlachtfeld klang. Wieder einmal kam Drace der Gedanke, dass Schusswaffen über gewisse Vorteile verfügten und die angenehmere Art des Kampfes darstellten, doch in einem Fight unter ihresgleichen wäre so etwas natürlich undenkbar – und ineffektiv, denn noch gab es keine Kugeln, die einen der ihren tatsächlich töten könnten. Zumindest wäre ein Austausch von Schüssen aber nicht annähernd so anstrengend gewesen wie der Schwertkampf.
Der dritte Schlag seines Gegners schien Drace den Schädel spalten zu wollen und zwang ihn in die Knie, als er ihn im letzten Augenblick abwehrte. Er verkantete sein Schwert mit dem von Greco, indem er die Parierstange an der Klinge verhakte. So hoffte er, zumindest diesen Kampf beenden zu können. Vielleicht sogar den, der auf anderen Ebenen gefochten werden würde. Er musste es noch einmal versuchen. Mit Vernunft und Logik.
»Ich weiß genau, was du vorhast. Aber du wirst sie nie beherrschen können, egal, was du versuchst.«
»Du verkennst die Macht, die uns damit in die Hände gelegt wird, Bruder. Alles wird sich ändern. Niemand kann uns dann mehr aufhalten.«
Drace schüttelte den Kopf. »Diese Macht ist zu groß. Und finster. Niemand kann sie bezwingen, geschweige denn für eigene Zwecke lenken. Es ist das Risiko nicht wert. Du wirst die Menschheit und uns alle ins Unglück stürzen, wenn du es versuchst. Sie zu befreien, kann der Anfang vom Ende werden. Bedenke, dass Magnus es niemals dulden wird, wenn jemand seine Pläne durchkreuzt. Und bedenke ebenfalls, welche Brut du ihm in die Hände gelegt hast.«
Greco lachte voller Bitterkeit. »Die Brut hat er mir gestohlen, dieser Bastard. Aber sie wird ihm nicht dienen, wenn ich siegreich bin. Tu nicht so, als würdest du nicht ebenfalls versuchen, ihn aufzuhalten. Wenn du jemandem von uns vorwerfen willst, auf dem falschen Weg zu sein, dann bist du bei ihm wohl an der richtigen Adresse.«
Das konnte Drace nicht leugnen. Auch Magnus musste gestoppt werden, ehe er etwas tat, dessen Konsequenzen sich nicht mehr umkehren ließen. Doch das war ein anderer Kampf, den er zu anderer Zeit zu fechten gedachte. Mit anderen Waffen.
»Wenn du das so siehst, dann verbünde dich mit mir. Mit uns! Kehr ab von dem Weg, den du eingeschlagen hast. Sie werden dich sonst vernichten. Gemeinsam hingegen können wir ihm, können wir ihnen, Einhalt gebieten.«
Greco schüttelte den Kopf und zeigte ein maliziöses Lächeln. »Bedaure. Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du dich um mich sorgst, doch es ist unbegründet. Ich fühle, dass meine Strigoi mein wichtigstes Pfand gerade wieder in ihre Obhut genommen hat. Es gibt einen Weg, die Quelle zu kontrollieren. Das werde ich dir beweisen. Ihre Macht unter meiner Kontrolle … Niemand kann uns das Paradies dann noch länger verwehren.«
Aus seinen Worten sprach ebenso viel Wahrheit wie Wahnsinn. Oder sollte er lieber sagen, Besessenheit? Viel schlimmer jedoch war, dass Greco von dem Pfand sprach. Drace betete zu einem Gott, an den er selbst nicht mehr glaubte, dass damit nicht Beth gemeint war. Fragen konnte er seinen Bruder nicht mehr, denn in der nächsten Sekunde fiel Grecos Schwert zu Boden und Drace war allein.
Beth wirkte schrecklich zerbrechlich, wie sie da am Fenster stand und in die Nacht hinausstarrte. Ein Schatten ihrer selbst, obwohl aus ihrem Inneren eine Kraft herausströmte, die Proud den Atem raubte. Das Mondlicht ließ ihre Haut wie Perlmutt glitzern und verlieh ihr eine feenhafte Aura, die jedoch überschattet wurde von der Leere, die er in ihren Augen sah. Er wagte nicht zu fragen, was sie auf der anderen Seite erlebt hatte und wie es sie noch immer veränderte. Zu sehr fürchtete er die Antwort. Sie würden darüber reden. Später. Er wusste, es musste sein, weil es von Bedeutung war für alles, was noch vor ihnen lag. Aber das konnte warten. Im Augenblick wollte er ihr nur nahe sein. Das Glück preisen, dass sie zu ihm zurückgekehrt und nicht in der ewigen Finsternis versunken war. Er wollte sie beschützen und nie wieder loslassen müssen.
Zögernd trat er näher und legte seine Hände auf ihre Schultern. Mit einem Seufzen ließ sie sich gegen ihn sinken, ohne ihren Blick vom nachtschwarzen Firmament zu nehmen, an dem der Mond gleich einem Mahnmal thronte. Umgeben von schwarzen Wolkenfetzen, die ihn an Krähen und Fledermäuse erinnerten – oder anderes Getier, das über den Schlachtfeldern lauerte.
Ein Schauder durchlief Proud. Der Tag würde kommen. Es war nicht aufzuhalten. Niemand wusste, wie lange ihnen noch blieb.
»Ich fühle mich so schwach«, flüsterte sie. Ihre Stimme nur der Hauch eines Windes. »Leer und unvollständig. Bitte halt mich, Proud. Mach, dass ich mich wieder stark fühle, sonst habe ich Angst, das alles nicht zu schaffen. Füll die Leere in mir und mach mich wieder ganz.«
Er schlang seine Arme fest um sie und zog sie an seine Brust. Küsste sanft ihren Scheitel und atmete den Duft ihrer weichen, blonden Locken. Die einzelne Strähne an ihrer Stirn war inzwischen komplett schwarz und glich einem weiteren Indiz für die Dunkelheit in ihrem Inneren und jene, in der sie gewesen war.
Die Kälte ihrer Haut erschreckte ihn, aber er würde sie nicht loslassen. Um keinen Preis. Ihre Wahl war auf ihn gefallen, und er würde alles tun, um ihr zu beweisen, dass sie damit richtig lag. Dass er ihr geben konnte, was sie brauchte und wonach sie sich sehnte.
Kyle war gerade ganz weit weg. Proud liebte seinen Cousin, das hieß allerdings nicht, dass er bereute, ihn bei Beth ausgestochen zu haben. Er konnte sich ein Leben ohne sie einfach nicht mehr vorstellen, egal ob dieses im Himmel, in der Hölle oder auf Erden wäre.
Langsam drehte sie sich um, legte ihre Arme um seinen Hals, presste ihren Körper an seinen und ihre Lippen auf seinen Mund. Von einem Moment zum anderen war es, als wäre das alles nicht passiert. Der Unfall, ihre Entführung, ihr Sterben, ihre Wandlung. Nur ein böser Traum. Sie war bei ihm, war es immer gewesen, und ihre Liebe war nie ins Wanken geraten. Nicht einmal für Kyle.
»Ich brauche dich«, flüsterte er, ehe er den Kuss intensivierte, die vertraute Süße schmeckte.
Beth wog fast nichts, als er sie auf seine Arme hob und zum Bett hinübertrug. Ehrfürchtig legte er sie darauf ab, schob das Hemd aus unschuldigem Weiß über ihre schlanken Schenkel nach oben. Weiter, bis er ihren flachen Bauch entblößte und die festen wohlgeformten Brüste. Beth hob ihre Arme, damit er ihr das dünne Kleidungsstück gänzlich vom Körper ziehen konnte. In Windeseile entledigte er sich seiner eigenen Sachen und glitt neben sie. Sie wieder zu spüren, Haut an Haut, war mehr, als er zu hoffen gewagt hatte. Viel zu lange hatte er es entbehrt. Hatte um sie gebangt und gehofft.
Ihre Glieder erwärmten sich rasch unter seinen Berührungen. Mit leisem Stöhnen bog sie sich ihm entgegen, schenkte sich ihm neu in dieser Nacht. Endgültiger als je zuvor.
Es erschien ihm wie ein Sakrileg, als er zwischen ihre Schenkel glitt und tief in sie drang. Dennoch hätte er um nichts in der Welt darauf verzichten können. Sie nahm seinen Rhythmus auf. Ihre Seele öffnete sich weit für ihn, ließ ihn einen Blick auf alles werfen, was darinnen war, und egal, wie sehr ihn manches erschrecken mochte, er zögerte nicht. Er sah, was sie gesehen hatte. Fühlte, was sie gefühlt hatte. Durchlebte die gleichen Gräuel und Verzweiflungen und verstand sie besser als je zuvor. So wie Beth gab sich auch Proud ganz, verlor sich in ihr und war verloren, bis sie völlig eins waren. Ein Herzschlag, ein Atem, ein Gedanke, eine einzige gemeinsame Erinnerung an alles, was sie waren und auf ewig sein würden.
Er verflocht seine Finger mit den ihren und zog Beth die Hände über den Kopf, wo er sie fest auf das Laken presste, während er wieder und wieder in sie stieß. Die Geste hätte dominant wirken können, tat es aber nicht. Es war nichts weiter als die stille Übereinkunft, einander völlig zu gehören.
Heiser flüsterte er ihren Namen. Drückte seine Lippen gegen ihre Schläfe, während der Schlaf allmählich von ihm wich. Noch war er nicht bereit, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen. Nichts als ein Traum. Sie war noch immer fern von ihm und allem Leben. Eine leere Hülle, in die sich ihre Seele tief zurückgezogen hatte. So tief, dass niemand sie erreichen konnte. Der Schmerz, der mit dem Erwachen einherging, war grauenvoller als der finsterste Orkus, in den man ihn werfen könnte. Verzweifelt krallte er die Finger in ihr Nachthemd und ihr blondes Haar, das beides von seinen lautlosen Tränen benetzt wurde. Erlaubte sich den Moment der Schwäche, wo er sich unbeobachtet wusste. Stark sein musste er lange genug, obwohl die Leere ihn jede Sekunde in die Knie zu zwingen suchte, denn ohne sie hatte sein Leben jeden Sinn verloren. Beth kehrte nicht zu ihm zurück; die Tage verstrichen und sie blieb … verloren.
Sie hatte seit ihrer Rückkehr aus Europa das Bewusstsein nicht wiedererlangt. Das war jetzt drei Wochen her. Drei Wochen, in denen so viel passiert war, dass es Proud wie Monate erschien. Was wäre mit den Nephilim geschehen, wenn sie niemanden hier in L.A. gefunden hätten, an den sie sich wenden konnten? Hätte sich Samuel um sie gekümmert? Und was dann? Er wusste noch immer nicht, ob er Beth’ Vater rückhaltlos trauen durfte oder nicht. Was seine Pläne waren. Wer seine Verbündeten. Fakt war, dass alle Frauen aus dem Sadeshia verschwunden waren und Proud das Gefühl nicht loswurde, dass Sam mehr oder weniger darin verstrickt war, denn schließlich hatte er mit diesen Zuchtprogrammen überhaupt erst angefangen.
Seit sie zurück waren, hatte der Grigori nur ein einziges Mal nach Beth gesehen. Der Schmerz in seinen Augen war echt gewesen. Wenigstens dachte Proud das. Samuel hatte ihm auf die Schulter geklopft und gesagt, dass er keine Wahl gehabt hätte. Kein einziges Wort des Vorwurfs. Aber auch kein Angebot, ihnen zu helfen. Nicht einmal, als sie mit einer scheintoten Nephilim von Europa zurück in die Staaten gelangen mussten. Nur dank Lloyd und seinen Beziehungen hatten sie es überhaupt geschafft, Beth in diesem Zustand wieder nach Hause zu bringen. Im Augenblick kümmerte sich der Arzt so gut es ging darum, sie stabil zu halten, aber sie wollte einfach nicht aufwachen. Das bereitete ihnen allen Sorgen. Proud am meisten, obwohl vermutlich Kyles Furcht um ihr Überleben nicht nennenswert geringer war und er deshalb ständig angepisst durch die Gegend lief. Der Unterschied zwischen ihnen beiden bestand darin, dass einer die Verantwortung übernommen hatte, wo der andere den Schwanz eingekniffen hatte. Ob zum Guten oder Schlechten, das blieb nach wie vor abzuwarten.
Proud legte seine Hand an Beth’ Wange und küsste sanft ihre Stirn. Er ließ die schwarze Strähne durch seine Finger gleiten, deren Seidigkeit ihm einen Schauder durch den Leib sandte.
»Meine Sleeping Beauty«, flüsterte er an ihrer Schläfe. Um sie zu schützen, hätte er sogar tatsächlich eine Wand aus Rosen und Dornenranken um dieses Haus errichtet. Ihr durfte nichts geschehen.
Er zog Beth in seine Arme, wobei die Gewichtlosigkeit ihrer Glieder ihn ein weiteres Mal erschreckte. Die Angst, sie womöglich doch noch zu verlieren, schnürte ihm das Herz zusammen. Proud konnte nicht verhindern, dass ihm Tränen in die Augen stiegen und brennend heiß über sein Gesicht liefen.
»Ich lass dich nicht los, hörst du. Ich lass dich nicht auf die andere Seite gehen. Du wirst das schaffen. Wenn du den Weg allein nicht findest, dann komme ich und hole dich.«
Kalkutta
»Lauf, Zeyda! Und dreh dich nicht um, egal, was du hörst.«
Rahul stieß seine Gefährtin so heftig von sich, dass er für eine Sekunde fürchtete, er könnte ihr alle Knochen im Leib gebrochen haben. Aber wenn es ihm nicht gelang, sie vor den Verfolgern zu beschützen, war ihr Leben ohnehin verwirkt. Da heiligte der Zweck wohl die Mittel.
Er hielt sich nicht damit auf, nachzusehen, in welche Richtung sie flüchtete. Es genügte ihm, ihre eiligen Schritte zu hören. Er würde sie finden – und da war er leider nicht der einzige. Alles, was er im Augenblick tun konnte, war, ihr einen ausreichenden Vorsprung zu verschaffen. Ihnen beiden. Und beten, dass es genügte.
Fast hätte er lachen müssen. Beten? Zu welchem Gott sollte einer der ihren schon beten? Sie wussten doch genau, dass da niemand mehr war, der sie hätte hören können.
Entschlossen wandte er sich dem Ende der Gasse zu, wo die Grigori jeden Augenblick auftauchen mussten. Sie waren nah, er konnte sie wittern und hasserfüllte Gedankenfetzen hören. Bilder strömten auf ihn ein, wie die Opferung stattfinden sollte. Völlig sinnloses Morden, das nichts bewirken würde. Wie konnte man nur so verblendet sein? So hoffnungslos ahnungslos? Alles die Schuld der Seraphim, die nichts als Lügen und Intrigen unter den Gefallenen streuten, um die Prophezeiung nach ihrem Willen zu lenken.
Die Vorstellung, wie viele von Zeydas Art schon deshalb auf grausamste Weise gestorben waren oder als Versuchskaninchen hatten herhalten müssen, um die Rätsel der Nephilim zu entschlüsseln, heizte Rahuls Zorn an. Gut für den Kampf, der vor ihm lag.
Dieser ließ nicht länger auf sich warten. Es waren vier. Direkte Abkommen des Grigori-Oberhauptes ihrer Stadt, Raj Khapoor. Natürlich kämpfte er nicht selbst, doch sein ältester Sohn Dev und drei seiner jüngeren Brüder versperrten Rahul den Weg. Ihr Blut war mächtig, sie ließen es ihn bewusst spüren, um ihn einzuschüchtern, was auch beinah gelang. Nur seine Entschlossenheit, Zeyda um jeden Preis zu beschützen, verlieh ihm die Kraft, dem Quartett trotzig entgegenzublicken. Wenn er fiel, war sie tot. Wenn es ihm nicht gelang, die vier auszuschalten, war sie tot. Wenn er Raj Khapoors Erben tötete … waren sie beide ebenfalls so gut wie tot, aber zumindest blieb eine letzte vage Hoffnung auf Flucht.
»Geh!« Devs Stimme rollte wie heißer Rauch durch die Gasse. »Wenn du sie uns freiwillig überlässt, darfst du leben. Ich geb dir mein Wort.«
Rahul schluckte. Konnte er es mit diesen vier kampferprobtem Grigori aufnehmen? Er wusste es nicht. Sie waren allesamt muskulös und gut trainiert. Darauf legte Raj großen Wert. Disziplin wurde in seiner Familie groß geschrieben. Bisher waren sie immer siegreich aus einem Kampf hervorgegangen. Ihre unangetastete Macht in Kalkutta kam nicht von ungefähr. Aber wenn Rahul davonlief, könnte er sich nie wieder selbst ins Gesicht sehen.
»Ihr werdet sie nicht bekommen, so lange ich es verhindern kann.« Seine Stimme zitterte. Er hoffte, dass es im Widerhall der Häuserwände nicht auffiel.
Dev lachte spöttisch und schüttelte mitleidig den Kopf. »Du hättest es dir einfach machen sollen. Das hier wird sehr unschön. Und am Ende wird sie doch bluten.«
Rahul hatte schon eine bissige Antwort auf der Zunge, doch sie blieb ihm im Hals stecken. Der Angriff kam unvermittelt und überrumpelte ihn, sodass er außerstande war, zu reagieren. Hart prallte er mit dem Rücken gegen die Fassade eines Gebäudes. Dev hatte ihn beinah die gesamte Gasse entlanggeschleudert. Seine Knochen knirschten bedenklich und der Schmerz schnitt wie eine glühende Scherbe durch ihn hindurch. Für Sekunden überkam ihn das Gefühl, nicht mehr atmen zu können, und die Aussicht auf ein rasches Ende wurde ausgesprochen verlockend.
Mit aller Kraft zwang sich Rahul wieder auf die Beine. Es überraschte ihn nicht, die Seitenstraße leer vorzufinden. Er hielt sich nicht damit auf, diesen Umstand zu verfluchen. Zeyda blieb nicht viel Zeit. Ihr Vorsprung war nur gering.
Der Weg über die Häuserdächer war kürzer. Er konnte die Spur der Grigori nicht verfolgen, aber er wusste genau, wo Zeyda war, und die Wächterengel waren ihr dicht auf den Fersen.
Er sah ihre Schatten durch die Straßen huschen. Zu schnell für menschliche Augen. Sie teilten sich auf, das musste er zu seinem Vorteil nutzen.
Dem Jüngsten schnitt er zuerst den Weg ab. Nicht nur, weil er der einfachste Gegner war, sondern auch, weil er Zeyda fast erreicht hatte. Rahul ließ sich vom Dach hinabfallen und stieß noch in der Landung seine Hand in den Brustkorb des Grigori.
Das Leben des Jungen zerrann buchstäblich in seiner Hand. Sein Herz zerplatzte wie ein Ballon und tränkte Rahuls Hemd. Erst im Sterben fiel ihm auf, dass Rajs Sohn praktisch noch ein Kind war. Wieso hatten seine Brüder ihn bloß mitgenommen?
Der Geruch des Blutes legte sich auf seinen Verstand und dämpfte ihn wie ein schweres Tuch. Sein Körper gierte danach, um die Verletzungen schneller zu heilen, die ihm der Zusammenprall mit der Häuserwand eingebracht hatte, doch er wusste, dieses Blut war verboten. Wenn er es auch nur kostete, verlor er seine Seele und wurde zu einem Monster. Dennoch … es versprach Linderung … und Kraft. Eine Stärkung, die er im Kampf gegen die drei übrigen Grigori womöglich brauchte.
Rahul schüttelte den Kopf, um die Gedanken loszuwerden. Normalerweise wäre er nicht so anfällig für Grigoriblut. Es war nicht das erste Mal, dass er sie tötete. Der Unterschied lag darin, dass er verletzt war und in den Veränderungen, die mit ihm vonstattengingen, seit er Zeyda erweckt hatte.
Ihr Aufschrei war es, der ihn wieder zur Besinnung brachte. Seine blutbefleckte Hand schwebte nur Millimeter von seinen Lippen entfernt. Hastig senkte er sie wieder. Die Panik in der Stimme seiner Gefährtin verdrängte seinen Durst ebenso wie sein Mitleid für den jungen Grigori. Er rannte wie von Sinnen los, erreichte den Hinterhof, in den Dev und seine Begleiter die Nephilim getrieben hatten, in letzter Sekunde. Der Grigori-Sohn hatte Zeyda schon an den Handgelenken gefasst und zerrte sie unerbittlich hinter sich her. Als er Rahul entdeckte, stockte er nur kurz, warf einen flüchtigen Blick auf das Blut an seinen Händen und verzog dann die Lippen zu einem zynischen Lächeln.
»Du kannst es wohl nicht erwarten, wie? Dabei hätte ich mich wirklich noch um dich gekümmert, ich halte meine Versprechen. Ich wollte nur verhindern, dass uns dieses scheue Wild hier entkommt.« Offenbar berührte Dev das Dahinscheiden seines kleinen Bruders kaum.
Er stieß Zeyda in die Arme seines einen Begleiters und gab dem anderen einen Wink. Gleichzeitig griffen dieser und Dev Rahul an. Er reagierte instinktiv und wehrte die Attacken ab. Die Wucht der Schläge und die Schnelligkeit, mit der sie geführt wurden, machten ihm klar, dass er im Kampf nicht lange bestehen konnte. Pure Verzweiflung verlieh ihm in diesem Moment Kraft. Das und die Verantwortung, die er für Zeyda empfand. Sein Angriff war kopflos, doch vielleicht war es genau das, was ihn so unvorhersehbar für Dev machte. Tatsächlich gelang es Rahul, ihn von den Füßen zu holen und den Schwung zu nutzen, um auch den Bruder mit einem Schlag in den Unterleib auf die Knie zu zwingen. Nichts, was sie nennenswert lange aufhielt, aber Sekundenbruchteile, die ein winziges Fenster der Hoffnung schufen.
Mit finsterem Blick sprang er auf den dritten Bruder zu, der Zeyda loslassen musste, um den Angriff abzuwehren. Sie ging zu Boden, wodurch Rahul freie Bahn hatte, um blindlings auf seinen Gegner einzuschlagen, so fest er nur konnte. Egal, wohin, Hauptsache, er setzte ihn außer Gefecht. Dass er selbst dabei ebenfalls Treffer einstecken musste, realisierte er kaum.
In dem einen Moment, wo er alle drei Grigori im Dreck liegen sah, packte er seine Gefährtin und sprang mit ihr zusammen auf das nächstgelegene Häuserdach. Er hob sie auf seine Arme und sprang über die Gassen hinweg, bis er merkte, wie seine Beine allmählich zitterten. Egal, wie weit sie gekommen waren, es war nicht weit genug, aber er musste kurz innehalten, wenn er nicht abstürzen und Zeyda damit gefährden wollte.
Sofort fielen ihr seine Hände auf, an denen noch immer der Lebenssaft des jüngsten Grigori klebte.
»Oh, mein Gott! Du blutest!« Sie riss ein Stück von ihrem Sari ab und versuchte, die vermeintliche Blutung zu stillen. Es fiel ihm schwer, sie davon abzuhalten, weil seine Sinne verrückt spielten. Das Grigoriblut machte ihn wahnsinnig. Er konnte die Gier kaum bezwingen. Je mehr seine Erschöpfung zunahm, umso schwerer fiel es ihm, zu widerstehen.
»Lass! Es ist nicht mein Blut«, wehrte er ab.
Sie blickte ihm ins Gesicht. Er wusste nicht, ob ihr klar war, was gerade mit ihm geschah. Wie sehr er mit sich selbst kämpfte. Hastig schlang sie die Stoffstreifen um seine Hände, um den Geruch einzudämmen. Es half nicht viel, aber genug, damit er sie ein weiteres Stück von den Grigori fortbringen konnte, die sicher schon wieder ihre Verfolgung aufgenommen hatten.
Diesmal musste er sie nicht tragen. Sie lief an seiner Seite, und sie lief erstaunlich schnell.
Rahul versuchte, möglichst viele Haken zu schlagen, um Dev die Verfolgung schwerzumachen. Wann immer er es für vertretbar hielt, kreuzte er die Hauptstraßen, wo sich viele Menschen tummelten. Mit etwas Glück überdeckte das ihre Spur. Schließlich visierte er die schmutzigen Vororte an, denn die Abwässer und Abfälle dort, mochten eine ähnliche Wirkung haben wie Menschenmassen. Eins von beiden würde hoffentlich helfen.
Keuchend drückten sich Rahul und Zeyda an eine Hauswand und verschnauften kurz. In der dunklen Gasse stank es in der Tat bestialisch, aber das milderte die penetrante Präsenz des Blutes, das den Saristoff bereits durchdrang.
»Warte!«
Zeyda riss noch mehr Stoff aus ihrer Kleidung, tränkte ihn in irgendeiner undefinierbaren braunen Pfütze und machte sich dann daran, seine Hände zu säubern.
Rahul konnte ihr Herz rasen hören, seines schlug nicht minder schnell, obwohl ihn diese Flucht bei Weitem nicht so sehr anstrengte wie sie. Verdammt, das würde niemals gut gehen. Die würden sie auf jeden Fall aufspüren. Ihr Atem – ihr Puls – der Duft ihrer Angst. All das war für die Grigori wie die Fährte für einen Jagdhund. Leicht zu verfolgen. Sie konnten hier nicht bleiben, aber Zeyda war fast am Ende ihrer Kräfte. Sie brauchte eine Pause. Auch wenn sie sich alle Mühe gab, es sich nicht anmerken zu lassen.
Bewundernd blickte Rahul die Frau an seiner Seite an. Er war selbst noch völlig überfordert mit dem, was vor drei Tagen zwischen ihnen geschehen war, weil er nie damit gerechnet hätte, dass ausgerechnet er zu denen gehören würde, denen es passierte. Für Zeyda hingegen war das alles der Beginn eines Albtraumes, den sie nicht begreifen konnte. Noch nicht. Umso mehr beeindruckte es ihn, dass sie ihm vertraute und keine Fragen stellte. Sie hätte allen Grund, ihn ebenso zu fürchten wie die, die hinter ihnen her waren.
Rahul hatte ihr bisher nur wenig über das erzählen können, was vor ihnen lag. Darüber, was er war – und was sie war. Was ihre Verfolger von ihr wollten.
Jeder andere hätte diese unglaubwürdige Geschichte womöglich belächelt. Oder wäre in Panik ausgebrochen. Zeyda nicht – weder das eine noch das andere. Er hatte bisher nicht herausgefunden, warum. Vielleicht kannte sie einiges davon aus Träumen und Visionen. Es hieß, dass die Nephilim solche Gaben besaßen. Unleugbar strahlte aus ihren Augen eine Weisheit, die ihn sprachlos und atemlos zurückließ. Allein deshalb würde er alles tun, was nötig war, um sie zu beschützen. Und koste es sein Leben. Ihr Band zueinander war stark – vom ersten Moment an. War das normal? Warum nur gab es kein Anleitungsbuch für diese Dinge?
»Sie kommen näher, nicht wahr?« Ihre Stimme bebte leicht. Ihr Blick blieb hingegen fest und klar.
»Ja«, gestand er ehrlich. »Sie haben unsere Spur noch nicht verloren. Ich weiß im Augenblick auch nicht, wie wir sie abhängen sollen.«
Sie nickte, warf die beschmutzten Tücher in das stinkende Gewässer und betrachtete seine nun wieder halbwegs sauberen Hände. Entschlossen riss sie noch die blutdurchtränkten Ärmel seines Hemdes von seinen Armen und entsorgte sie auf dieselbe Weise.
»Ich denke, so wird es gehen.« Sie fasste sein Gesicht mit ihren Händen und sah ihm fest in die Augen. »Wir müssen weiter. Wenn wir hier stehen bleiben, wird es nicht mehr lange dauern, bis sie uns ein weiteres Mal stellen.«
Er musterte sie eindringlich, dann hob er die Hand und strich ihr liebevoll über das Haar. »Du bist völlig am Ende. Wir können nicht die ganze Nacht hindurch laufen.«
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Es sind doch nur noch drei Stunden bis die Sonne aufgeht. Das schaff ich schon.«
Er konnte nicht anders, er musste sie in seine Arme ziehen und küssen. Diese wundervolle junge Frau unter der sich gerade der Abgrund zur Hölle öffnete, strahlte mehr Zuversicht aus, als er in seinem ganzen Leben je besessen hatte.
Ihre Finger umfassten seine Handgelenke. Sanft, aber bestimmt löste sie sich von ihm und trat zwei Schritte zurück. Sie schüttelte stumm den Kopf und Rahul stocke für einen Moment der Atem. Konnte sie sie hören? Waren ihre Sinne derart stark?
Im nächsten Moment drehte Zeyda sich um und rannte los. Ihre Finger noch immer mit seinen verflochten, sodass er ihr folgen musste. Gemeinsam flohen sie weiter, er wusste nicht mehr, wer von ihnen die Richtung bestimmte. Er wusste nur, dass sie recht hatte und er ihren Instinkten vertrauen musste, wenn sie heil aus dieser Sache rauskommen wollten.
Beth war kalt, obwohl sie das Gefühl hatte, zu fiebern. Sie befand sich in einem unwirklichen Zustand – irgendwo zwischen Bewusstsein und Traum. Eine Art Gefangenschaft im eigenen Körper, bei der sie immer wieder abdriftete, obwohl sie sich vieler Dinge, die im Umfeld ihrer sterblichen Hülle geschahen, bewusst war.
Vor allem Prouds Nähe drang stets tröstlich in ihr Bewusstsein und gab ihr Kraft, weiter durchzuhalten, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie lange es noch dauern würde und wie sie diesen Kampf gewinnen sollte. Ein Kampf war es zweifellos. Stumm gefochten gegen unsichtbare Feinde. Aber sie gab nicht auf.
Am Anfang war es die Hölle gewesen, sich so hilflos zu fühlen. Inmitten ihrer Freunde zu sein und gleichzeitig unfähig, auf irgendeine Art und Weise Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Inzwischen hatte sich bei ihr eine Mischung aus Resignation und Akzeptanz eingestellt. Sie konnte es nicht ändern, also musste sie versuchen, das Beste daraus zu machen. Immerhin: Sie war nicht tot. Das verdankte sie Proud. Er hatte alles riskiert, war ein großes Wagnis eingegangen, indem er ihr sein Blut gab, das wusste Beth. Darum schwor sie sich, dass sein Handeln nicht vergebens gewesen sein sollte. Irgendwie würde sie erwachen. Sie wusste nur noch nicht wie oder wann.
Ihr Körper in dieser anderen, neuen Welt erschien ihr schwerelos. Vielleicht, weil sie in einem dunklen Ozean dahintrieb, der endlos in die Ferne reichte. Oder war es gar der Styx? Gab es den Fluss in die Totenwelt tatsächlich? Dann würde sein Strom sie womöglich auf die andere Seite bringen – wenn sie wirklich starb. Noch war sie nicht tot, das wusste sie. Es stand auf der Kippe, aber sie fühlte sich nicht in der Lage, eine Entscheidung zu treffen. Es gab so viel, was sie ins Leben zurückrief – gleichzeitig hielten andere Dinge sie hier fest, manches lockte sie sogar, sich tiefer sinken – weiter treiben – zu lassen. Es war … einfach noch nicht an der Zeit.
Um sie herum huschten Wesen durchs Wasser – diffuse Gestalten, die sie mit ihren Sinnen nur unzureichend erfassen konnte. Deren Flüstern hallte in ihrer Seele nach. Sie erzählten von Dingen, die Beth schaudern ließen, oder die ein tiefes Verstehen in ihr hervorriefen. Vergangenheit und Zukunft, die sich miteinander vermischten. Unzählige Variationen davon, eine grausiger als die andere, nur wenige darunter, die Hoffnung gaben. Beth sah die Erde zerbrechen. Abgrundtiefe Spalten, wo sie auseinanderbarst. Feuerstürme, heißer als der Atem der Hölle. Lava, die sich ausbreitete wie ein lebender Teppich aus Glut und Asche. An anderen Orten Kälte und Eis. Völlige Stille, weil alles Leben erstarrte. Mensch und Tier in Form abscheulicher Statuen. Mitten aus dem Leben gerissen und konserviert für die Ewigkeit. In der Ferne vernahm Beth Donnergrollen. Es schwoll allmählich an, ließ ihren Körper vibrieren und erzeugte ein Summen in ihren Ohren. Orientierungslos glitt ihr Blick umher, bis sie sie sah: Die Reiter! Vier an der Zahl, deren Umhänge wie die finsteren Schwingen von Krähen hinter ihnen her wehten.
Einer saß auf einem Rappen, einer auf einem Schimmel, einer auf einem blutroten Fuchs und der letzte auf einem Falben. Mächtige Rösser, deren Hufe die Welt zum Dröhnen brachten. Jeder Tritt ließ das dunkle Meer um Beth herum erzittern. Setzte die Wellen in Bewegung, die sie weiter und weiter hinaustrieben. Fort von dem Leben, fort von ihren Lieben, fort von der Schwelle, die sie zurück hätte führen können.
Die Wesen, die sie umgaben, drängten sich immer dichter um Beth herum. Sie wusste nicht, ob sie sie beschützen wollten, oder verhindern, dass sie je wieder erwachte. Die meisten Schatten, die sich in ihre Nähe wagten, schienen weiblich, aber ganz sicher war sich Beth nicht. Es war eher eine Ahnung. Was sie spürte, war Aufregung, Erwartung, hoffnungsvolles Drängen. Es war schwer zu beschreiben. Die Energie, die sie ausstrahlten, war jedenfalls besänftigend, was Beth wieder hoffen ließ, dass ihr hier nichts Böses drohte. Immerhin schwanden die Reiter aus ihrer Wahrnehmung und auch die Katastrophen verblassten und platzten wie Seifenblasen. Alles nur Illusionen, die ihre Furcht nähren sollten. Nichts davon war bisher geschehen.
Die Geister um sie herum sprachen von der Prophezeiung. Von uralten Rätseln, Höllenkreisen und Metaphern. Beth’ Verstand war zu langsam, um zu begreifen. Später vielleicht, wenn sie nicht mehr so müde war. Für den Moment erlaubte sie diesem Wissen lediglich, ihren Körper zu fluten, ebenso wie es das Wasser tat. Immer wieder fiel der Begriff »die Schwärze«, womit offenbar der Ort gemeint war, an dem sie sich gerade befanden.
Einige der Seelen, die sie umschwirrten, kannte Beth. Bei anderen war es mehr die Ahnung, dass sie einander gestreift haben mochten. Irgendwann, irgendwo. Manchmal waren es Namen, die in ihr aufstiegen und wieder untergingen, noch ehe Beth sie greifen konnte. Hier und dort erhaschte sie ein Aufblitzen von Gesichtern, wenn sie für einen Moment innehielten. Aber immer stoben sie danach sofort davon wie ein Schwarm aufgescheuchter Fische. Ganz so, als wären sie von schrecklicher Furcht getrieben.
Allmählich begriff Beth, dass all diese Wesen verlorene Seelen waren. Genau wie sie in diesem trüben Gewässer gefangen und gestrandet. Wobei gestrandet inmitten eines Meeres wohl die falsche Bezeichnung war. Es gab kein Entkommen, es sei denn, die Nephilim erfüllten ihre Bestimmung. Genau das erwarteten die Wesen von ihr. Deshalb umschwärmten sie Beth und überzeugten sich wieder und wieder, dass es ihr gut ging und noch immer die Chance bestand, dass sie wieder erwachte. Beth wollte erwachen …, sie wusste nur nicht wie. Im Augenblick war sie so hilflos wie ein Kind im Mutterleib, darauf wartend, dass ein größeres Ganzes mit der Einleitung des Geburtsprozesses beginnt. Aber wer sollte das sein? Und wie würde es vonstattengehen? So wie damals, als man sie dem Schoß ihrer Mutter gestohlen hatte? War auch das hier Teil des Zuchtprogrammes? Es erschien ihr ebenso möglich wie absurd.
Das Einzige, was ihr Trost spendete, war die Gewissheit, nicht allein zu sein. Proud war immer bei ihr. Er füllte jede Zelle ihres Körpers. Sein Blut – seine Seele. Sie waren da. Tief in ihr verwurzelt. Sie würden für immer ein Teil von ihr sein. Beth spürte es, dass er sich sorgte. Seine Gefühle fluteten all ihre Sinne. Das Band zwischen ihnen war enger denn je, was nicht zuletzt daran lag, dass sich ihr Lebenselixier vereint hatte und ihrer beider Blut eins geworden war. Es gab absolut nichts, was Beth daran bedauerte. Nicht einmal mehr die Tatsache, dass Kyle darunter litt. Dass er sich davor fürchtete, wenn sie wieder erwachte.
Beth spürte auch seine Gegenwart. Seltener, aber doch hin und wieder. Da war diese innere Zerrissenheit. Als schlügen zwei Herzen in seiner Brust. Lebten zwei voneinander unabhängige Individuen in seinem Kopf. Der Todesengel mit der sanften Seele – und die Bestie voller Gier nach Blut und Verdammnis.
Es gab Augenblicke, da hoffte er, dass sie auf der anderen Seite bleiben würde. Sie konnte seine Gedanken hören und es betrübte sie, denn ihre Gefühle für ihn waren noch dieselben. Zu wissen, dass er bereit war, sie aufzugeben, bloß um sie nicht an Proud zu verlieren, hinterließ einen bitteren Widerhall in ihr. In anderen Momenten sehnte sich Kyle danach, sie zu berühren und ihr Trost zu spenden, träumte davon, derjenige zu sein, der sie wachküsste wie der Prinz das Dornröschen. Aber er wagte sich nicht in ihre Nähe, weil das Verlangen nach ihrem Blut noch immer in ihm brannte.
Vielleicht war es sein innerer Zwiespalt, der sie hinderte und es ihr derzeit unmöglich machte, sich an dem Band zu Proud entlang nach oben zu ziehen. Immer wenn sie es versuchte, war da dieses Gefühl von Furcht, das aus Kyles Herzen kam und wie ein Schutzschild, wie eine große Glocke, über ihr lag. Sie ein ums andere Mal zurückwarf, wenn sie versuchte, in dem schwarzen Wasser nach oben zu treiben. Sie wollte Kyle nicht enttäuschen, nicht verletzen. Aber konnte sie das letztlich verhindern? Waren die Würfel nicht längst gefallen?
Seufzend entwand sich Beth diesen sinnlosen Gedanken und zog sich tiefer in ihr neues Ich zurück. Solange sie dazu verdammt war, hierzubleiben, sollte sie die Zeit nicht mit Grübeleien vergeuden, sondern ihren Geist öffnen und lauschen. Es gab so viel zu lernen, wenn sie ihrer Bestimmung gewachsen sein wollte.