Читать книгу Uriel - Tanya Carpenter - Страница 12

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Kapitel 3

»Bist du dir sicher, dass er dieses Opfer wert war?«

Katharina starrte nachdenklich ins Leere und ließ Pater Philipp mit ihrer Antwort warten. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Er sollte sie besser kennen. Sie hatte so lange gewartet. Es gab keine Zweifel.

»Er ist der Richtige, Philipp«, sagte sie und blickte ihn sanft und zugleich traurig an. Sie wusste um die Konsequenz. Es blieb ihr noch ein wenig Zeit, doch was kam, war unaufhaltsam.

»Aber ein Azrae … Wenn es ein Cherub gewesen wäre. Oder die Nephilim …«

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Es war immer klar, dass ich ihn einem Azrae geben würde. Auch wenn ich es dir nie gesagt habe.«

Es war nicht zu übersehen, wie unglücklich er damit war. »Warum muss es gerade dieser sein? Ich habe in seine Augen gesehen. All diese Finsternis. Du bist verloren. Ganz egal, wie die Prophezeiung ausgeht.«

Katharina fand es rührend, wie sich Philipp um sie sorgte. Völlig unbegründet, denn ihr Schicksal hing nicht davon ab, ob es ein Azrae, Grigori, Djin oder gar ein Uriel war, dem sie den Dolch freiwillig überließ. Als Hüterin durfte sie ihn einfach nicht aus freien Stücken geben. Das wusste sie und das wussten all die anderen, die sich derselben Sache verschrieben hatten wie sie.

»Es ist seine Finsternis, die ihn befähigt. Nur sie kann stark genug sein.«

Langsam drehte sie sich zu Pater Philipp um und legte ihre Hand an seine faltige Wange. Sein Blick war trüb geworden mit den Jahren. Er begleitete sie nun schon so lange. Sogar die Wunde an seinem Bein war ihre Schuld; sie würde niemals wieder heilen. Auch Menschen reagierten empfindlich auf eine Schattenklinge. Sie wäre tot und der Dolch verloren gewesen, wenn er ihr nicht zur Hilfe geeilt wäre. Somit verdankte der Azrae auch ihm den Besitz des Sonnensteindolches. Sie schloss die Augen, Schmerz huschte über ihr Gesicht, weshalb ihr geistlicher Freund hastig ihre Hand ergriff und sie sanft drückte.

»Beginnt es etwa schon?« In seiner Stimme schwang Furcht.

»Nein, keine Sorge«, antwortete sie beruhigend. Es ist nur die Schuld, die auf meinen Schultern lastet. Doch das konnte sie ihm nicht sagen. So viele verwirkte Leben. So viele Wunden an Leib und Seele von Unschuldigen. So viele Tote … An ihren Händen klebte Blut, und für einen Moment kamen auch ihr Zweifel, ob sie richtig gehandelt hatte. Dann aber lauschte sie tief in ihr Herz, und es füllte sich mit Wärme. Kein anderer wäre geeigneter gewesen. Niemand zuvor hatte ein solch reines Herz besessen, das strahlend aus dem Dunkel seiner gefallenen Seele leuchtete. Er würde kämpfen für diese Nephilim. Wenn nötig bis zum Tod. Sie wünschte ihm – ihnen beiden – dass es so weit nicht kommen musste. Dass sie nach all dem, was sie auf sich nehmen mussten, wenigstens die Chance auf ein bisschen gemeinsames Glück erhielten.

»Es ist gut!«, versuchte sie, Phillips Bedenken zu mildern. »Ich habe den Richtigen erwählt. Er ist einer der Pfeiler. Er ist das Schwert.«

Als Philipp sie verständnislos ansah, lachte Katharina leise. »Hast du es denn nicht bemerkt? Sie ist die Eine.« Ihr Blick wurde verträumt. »Was gäbe ich dafür, wenn ich sie einmal hätte berühren können. Auch so habe ich ihre Kraft gespürt. Sie ist der Kelch und er ihr Gefährte.«

»Katharina, wovon redest du?« Philipp runzelte ratlos die Stirn. »Meinst du wie Jesus und Maria Magdalena? Findest du nicht, dass dies sehr weit hergeholt ist?«

»Ist es das? Nun, zumindest eines ist gewiss. Sie ist bereits zum Kelch geworden.«

Begreifen malte sich auf seinen Zügen ab. Er hielt den Atem an. Erst, als sie ihm die Hand auf die Schulter legte und mit einem zuversichtlichen Lächeln nickte, entspannte er sich. Nichtsdestotrotz zogen dunkle Wolken über sein Gesicht.

»Was denkst du, wann sie kommen werden?«

Er sprach von den Seraphim, was unter diesen Umständen naheliegend war. Hüter verstießen gegen die Regeln, wenn sie die Dolche hingaben. Das würden sich die Seraphim nicht lange mit ansehen. Und nun jenes Paar … und Beth’ Wandlung … Es gehörte gewiss nicht zu ihren Plänen. Philipp sorgte sich mehr um Katharina als um die beiden. Jetzt sicher mehr denn je, da sie ausgerechnet ihm ihren Dolch gegeben hatte, auch wenn er nach dieser Eröffnung zweifellos verstand, warum sie sich so sicher war.

»In diesen Zeiten werden allerhand Regeln gebrochen«, versuchte sie ihren Freund zu beruhigen. Welche genau verschwieg sie ihm, doch dank des Wissen um sie rechnete Katharina schon bald mit der Ankunft der Seraphim. Vor allem die jüngsten Ereignisse würden es unabdingbar machen, dass sie ihren selbstgeschaffenen Thron verließen. Die Erschütterung musste bis ins Paradies hinein zu spüren gewesen sein. Die Träume der letzten Nächte waren alles andere als angenehm gewesen. Und das war erst der Anfang von dem, was ihnen bevorstand.

»Wie lange noch?«

»Ich weiß es nicht, Philipp«, antwortete Katharina wahrheitsgemäß. »Doch wenn es so weit ist, sollten wir vorbereitet sein. Der Erwählte wird sich ein letztes Mal beweisen müssen und sein Band zu der Einen bestätigen. Wir werden bald schon eine weite Reise unternehmen. Eine, von der so mancher nicht zurückkehren wird.«

Sie schenkte ihm einen langen Blick, und er nickte stumm. Es stand außer Frage, dass er sie begleitete. Zu lange schon kämpften sie Seite an Seite. Es hatte ihn viel gekostet, sie hoffte, dass auch er irgendwann seinen Lohn dafür erhielt. Wenn die falsche Seite gewann, würde Katharina ihn mit sich in die Hölle reißen. Sie wusste nicht, ob sie mit dieser Schuld weiterleben könnte. Falls sie dann noch weiterleben würden. In jedem Fall wäre das fortdauernde Bewusstsein dieser Schuld weit schlimmer als jeder noch so qualvolle Tod. Das hatte sie nun nicht mehr zu entscheiden. Die Würfel waren gefallen.


Müde stieg Proud die Stufen zur Villa hinauf. Das Haus lag still da. Offenbar war niemand mehr auf. Umso besser.

Zielstrebig ging er in die Bibliothek. Was er jetzt brauchte, war ein Drink. Und ein wenig Bettlektüre. Die konnte zumindest nicht schaden. Er ließ die Hand einen Moment über dem Servierwagen mit dem Whisky kreisen, griff dann jedoch wahllos zu. Scheißegal was, Hauptsache es war stark und spülte den widerlichen Geschmack von Whigfield aus seinem Mund.

»Wo bist du gewesen?« Kyles Stimme zerriss die Stille wie ein Messer.

Proud verdrehte die Augen, während er sich den Drink einschenkte. Er fühlte sich erschöpft und ausgelaugt. Von Leilas Übergang. Vor allem aber von den neuen Geheimnissen, die er erfahren hatte und von der Manipulation dieses Arztes, die er noch immer bereute. Er hätte ihm das Herz rausreißen sollen. Warum zur Hölle hatte er es nicht getan? Er war viel zu weich geworden.

Jedenfalls verspürte er gerade wenig Lust auf einen Plausch mit Kyle, der vermutlich ohnehin wieder in einem Streitgespräch enden würde. Die Frage, wie viel er ihm erzählen sollte, verwarf er sofort wieder. Kyle war nicht länger vertrauenswürdig. Er war ein Risiko. Nach dem, was er heute erfahren hatte, umso mehr. Gerade das, was Whigfield gesagt hatte, würde Proud garantiert niemandem weitergeben, der womöglich noch immer ein Spitzel von Greco war.

»Ich war im St. Johns«, sagte er kurz angebunden. Nicht, dass es Kyle überhaupt irgendetwas angehen würde, was er so trieb. Aber schließlich war das mal seine Aufgabe gewesen, die er ihm mehr oder weniger aufgebürdet hatte. Ein bisschen Stichelei sei da erlaubt.

Er musterte seinen Cousin mit hochgezogenen Augenbrauen und nippte am Whisky. »Ich gehe mal nicht davon aus, dass du den Job zurückhaben willst, oder? Ich meine … steht dir natürlich frei. Musst es nur sagen.«

Sofort wich Kyle seinem Blick aus, was Proud ein bitteres Lächeln auf die Lippen trieb. »Dachte ich mir«, murmelte er. Sie kannten die Antwort. Kyle hatte sein Schnitterdasein weit mehr gekostet als seine Beziehung zu Beth.

»Also, da du deine Neugier nun befriedigt hast, kannst du dich wieder in deinem Selbstmitleid verkriechen. Ich habe noch was Wichtiges zu tun.«

Als Kyle sich nicht rührte, breitete Proud die Arme zu einer fragenden Geste aus. »Sonst noch was?«

Mit missmutigem Gesicht wandte Kyle sich um und ging. Proud atmete erleichtert auf. Er blickte auf die Bücher, die auf dem kleinen Sekretär bereitlagen und praktisch nur auf ihn warteten. Der Ruf der Pflicht, aber irgendwie war sein Kopf heute so voll von Informationen, Fragen und Variablen einer vor ihnen liegenden Zukunft, dass er sich einfach nicht überwinden konnte. Lieber schenkte er sich einen zweiten Drink ein, ging zum Sofa hinüber und ließ sich darauffallen.

Am liebsten hätte er sich gleich die ganze Flasche durch die Kehle rinnen lassen, weil er befürchtete, den Geschmack von Whigfields Blut nie wieder loszuwerden. So also schmeckten Verrat und Gier.

Jemand klopfte zaghaft an der Tür.

»Ich bin nicht in der Stimmung«, antwortete Proud, seine Zunge war bereits schwer. Verdammt, er war nicht mehr im Training, was den Alkohol anging.

»Sir?« Gilles streckte seinen Kopf zur Tür herein.

»Was gibt’s, Gilles? Hat sich einer unserer Gäste über sein Lunchpaket beschwert?«

Der Butler antwortete nicht, sondern räusperte sich nur und blieb an der Tür stehen. Immerhin hatte er sich nun zur Gänze ins Zimmer geschoben und lehnte am geschlossenen Türblatt.

Proud beäugte ihn skeptisch mit gerunzelten Brauen. Die Miene seines Butlers war besorgt. Was zur Hölle … War es denn noch nicht genug für einen Abend?

»Na los, spuck es schon aus. Dir brennt doch was auf der Seele.«

Erneut räusperte sich Gilles, trat dann mutig einen Schritt nach vorn, was komischerweise den Eindruck erweckte, er würde damit sein sicheres Schutzschild im Rücken aufgeben.

»In der Tat, Sir. Da gibt es etwas. Vielleicht … hat es gar keine Bedeutung. Es ist nur so …«

Genervt rollte Proud mit den Augen. »Hör auf zu stottern wie ein Erstklässler. Was ist los? Du würdest nicht hier hereinkommen in der offenkundigen Absicht, mich unter vier Augen zu sprechen, wenn es nicht irgendein brisantes Thema wäre.«

»Nun, es geht um Mister Kyle, Sir.«

Proud runzelte die Stirn und blicke Gilles nachdenklich an. »Was ist mit meinem Cousin?«

Er sah Gilles an, wie unangenehm ihm die Situation war. Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen und verzog gequält die Lippen, knetete seine Hände, als könnte er so Worte hervorquetschen.

»Es steht mir vielleicht nicht zu, aber ich mache mir Sorgen um ihn. Und um Miss Beth.«

Proud runzelte die Stirn. So richtig wurde er daraus nicht schlau. Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als sein Handy in der Hosentasche vibrierte. Im Display stand Logans Nummer.

»Wenn du auch noch was zum skurrilen Tagesausklang beitragen willst, beeil dich. Dürfte inzwischen schwer werden, zu toppen, was mir so alles passiert ist.«

Zu Prouds Überraschung konnte Logan tatsächlich noch etwas dazu beitragen, diesen Tag zu einem der Verrücktesten in Prouds Leben zu machen.

»Einer meiner Leute hat herausgefunden, was aus deinem Surfermädchen geworden ist.«

Proud blieb für einen Moment die Luft weg. Kim? »Wo ist sie?«

»Das weiß ich nicht. Aber Jackson, er ist als Krähe in der Stadt auf Patroullie, hat mir vorhin erzählt, dass er ein Rudel Wölfe gesehen hat, das ein junges Mädchen verfolgt hat. Sie haben es aus der Stadt hinausgejagt. Ein großer Schwarzer hat sie sich geschnappt. Ich denke, du weißt so gut wie ich, womit wir es hier zu tun haben.«

Proud schluckte. »Kayden.«

Er konnte es fast vor sich sehen, wie Logan nickte und sich erschöpft übers Gesicht rieb. Was er hörte, war lediglich ein resigniertes Seufzen.

»Er hat es irgendwie geschafft, ein paar Halbwandler um sich zu scharen. Scheint, als ginge er auf Nephilim-Jagd. Ich werde die Sicherheitsmaßnahmen bei den Verstecken verschärfen, aber ich dachte mir, ich sag dir auch Bescheid, für den Fall, dass er zu euch kommt und sich Beth schnappen will. Bis zu ihm wird sich die Story um ihren Tod wohl noch nicht rumgesprochen haben.«

Es versetzte Proud einen Stich, dass Kim offenbar tot war. Von einem Wolf gerissen zu werden, war sicher keine schöne Art zu sterben. Außerdem hatte er die Kleine gemocht. Sie und Beth hätten Freundinnen werden können.

»Danke, Mann. Wir halten die Augen offen.«

Proud presste Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand auf seine Nasenwurzel und schloss für einen Moment die Augen. Noch mehr Sorgen. Dieser verdammte Wolf. Er hätte ihn in der Asservatenkammer häuten sollen. Wenn dieser Köter hier auftauchte und Beth auch nur anatmete, würde er das umgehend nachholen.

Ein Räuspern von der Tür erinnerte Proud, dass Gilles noch immer im Raum stand.

»Ach so, ja, Gilles. Was hast du noch gleich gesagt?«

Artig wiederholte der Butler Wort für Wort seine Sorge um Kyle und Beth. Angesichts dessen, was Logan ihm gerade erzählt hatte, wirkte es auf Proud alarmierend.

»Was ist los? Warum machst du dir Sorgen um Beth? Was hat Kyle getan?«

Er merkte kaum, wie seine Stimme lauter wurde, wie die Panik sie anschwellen ließ. Erst, als er einen Schritt auf Gilles zumachte und der zurückwich, zwang er sich wieder unter Kontrolle. Es brachte nichts, den Boten zu verschrecken, wenn man hören wollte, was er wusste.

Nachdem er stehen blieb und lediglich fragend die Brauen hob, fuhr Gilles fort, auch wenn er unübersehbar die Hand auf den Türknauf in seinem Rücken legte, um im Zweifelsfall schnellstmöglich die Flucht vor Prouds Zorn zu ergreifen.

»Nun, also, getan … hat er bisher eigentlich nichts. Aber immer wenn Sie nicht da sind, Sir, dann … dann sehe ich Mr. Kyle an Miss Beth’ Bett stehen, obwohl er sich sonst kaum in ihr Zimmer wagt. Das finde ich … seltsam.«

Allerdings. Das war seltsam. Kyle tat alles, um jeden von ihnen glauben zu machen, dass er sich nicht in Beth’ Nähe wagte, dabei suchte er sie in Wahrheit. Warum? Weil er nur bei ihr sein wollte, wenn sie allein waren? Um was zu tun?

»Da ist dieser Ausdruck in seinen Augen«, fuhr Gilles fort. »Ich will Mr. Kyle nichts unterstellen, doch … dieser Blick … er macht mir Angst. So … leer und … verloren.«

Ein Schauder rann über Prouds Rücken. Leer und verloren. Weil alles verging, was einen Sinn machte. Ein Schnitter ohne Antrieb, ohne Ziel im Leben. Kyle glaubte wirklich, Beth verloren zu haben. Da war nichts mehr, für das es sich zu leben lohnte. O Kyle.

Da war eine Spur Schuldbewusstsein in Proud. Andererseits … er konnte nichts dafür, wie es gekommen war. Alles, was er tun konnte, war auf Kyle genauso aufzupassen wie auf Beth.

»Scheint so, als wäre ich wohl doch eine Art Heilsbringer und Beschützer«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Gilles.

»Ich fürchte, wenn mir erlaubt ist, dies anzumerken, dass Mr. Kyle Miss Beth nicht einfach aufgeben wird. Pardon, was ich sagen möchte ist, er wird sie nicht Ihnen überlassen. Ich bin mir nicht sicher, zu was er fähig wäre, um das zu verhindern. Er hat sich sehr verändert … seit dieser … Sache.«

Proud seufzte. Oh ja, das hatte Kyle wirklich. Sie alle wussten das, versuchten, Verständnis aufzubringen und die Hoffnung nicht zu verlieren. Vor allem Logan tat, was er konnte, um Kyle irgendwie wieder zurückzuholen. Nicht nur physisch, sondern vor allem seelisch den alten Kyle wiederherzustellen. Proud war sich nicht sicher, ob das überhaupt noch möglich war. Sie alle hatten einen hohen Preis bezahlt, Beth womöglich den höchsten, aber Kyle folgte ihr dicht auf.

»Da ist … noch etwas«, brachte sich Gilles wieder in Erinnerung.

Bitte nicht, dachte Proud. Nicht noch mehr schlechte Nachrichten. Aber was konnte an diesem Tag noch schlimmer werden?

Wortlos reichte Gilles ihm einen kleinen Fetzen Papier, der an den Rändern deutlich verkohlt war. »Den hier habe ich im Kamin in Mr. Kyles Zimmer gefunden.«

Was auch immer für eine Nachricht auf dem ursprünglichen Papier gestanden hatte, sie würden es wohl nie erfahren, es sei denn, er prügelte es auch Kyle heraus. Aber von wem die Notiz stammte, stand außerfrage, denn die Handschrift war Proud durchaus bekannt. Er hätte das schwungvolle M überall wiedererkannt. M wie MAGNUS.


Rahul kämpfte darum, wieder an die Oberfläche zu kommen. Den Schlaf zu verlassen. Doch jedes Mal, wenn er die Realität nahen spürte, warf ihn etwas wieder zurück. Verdammt, was hatte Veer in den Tee getan? Konnte er niemandem mehr trauen? Hatte er sich und Zeyda in eine Falle gebracht?

Er spürte ihre Unruhe, ihre Angst. Hörte sie wimmern, was unzählige Horrorvisionen in ihm auslöste. Waren Grigori in der Nähe? Oder spielten ihm seine Sinne einen Streich?

Er musste aufwachen. Er musste Zeyda retten.

Ihr Wimmern wurde lauter. Angst schwang darin mit. Dann Panik. Sie litt Schmerzen. Was passierte da nur?

Von einer Sekunde zur anderen fielen die Fesseln von ihm ab, die ihn in Morpheus’ Armen hielten. Rahul fuhr hoch, die Muskeln angespannt, bereit zum Kampf. Das Blut rauschte ihm in den Ohren und er war willens, jeden zu töten, der Zeyda etwas antun wollte. Aber was er sah, war … nichts.

Sie lagen immer noch in Veers Wohnzimmer auf dem Diwan. Zeyda schlief friedlich neben ihm. Rahul musste einige Male blinzeln, weil die Sonne ihm direkt ins Gesicht schien. Wenigstens war es noch nicht wieder Nacht. »Du hattest einen Albtraum. Darum hab’ ich die Wirkung meines Schlaftrunks aufgehoben.«

Rahul wirbelte herum, hinter ihm stand Veer. Seine Miene war weder schuldbewusst noch besorgt.

»Du brauchtest Ruhe und Erholung. Wie es scheint, konnte ich dir beides nur bedingt verschaffen. Das macht es nicht leichter.«

Der Alte wandte sich um und winkte Rahul, ihm zu folgen. Mit einem letzten Blick auf Zeyda, die noch immer friedlich schlief, kam Rahul der Aufforderung nach.

»Weshalb hatte ich das Gefühl, Zeyda sei in Gefahr? Ich habe sie wimmern hören.«

Veer nickte verstehend. »Ihr habt einiges mitgemacht und die Zukunft, die vor euch liegt, ist ungewiss. Es fehlt dir an Vertrauen. Das kann ich gut verstehen.«

Der Händler begann, in seinen Regalen Dinge zu verschieben, Kästchen zu öffnen und Etiketten zu studieren, als suchte er nach etwas bestimmtem.

»Deine Gefährtin hat eine besondere Gabe. Sie ist eine Seherin unter den Nephilim. Manche von ihnen blicken in die Vergangenheit, andere in die Zukunft, aber was Zeyda sieht …« Veer wog den Kopf von rechts nach links. »Da ist eine Verbindung in ihr. Es muss sich noch zeigen, ob zum Guten oder zum Schlechten.«

Verunsichert rieb sich Rahul über die Arme und warf immer wieder einen Blick nach hinten in den Wohnbereich.

»Sie ist in Sicherheit«, betonte Veer beinah beiläufig, und es war ihm nicht anzumerken, ob Rahuls plötzliches Misstrauen ihn verletzte. »Solange ihr hier bleibt, werden sie euch nicht finden. Morgen Nacht seid ihr schon auf dem Weg nach L.A. Ich habe eine gute Freundin um Hilfe gebeten, ihr Name ist Kizmet, sie wird alles Nötige arrangieren.«

Irritiert schüttelte Rahul den Kopf. »Veer, was redest du da? Sobald es dunkel wird, werden die Grigori zurückkommen. Wir sind ihnen um Haaresbreite entkommen. Sie werden nicht lange brauchen, um unsere Spur wiederzufinden.«

Der Alte drehte sich zu ihm um und zeigte ein verschwörerisches Grinsen. »Warte nur ab. Du wirst erstaunt sein, wenn sie kommen.«

Noch ehe Rahul fragen konnte, was Veer damit meinte, stieß sein Freund einen kleinen Freudenruf aus. »Na, wer sagt es denn? Da ist es ja.«

Er zog eine kleine, verstaubte Kiste aus einem der untersten Regale hervor und stellte sie andächtig auf seinen Verkaufstresen. Erst jetzt bemerkte Rahul, dass Veer seinen Laden heute nicht geöffnet hatte. Was ging hier vor?

»Komm, sieh es dir an«, forderte Veer, während er sich an den Scharnieren der Kiste zu schaffen machte. Sie gab ein ächzendes Geräusch von sich, während er den Deckel zurückklappte. Darunter kam eine unscheinbare Kugel zum Vorschein, deren Oberfläche matt und korrodiert wirkte wie altes Kupfer. Man konnte einige Zeichen erkennen, die Rahul so noch nie gesehen hatte. Außerdem schien das Gebilde nicht aus einem Stück zu bestehen, sondern aus vielen winzigen, trapezförmigen Plättchen zusammengesetzt. Er hatte keine Ahnung, was das war oder wozu es dienen sollte. Umso seltsamer kam es ihm vor, dass sein Freund das Ding so ehrfürchtig wie den heiligen Gral behandelte.

»Dieses Artefakt … Es ist … viele tausend Jahre alt. Ich möchte, dass du es mitnimmst.«

»Was … ist es?«, fragte Rahul. »Was soll ich damit?«

Veer schüttelte bedeutungsschwer den Kopf. »Du kannst gar nichts damit tun, mein Freund. Leider. Es wird nur einen geben, der es in diesem Krieg einsetzen kann. Dir obliegt lediglich die Aufgabe, es seinem wahren Besitzer zu übergeben. Die Wahl triffst du allein, daher wähle weise. Es gibt keine zweite Chance, aber wenn alle Hoffnung zu schwinden scheint, kann dieses Artefakt zum Zünglein an der Waage werden und das Ruder zum Guten wenden. Oder zum Bösen. Das wird die Zeit zeigen – und dein Instinkt.«

Rahul schluckte. Es gefiel ihm nicht, was Veer da sagte. Alles in ihm sträubte sich dagegen, diese Kugel anzunehmen. Gleichzeitig ergriff die Gewissheit von ihm Besitz, dass er diese Verantwortung nicht ablehnen konnte.

Veer drehte sich zu ihm um und sah ihm ernst in die Augen. »Verwahre sie gut. Verbirg sie, so lange du kannst. Erst, wenn du sicher bist, den gefunden zu haben, für den sie bestimmt ist, darfst du sie preisgeben. Dann hält er die Macht in den Händen, das Urböse zu vernichten.«

»Und wenn … ich sie dem Falschen gebe?«

Veers Ausdruck wurde undurchdringlich. Sein Blick ging in weite Ferne. »Dann … werden wir alle untergehen.«

Uriel

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