Читать книгу Uriel - Tanya Carpenter - Страница 14

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Kapitel 5

Blinzelnd nahm Kim ihre unmittelbare Umgebung wahr. Sie wusste nicht, wie lange sie bewusstlos gewesen war. Überhaupt befand sich dort, wo ihr Erinnerungsvermögen sein sollte, nichts als ein großes schwarzes Loch. Ihr Kopf fühlte sich dumpf und wund an, als wäre er mit Glaswolle gefüllt. Einige Fasern derselben mussten weiter nach unten gerutscht sein, denn ihr Hals kratzte und das Schlucken fiel ihr schwer.

Sie lag in einem abgedunkelten Raum. Immerhin auf einem recht bequemem Bett. Vorsichtig sah sie sich um, was dazu führte, dass sich alles zu drehen begann. Gar nicht gut. Ihr wurde übel. Zwar erkannte sie grobe Umrisse von Schränken und irgendwo links in der Wand schien sich eine Tür zu befinden, doch ganz sicher war sie nicht.

Kim versuchte es anders und wollte sich auf die Seite drehen. Ein scharfer Schmerz hielt sie augenblicklich davon ab und riss sie fast entzwei. Es presste ihr alle Luft aus den Lungen. Verdammt, was war mit ihr passiert?

Mit den Fingern tastete sie die Stelle an ihrer Taille ab, wo der Schmerz seinen Ursprung zu nehmen schien. Dort lag ein Verband, der sich klebrig-feucht anfühlte. Gleichzeitig breitete sich ein metallischer Geruch aus. O Gott, war das Blut? Ihr Blut?

Im selben Moment brach eine Flut von Bildern über sie herein, die Kim augenblicklich wünschen ließ, das schwarze Loch wäre noch da. Reißende Zähne, lang und gelb, von Geifer triefend. Stinkender Atem. Und diese glühenden Augen …

Ihr Herz raste noch einmal so schnell wie bei ihrer Flucht. Es war ein Wunder, dass sie noch lebte. Im Augenblick des Bisses war sie überzeugt gewesen zu sterben, weil dieser Wolf, oder was immer das gewesen war, sie in Stücke reißen und auffressen würde.

Warum war sie dann hier? Hatte die Bestie von ihr abgelassen? Hatte jemand das Tier vertrieben und sie gerettet? Aber weshalb war sie dann nicht in einem Krankenhaus?

All die Fragen bereiteten ihr Kopfschmerzen. Außerdem verschwamm der Raum ständig vor ihren Augen. Vermutlich hatte sie eine Gehirnerschütterung. Schwäche ließ ihre Glieder zittern, also sank Kim wieder auf das Bett zurück und versuchte, sich zur Ruhe zu zwingen. Panik brachte nichts. Sie musste ihren Kopf klar bekommen und herausfinden, was in dieser Nacht passiert war, und wie lange die zurücklag.

Leise wurde die Tür geöffnet und für einen Moment drang mehr Licht in das Zimmer. Im Türrahmen erschienen zwei Personen, von denen eine männlich und eine weiblich zu sein schien.

»Ah, sieh mal Prue. Unser Gast ist erwacht. Das ist doch ein gutes Zeichen, oder nicht?«

Der Mann, der das sagte, betätigte den Lichtschalter, wodurch Kim kurzzeitig geblendet wurde. Aber als sie erneut die Augen aufschlug, justierte sich das Bild und das unsägliche Drehen schmolz zu einem Schaukeln. Sie konnte ihre beiden Besucher deutlicher erkennen, war aber weder der Frau noch ihrem Begleiter je zuvor begegnet. Nicht wissentlich zumindest.

Erstere beugte sich über sie, wobei ihre purpurfarbenen Haare Kims Hals und Schultern streiften und sie erschaudern ließen. Fasziniert betrachtete sie die einzelne, etwa handbreit dicke, weiße Strähne der Fremden.

»Mhm!«, machte die Frau. Eine Ärztin schien sie nicht zu sein, obwohl sie augenscheinlich Kims Gesundheitszustand prüfte.

»Ich denke, sie ist über den Berg. Er hat sie nicht so schwer verletzt, wie es auf den ersten Blick aussah.«

»Sie blutet noch immer«, schaltete sich der Mann ein, was dessen Begleiterin spöttisch lachen ließ.

»Beunruhigt dich das, Liebling? Keine Sorge, es ist nicht lebensbedrohlich. Die Blutung steht, es ist nur der Verband, der etwas durchgeweicht ist. Aber das war zu erwarten. Ich mache ihn gleich frisch.«

Mit geübten Händen löste die Frau den Verband an Kims Seite, betastete die Wunde, was einen reißenden Schmerz auslöste, doch allem Anschein nach blieb der Wundschorf intakt. Anschließend strich sie eine seltsam riechende Textur auf die Verletzung und legte neue Gaze auf, die sie mit einigen Pflasterstreifen befestigte.

»Schon fertig«, säuselte sie und erhob sich mit einem süßlich-aufgesetzten Lächeln.

»Der Wolf«, begann Kim. Ihre Stimme klang rostig wie eine alte Gießkanne. »Ist er … tot? Es war doch ein Wolf …, oder?«

Die Augenbrauen ihrer Therapeutin hoben sich skeptisch. Kim fiel auf, wie perfekt sie waren. Alles an dieser Frau war perfekt. So perfekt, dass es einem fast schon wehtat.

»Besser wäre es«, murmelte die Schönheit und warf ihrem Begleiter einen undeutbaren Blick zu.

»Aber Prue! Sei nicht so unfair. Es war ein Versehen, und letztlich ist ihr ja nichts passiert.«

Prue schnaubte und drehte sich mit rauschenden Röcken um. »Ihr Verband muss in ein paar Stunden wieder gewechselt werden. Am besten stellst du eine Krankenschwester für sie ein, so was ist auf Dauer unter meiner Würde. Ich werde etwas zusammenmischen, das ihren Blutverlust ausgleicht. Der Kopf wird ihr noch ein paar Tage Schwierigkeiten bereiten, aber da sie sich schon wieder erinnern kann, ist der Schaden wohl vertretbar.« Der Blick, den sie dem Mann dabei zuwarf, wirkte, als ginge sie davon aus, dass in Kims Kopf sowieso nicht viel vorhanden war, das Schaden nehmen könnte. Tränen brannten in Kims Augen, schnürten ihr die Kehle zu. Tapfer schluckte sie sie hinunter.

Kopfschüttelnd blickte der Mann der entschwindenden Prue hinterher, ehe er sich Kim zuwandte. Er sah beinah aus wie ein Indianer, wenn da nur nicht diese türkisfarbenen Augen gewesen wären.

»Ich bin Greco«, stellte er sich vor. »Und du bist hier in Sicherheit.«

Sie beäugte ihn misstrauisch. »Das hier ist keine Klinik«, stellte sie fest. »Und Sie sind kein Arzt. Sie sind beide keine Ärzte.«

Er lachte aufgrund ihrer Schlussfolgerungen. »Da hast du wohl recht. Obwohl Prue dir eine ausgesprochen hilfreiche Medizin zusammenmixen wird. Ich an deiner Stelle würde sie nehmen. Auch wenn Prue kein Medizinstudium vorzuweisen hat; sie weiß trotzdem mehr über Heilkräfte als der gesamte Ärztestamm im St. Johns Medical Center.«

»Prue …? Ist das Ihre Freundin?«

»Freundin ist wohl übertrieben«, erklärte Greco. »Wir leben zusammen. Zweckmäßig sozusagen.« Er grinste süffisant und zwinkerte ihr zu. »Ich verrate dir ein Geheimnis, eigentlich heißt sie Prudence. Aber sie hasst diesen Namen und daher vermeide ich tunlichst, ihn in ihrer Gegenwart zu benutzen. Außer, ich will sie ärgern. Das wird dann jedes Mal sehr unangenehm.«

Er lachte, ließ aber offen, für wen es unangenehm wurde.

»Haben Sie … den Wolf getötet, der mich angegriffen hat?«

Greco wiegte den Kopf von einer Seite zur anderen. »Sagen wir, ich habe dafür gesorgt, dass er dir kein Leid mehr zufügt. Das mit deiner Verletzung tut mir leid.« Er wirkte ehrlich betroffen darüber. Warum nur? Er konnte ja nichts dafür. »Tut es sehr weh?«

»Es geht«, log sie, obwohl der Schmerz Übelkeit verursachte, die in Wellen kam und ging.

»Mhm!« Er sah sie nachdenklich an, offenbar glaubte er ihr nicht. »Du solltest dich noch eine Weile ausruhen. Es wird sicher bald besser.« Er zögerte, schien zu überlegen und nickte schließlich wie zu sich selbst. »Schlaf ist immer heilsam. Also schläfst du am besten. Ich werde Prue darum bitten, dir etwas zu geben.«

Nachdem er gegangen war, blieb eine erdrückende Leere zurück. Weiterschlafen? Es klang verlockend, weil sie damit der Wahrheit hätte entkommen können, die sie immer noch nicht verstand. Doch sie war nicht müde, nur erschöpft. Außerdem tat ihre Seite viel zu weh, um einzuschlafen. Diese komische Salbe brannte. Wenn sie still dalag, pochte es mit jedem Herzschlag. Hoffentlich hatte sich die Wunde nicht entzündet. Oder vielleicht war auch die Salbe verunreinigt? Ungeeignet? Greco hatte selbst gesagt, dass Prue keine Ärztin war. Ob sie dann an einer Blutvergiftung starb? Der Wolf könnte auch krank gewesen sein. Wenn sie nun Tollwut bekam? Oder sonst was?

Ehe sich die Panik in ihr manifestieren konnte, kehrte Prue wieder zurück. Sie stellte einen Becher auf den Nachttisch.

»Ich rate dir, das zu trinken.«

»Was … ist das?« Eine leise Stimme warnte Kim davor, den Becher auch nur anzurühren.

»Frag nicht. Wenn du es weißt, wirst du es nicht mehr trinken wollen.« Erneut dieses süßliche Lächeln, das so falsch wirkte wie die Wahlversprechungen der Politiker.

»Ich glaube …, ich … verzichte.«

Prue zuckte unbeeindruckt die Schultern. »Gut. Deine Wahl. Greco wird nicht begeistert sein und …« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause, ehe sie mit einem weitaus boshafteren, dafür aber umso ehrlicheren Lächeln weitersprach. »Wenn die Schmerzen unerträglich werden, wirst du es sowieso trinken, glaub’ mir. Also kannst du es auch gleich tun. Wenn wir dir schaden wollten, hätten wir dich wohl kaum aufwachen lassen, meinst du nicht?«

Ohne Kims Antwort abzuwarten, drehte sich Prue um und verließ dem Raum. Als ob es ihren Worten Nachdruck verleihen wollte, setzte umgehend der Schmerz in Kims Seite mit so viel Heftigkeit ein, dass sie sich auf den Fußboden übergab. Kalter Schweiß überzog ihren Körper und ihr Blick wurde von dem unheimlichen Gebräu auf ihrem Nachttisch nahezu magisch angezogen.


Trotz seiner inneren Unruhe und Sorge hatte sich Proud ein paar Stunden Schlaf gegönnt, um nicht völlig durchzudrehen. Erstaunlich, wie groß die Erschöpfung unter solchen Umständen auch für einen der ihren werden konnte, obwohl sie für gemeinhin relativ wenig Schlaf benötigten.

Sein Erwachen hielt die nächste unliebsame Überraschung für ihn bereit. Entgegen Prouds Überzeugung hatte Logan bereits mit Lillith gesprochen und sie auch gleich mitgebracht, damit sie versuchte, Beth in ihrer Bewusstlosigkeit zu erreichen und zurückzuholen. Er war fest entschlossen, sie dabei nicht aus den Augen zu lassen, denn er vertraute ihr nicht im Geringsten. Ganz im Gegensatz zu Logan. Was verband den Cherub nur mit dieser Hexe?

Ohne sich an seiner offensichtlichen Skepsis zu stören, zündete Lillith unzählige weiße und schwarze Kerzen an, die sie mitgebracht hatte. Anschließend streute sie Salz in einem Halbkreis um das Bett herum, ehe sie ein Stück Kreide hervorholte und mystische Zeichen auf den Boden malte.

Nachdem sie damit fertig war, trat sie zurück und atmete tief durch.

»Wenn Magnus davon erfährt, wird er mich umbringen.«

Warum tat sie es dann? Ihm lag auf der Zunge, dass er sie nicht darum gebeten hatte und sie jederzeit verschwinden könnte, aber er schluckte die Worte hinunter, weil der Funken Hoffnung, dass sie Erfolg hatte, einfach mächtiger war als sein Argwohn.

»Wenn Beth auch nur das geringste Leid bei diesem Zauber hier widerfährt, wird es nicht der Uriel sein, vor dem du dich fürchten musst, Hexe«, grollte er drohend. Logans warnende Miene mit hochgezogenen Brauen ignorierte er geflissentlich.

Lillith begegnete seinem Blick ohne Furcht. »Ich dachte, inzwischen wüsstest du, dass ich auf eurer Seite stehe.«

Darüber konnte er nur lachen, aber gerade fehlte ihm der Humor. Er nahm sich vor, sie später zu fragen, ob Magnus den Kontakt zu Kyle gesucht hatte. Wenn es einer wissen konnte, dann vermutlich sie.

»Geht jetzt. Alle!«, verlangte die Strigoi.

Kyle kam ihrer Bitte augenblicklich nach. Ebenso wie Kesha und Lloyd. Zurück blieben nur Proud und Logan. Der Herr der Gestaltwandler fasste ihn fest am Oberarm, Proud rührte sich keinen Millimeter.

»Ich kann das Ritual nicht in eurem Beisein durchführen«, erklärte Lillith.

Proud verengte die Augen drohend zu schmalen Schlitzen.

»Lass sie machen«, raunte Logan. »Lillith weiß, was sie tut.«

»Das rate ich ihr.«

Noch immer sträubte sich alles in ihm, Beth mit ihr allein zu lassen, aber ihm blieb wohl keine Wahl, weshalb er Logan schließlich folgte. Das Geräusch der Zimmertür, die sich hinter ihnen Schloss, war wie ein Dolch in seinem Herzen.

Über eine Stunde blieb die Hexe mit Beth allein. Jede Sekunde davon marterte Prouds Seele. Die Unruhe in ihm wuchs beständig. Nicht einmal Logan wusste, was genau Lillith dort tat. Was, wenn sie Beth etwas antat? Oder noch schlimmer: Sie entführte?

Logan war zumindest oben vor der Zimmertür geblieben und hatte versprochen, aufzupassen. Der Rest von ihnen harrte im Erdgeschoss aus und fieberte der Rückkehr von Magnus’ Strigoi entgegen.

Proud war bereits drauf und dran, den Ritualraum zu stürmen, als sich endlich die Tür des Salons öffnete und die Hexe an Logans Seite eintrat. Sowohl Proud wie auch Kyle sprangen augenblicklich auf die Füße und blickten Lillith angespannt entgegen.

»Es ist kein Zauber, der auf ihr liegt«, erklärte sie ohne Umschweife. »Das ist einerseits gut, weil ich einen fremden Zauber nur bedingt aufheben kann, wie ihr wisst. Aber andererseits ist es schlecht, da ich keine Ahnung habe, was sonst der Grund für ihren komaähnlichen Schlaf ist. Daher kann ich ihr im Augenblick nicht helfen. Sofern ich das beurteilen kann, fehlt ihr weder körperlich noch seelisch etwas. Ich kann nicht sagen, was sie in diesen Träumen festhält. Die Wandlung ist es jedenfalls nicht. Sie ist fast vollendet, der Körper wehrt sich nicht dagegen. Trotzdem will sie nicht aufwachen. Keins meiner Elixiere und keiner meiner Zaubersprüche zeigt irgendeine Wirkung. Ich erreiche sie nicht. Eine seelische Verbindung, um sie aus dem Schlaf herauszurufen, kann ich nicht knüpfen, was aber nicht ungewöhnlich ist. Das ist mit einem Azrae schlicht nicht möglich und sie ist praktisch bereits einer.«

Resigniert ließ Kyle die Schultern hängen. Diese Neuigkeit sog ihm alle Kraft aus dem Körper, das war nicht zu übersehen. Es reichte nicht einmal mehr für einen anklagenden Blick Richtung Proud, und er musste zugeben, dass er sich gerade nicht darüber freuen konnte. Er litt genauso wie Kyle; vielleicht sogar ein bisschen mehr. Er hatte es nur gut gemeint, hatte sie retten wollen und jetzt sah es so aus, als ob er sie ins Niemandsland geschickt hatte.

Lloyd rieb sich ratlos über das Gesicht, während Kesha das ihre in den Händen verbarg, wohl damit niemand ihre Tränen sah. Selbst Gilles schluckte und hatte sichtlich Mühe, Haltung zu bewahren. Er entschuldigte sich mit einer gemurmelten Ausrede und verschwand in der Küche. Proud wusste, er mochte den kleinen Halbengel sehr und sorgte sich nicht weniger als der Rest von ihnen.

Enttäuscht wandte er sich selbst zum Fenster und starrte hinaus. Er gab es nicht gern zu, aber im Grunde hatte er alle Hoffnung auf Lillith gesetzt, seitdem sie die Schwelle zu ihrem Zuhause übertreten hatte. Misstrauen hin oder her, wenn sie Beth hätte helfen können, wäre ihm eine große Last von den Schultern genommen worden. Jetzt musste er weiterhin um sie fürchten. Angst und Schuld nagten tiefe Löcher in sein Herz und in sein Gewissen.

»Es tut mir sehr leid«, sagte Lillith und wollte Proud tröstend die Hand auf den Arm legen. Keine Frage, es sagte viel aus, dass sie zu ihm kam und nicht zu Kyle ging, um Trost zu spenden. Proud wich ihr dennoch aus und funkelte sie zornig an. Dass diese Wut nicht ihr, sondern ihm selbst galt, spielte dabei keine Rolle.

»Fein! Hätten wir das also auch geklärt. Wenn man eine Strigoi mal braucht, bekommt sie es nicht hin. Super!«

Schuldbewusst und resigniert blickte Lillith zu Logan, der kaum merklich den Kopf schüttelte.

»Was?«, knurrte Proud sofort. »Es ist doch wahr. Sie kann Beth nicht helfen, also nutzt sie uns nichts. Und trotz ihrer Quacksalberei ist Kyle noch genauso labil wie zuvor. Du hättest sie überhaupt nicht herbringen sollen.«

Ungehalten schlug er mit der Faust gegen die Scheibe, sodass sie in tausend Scherben zerbrach. Die Splitter zerschnitten ihm die Fingerknöchel, was er ignorierte. Stattdessen verließ er voller Zorn den Raum und überließ die Übrigen ihren trostlosen und verzweifelten Gedanken. Heute gehörte Logans Bike ihm. Sein Cousin hatte es lange genug unrechtmäßig beansprucht um damit seinen Dämonen zu entfliehen. Wobei er gescheitert war. Sollte Kyle also doch zur Hölle fahren, von Prouds Warte aus, auch gern mit dem Fahrrad.


Zeyda erwachte, als die Sonne am Horizont versank. Ihr war kalt – und sie fühlte eine wahnsinnige Angst. Die Nacht kam – und mit ihr die Grigori.

»Scht! Veer sagt, wir sind hier sicher.«

Rahul hielt ihre Hand und strich ihr beruhigend über den Kopf. Trotzdem spürte Zeyda seine Unruhe.

Sie waren nicht allein. Als sie hier angekommen waren, war sie zu müde und zu schwach gewesen, um den Freund ihres Azrae-Gefährten genauer zu betrachten. Jetzt holte sie es nach. Was sie sah, war ein alter Mann mit überraschend wachen, klugen Augen. Solche Augen, die alle Wunder der Welt erblickt haben könnten. In diesem Moment sah Zeyda darin hingegen Furcht. Eine grenzenlose, abgrundtiefe Furcht, deren Ursprung selbst diesem Mann nicht bewusst war.

Sie griff nach Rahuls Hand, ohne den Alten aus den Augen zu lassen. Ihr Misstrauen blieb nicht unbemerkt, löste bei Veer aber keinerlei Reaktion aus.

»Wir sollten gehen«, bat sie leise.

»Nein!«, sagte Rahul. Die Entschlossenheit, in seiner Stimme verwandelte ihren Magen in einen eisigen Klumpen. Panisch wandte sie sich ihm zu. »Vertrau mir.« Er klang ruhig und besonnen. Leider übertrug sich diese Ruhe nicht auf sie. Da war Gefahr. In der nächsten Sekunde wurde auch bereits deutlich, woher sie kam.

Ein lauter Schlag ließ das Gebäude regelrecht erzittern und Zeyda aufschreien. Allmählich wurde das alles zu viel. Sie hatte diese Träume. Viele Jahre schon. Sie sah dieses andere Mädchen mit engelsblondem Haar und wusste, sie musste zu ihr. Irgendwann. Irgendwie. Weil sie etwas verband. Diese Fremde hatte ihr schon viel gezeigt, aber auf all die Dinge, die seit ihrer Begegnung mit Rahul geschehen waren, hatte es sie nicht vorbereitet.

Sie reute nichts. Sie wollte Rahul nicht verlassen, weil sie spürte, dass sie zueinander gehörten. Nur alles, was damit einherging, zwang sie zusehends in die Knie, auch wenn sie wusste, sie durfte es sich nicht anmerken lassen. Sie musste stark sein. Weil sie eine Bestimmung hatten. Um die zu erfüllen, galt es zunächst zu überleben.

»Sie versuchen, den Bannkreis zu durchbrechen«, erklärte Veer.

»Bannkreis?«

»Ein Schutzzauber. Gewebt von einer Strigoi. Es ist schon erstaunlich, was diese Hexen bewirken können.«

Zeyda sah, wie Rahul ungläubig die Augen aufriss. »Eine Strigoi? Sagtest du nicht, die Uriel …«

Der Alte hob die Hand. »Ich sagte dir schon, dass auch unter ihnen solche sind, die das Herz am rechten Fleck haben. Heute Nacht müsst ihr nicht flüchten. Dennoch bleibt uns wenig Zeit, um eure Abreise vorzubereiten.«

Erneut bebten die Wände der Behausung, begleitet von einem Donnergrollen. Draußen erklangen Schreie.

»Sie werden es die ganze Nacht versuchen. Für Fragen haben wir keine Zeit. Glaubt daran, dass der Zauber hält.«

Zeyda wurde das ungute Gefühl nicht los, dass Veer damit unliebsame Fragen schlicht vermeiden wollte. Rahul schien es ähnlich zu gehen, obwohl er nicht widersprach.

»Ich habe Flugtickets für euch beide. Für morgen Nachmittag.«

»Wohin?«

Noch während sie die Frage stellte, erkannte sie an den Gesichtern der beiden Männer, dass sie bereits darüber gesprochen hatten. Zeydas Angst verwandelte sich schlagartig in Zorn.

»Ist es zu viel verlangt, wenn ich eingeweiht werde? Immerhin wollen diese Typen da draußen mein Blut.«

Rahul trat an sie heran und fasste sie an den Schultern. »Wir müssen hier weg, das weißt du. Es ist egal, wie und wohin. Veer sagt, die Nephilim versammeln sich in Los Angeles.«

Sie schluckte. »Wenn er das weiß, dann die Grigori sicher auch. Hältst du es für so eine gute Idee, dann dorthin zu gehen?«

Er nickte, und er schien dabei überzeugt. »Der Älteste wacht über die Stadt. Den Gerüchten zufolge fließt sein Blut in den Adern der Nephilim. Vielleicht ist es eine Metapher, aber er beschützt diejenigen, die in die Stadt der Engel zurückkehren. Es ist die einzige Chance, die wir im Augenblick haben – und sie ist so gut wie jede andere.«

Sie hätte dem gern widersprochen, wenn ihr etwas Passendes eingefallen war. Die Vorstellung, dorthin zu gehen, wo andere wie sie waren, machte ihr Angst. Dann hätten die Grigori – oder wer auch immer hinter ihr und ihresgleichen her war – sie alle auf einem Haufen. Perfekte Voraussetzungen, oder nicht? Wäre da nur die Gewissheit nicht gewesen, dass sie sich damit irrte. Kein anderer Grigori würde dort Zugriff auf sie haben. Sie blickte sich um, öffnete ihre Sinne. Sie konnte den Bannkreis hören. Ein schwaches, beständiges Summen. Er würde halten. Wer immer ihn gewebt hatte, wollte, dass sie nach L.A. ging. Was also blieb ihr und Rahul für eine Wahl?

Erneute Schreie ließen sie zusammenzucken. Hektisch huschte ihr Blick zu Rahul. Worte waren nicht nötig, um zu erklären, war dort geschah.

»Sie töten Menschen«, flüsterte sie heiser, Tränen stiegen ihr in die Augen. Schuld schnürte ihr die Kehle zu.

»Ja«, bestätigte Veer. Er klang dabei niedergeschlagen, gleichzeitig aber auch entschlossen, diese Tatsache zu ignorieren. Es war eine Falle, keine Frage. Denen waren die Opfer egal. »Manchmal gibt es leider Opfer.«

»Kann dieser … dieser Schutzzauber nicht auch sie …«

»Bedauerlicherweise nicht.«

Zeyda wirbelte herum, und auch Rahul wandte sich der unbekannten Stimme zu. Aus dem Verkaufsraum trat eine hochgewachsene Frau in den Wohnbereich. Ihre Züge wirkten eine Spur arrogant, sie trug Kleidung wie eine europäische Zigeunerin und in ihrem dunkelroten Haar, das bis zur Taille herabfiel, prangte eine goldbraune Strähne.

»Mein Name ist Kizmet.« Glöckchen klingelten an ihren Hand- und Fußgelenken, als sie nähertrat. »Ihr kennt mich nicht, aber das ist im Augenblick nicht wichtig. Ich werde dafür sorgen, dass ihr morgen sicher zum Flughafen gelangt. Man erwartet euch in den Staaten bereits. Dort habt ihr Freunde, auch wenn ihr die bisher ebenfalls nicht kennt.«

»Wer garantiert uns, dass dort nicht andere Grigori auf uns warten? Um Zeyda zu töten, ehe wir den Schutz des Oberhauptes von L.A. erreichen?«, verlangte Rahul zu wissen, woraufhin die Zigeunerin – oder Strigoi, wie er sie genannt hatte – amüsiert lachte.

»Ein bisschen viel Aufwand, den ich dafür betreiben würde, meinst du nicht, Azrae? Die Flugtickets sind nicht gerade billig, und so ein Schutzzauber kostet eine wie mich viel Kraft. Wenn mir euer Leben gleichgültig wäre, könnte ich euch auch denen da draußen überlassen.«

»Es sei denn, jemand bezahlt dich gut dafür, dass du uns auslieferst.«

Wenn seine Worte sie beleidigten, zeigte Kizmet es nicht. »Niemand bezahlt mich. Das solltest du doch wissen. Eine Strigoi dient nur einem Herrn, und einen Uriel interessiert kein Geld.«

»Und wo ist dein Uriel jetzt?«

Kizmet antwortete nicht, sondern kam noch näher, bis sie direkt vor Zeyda stand. Dass Rahul sich schützend vor sie stellen wollte, ignorierte die Strigoi einfach und schob ihn beiseite, als wäre der Todesengel nichts anderes als eine Strohpuppe. Instinktiv wollte Zeyda zurückweichen, aber Kizmet packte ihr Handgelenk und legte die Finger ihrer anderen Hand an Zeydas Schläfe. Unvermittelt setzte eine Flut von Bildern ein, die sie mit sich fortrissen. Rahul, Veer, das Zimmer, sogar die Grigori draußen in den Straßen und die Todesschreie der Menschen, die ihr vor Minuten noch Seelenqualen und Schuldgefühle bereitet hatten, wurden jäh bedeutungslos. Es gab nur noch sie und Kizmet und das, was sie von der Hexe erfuhr. Über ihre blonde Schwester und eine Bestimmung, die sich wie ein gähnender Abgrund unter ihr öffnete.

Uriel

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