Читать книгу Leipziger Mörderquartett - Tatjana Böhme-Mehner - Страница 11

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Es war das Brodeln des Wasserkochers, das Anna aus ihren Gedanken riss. Nicht das erste Mal an diesem Sonntagmorgen. Schon die vierte Tasse Klarer-Kopf-Tee sollte ihr helfen, einen roten Faden für ihren Text zu finden. Diesen Faden musste sie haben, bevor sie Kramer zurückrief. Der hatte den Rückruf mittlerweile neunmal auf ihrem Anrufbeantworter eingefordert. Viermal bereits gestern Abend. Nein, sie hatte weder gut noch lange geschlafen.

Als sie sich aus dem In-and-Out geschleppt hatte und endlich eine riesige Brise Frischluft schnappen wollte, hatte ihr die Signalfunktion ihres Handys unmissverständlich klargemacht, dass hier draußen das Leben weitergegangen war. Sieben neue Nachrichten; das war auch für die Journalistin eher ungewöhnlich, noch dazu um diese Uhrzeit. Zweimal ihre Mutter, seit vier Tagen hatte Anna vergessen, sie davon in Kenntnis zu setzen, dass sie noch lebte, es ihr gut ging und sie viel zu tun hatte. Einmal die automatische Ansage vom Sushi-Laden, der sie freundlich darauf aufmerksam machte, dass sie den einzigartigen Gutscheincode für treue Kunden durch Nichtstun aufs Spiel setzte. Zwei Maki gratis seien bald verloren. »Nur noch bis Happy Wednesday!«, hatte die Ansagestimme mit ihrem asiatischen Akzent gesagt. Ob man die Akzente von Chinesen, Koreanern, Japanern, Vietnamesen im Englischen oder Deutschen eigentlich genauso unterscheiden konnte? Schließlich erkannte Anna auch am Akzent, ob sie es mit einem Italiener, Franzosen oder Engländer zu tun hatte. Ob ihr Gutschein tatsächlich von einem Japaner kam? Im Moment wohl ihr geringstes Problem …

Die Frischluft hatte Annas graue Zellen wieder in Gang gebracht und sie hatte sich entschlossen, über die Verwendung des Gutscheins zu entscheiden, falls sie nächste Woche ihren Job noch haben würde. Die anderen vier Anrufe waren nämlich von Kramer gewesen. Andreas Kramer, Ressortleiter Kultur beim »Täglichen Anzeiger«. Normalerweise war das Oberhaupt des hiesigen Feuilletons entspannt, ein Allrounder ohne spezielles Fachgebiet; er konnte zu allem etwas sagen – Literatur, Theater, bildende Kunst. Ein bisschen auch zur Musik, aber da überließ er Anna gern das Feld und vertraute dem aus einem langen Musikwissenschaftsstudium erwachsenen Spezialwissen, das er hin und wieder gern monierte, weil man an den Leser denken müsse und nicht jeder die Lebensdaten von Beethoven auswendig kenne. Zeitgemäßer, spannender Journalismus war sein Schlagwort im Schlepptau von Chefredakteur Schrottheimer, der, wie aktuell unter Chefredakteuren nicht ungebräuchlich, von Spezialwissen recht wenig hielt. Genau wie von kleingliedriger Ressortstruktur und der Versorgung von kaum anzeigenrelevanten Minderheiten. Mit Anna persönlich hatte jedoch keiner der beiden ein Problem, und deshalb hatte die Musik noch immer ihren Platz im »Täglichen Anzeiger«. Auch Anna kam mit beiden klar. Bis jetzt. Denn Anna wusste, dass man sich mit Mitte 30 einen solchen Anfängerfehler nicht leisten konnte. Da machte es wenig Sinn, sich mit den ungewöhnlichen Umständen des gestrigen Tages herauszureden. Fehlende Professionalität wäre das Geringste, das man ihr vorwerfen würde.

Kramers erster Anruf hatte noch besorgt geklungen. Wie Anna es vermutet hatte, hatten die Lokalen den Polizeifunk ausgeschlachtet. Harald, gewiefter Lokalreporter, der die Nase bei der Nachrichtenbeschaffung gern nicht ganz ethisch einwandfrei vorn hatte, hatte bei Kramer angerufen, um zu erfahren, ob der »da jemanden drin« habe. Zu diesem Zeitpunkt war nicht klar gewesen, was »da drin« passiert war. Man hatte aber mitbekommen, dass ein Großaufgebot an Polizei, THW und Rettungswagen auf dem Weg zum In-and-Out war. Daraufhin hatte Andreas Kramer, durchaus besorgt um seine Mitarbeiterin, zum Hörer gegriffen. Beim vierten Anruf des Abends – es war inzwischen nach draußen gedrungen, dass man bei diesem Konzert nicht versucht hatte, die Kritikerin zu meucheln – war der Chef eher konsterniert gewesen. Man hätte wenigstens die Internetausgabe, die es auch am Sonntag gab, mit einem kleinen Bericht direkt vom Geschehen verzieren können. Dafür sei es nun zu spät. Anna hatte die drei Fragezeichen in seiner Stimme gehört, und weil sie nicht gewusst hatte, was sie sagen sollte, verschob sie den Rückruf seit gestern Abend.

Gestern hätte sie noch sagen können, dass im In-and-Out kein Empfang … dass die Ordnungskräfte … Aber mittlerweile, zehn Stunden später, war das nicht mehr möglich. Sie konnte sich bestenfalls herausreden mit notwendigen Recherchen und einer einzigartigen Erkenntnis, die eben Zeit brauche. Und die noch nicht gefunden war, doch das würde sie für sich behalten.

Kurz und gut: Anna Schneider hatte ein Problem. Sie scrollte durchs Internet, fand aber nichts, was sie nicht selbst schon gewusst hätte. Die Veranstalter drückten tiefstes Bedauern aus, von den drei verbliebenen Musikern war keine Stellungnahme zu erhalten. Nichts Überraschendes also. Sie musste irgendetwas anderes finden. Auf jeden Fall verbot es sich, über die vorher stattgefundene Musikdarbietung zu schreiben, vor allem angesichts der streitbaren Qualität. Noch eine Tasse Klarer-Kopf-Tee? Das brachte wohl auch nichts, vermied aber das Kaninchen-vor-der Schlange-Gefühl, denn sie hatte dann etwas zu tun. Und danach würde sie Kramer anrufen – sicher. Also doch den Wasserkocher noch einmal füllen.

Anna war gerade auf dem Weg in die Küche, als der Summton der Haustürklingel signalisierte, dass unten jemand Einlass begehrte. Kam Kramer jetzt schon persönlich, um nachzuschauen, ob sie noch lebte, schoss es Anna durch den Kopf. Sie konnte sich nicht im Entferntesten erinnern, wann sie zum letzten Mal am Sonntagmittag unangekündigten Besuch erhalten hatte. Die meisten ihrer Freunde wussten, dass Anna Schneider gerade dann vor ihrem Computer brütete, und der Paketbote kam keinesfalls am Sonntag. Sollte sie sich tot stellen und Kramer weiterhin ausweichen? Angesichts der Tatsache, dass sie ihren Job behalten wollte und morgen ohnehin in die Redaktion gehen musste, war das nicht ratsam. Es hieß also, dem Tiger, der Kramer beim besten Willen nicht war, ins Auge zu sehen und zu öffnen.

»Hallo?«, flötete Anna zögerlicher als sonst in den Hörer der Sprechanlage.

Nicht weniger zögerlich tönte es zurück: »Hallo …«

Das war keinesfalls der wild entschlossene Kramer.

»Hallo, hier ist Heinz …«

Anna überlegte. Heinz?

»Heinz, Habakuk, der Mann mit dem Rotwein von gestern Abend. Ich wollte das Kleid zur Reinigung abholen …«

Teufel, auch das noch. Offenbar hatte Anna es fertig­gebracht, einem wildfremden Menschen ihre private Visitenkarte zu geben – nur weil er Bratscher war, harmlos wirkte und Habakuk hieß. Nach allem, was zwischenzeitlich ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, hatte sie es versäumt, im Saisonprogramm des Gewandhausorchesters nachzusehen, ob da tatsächlich ein Brausewind in der Bratschengruppe geführt wurde. Was blieb ihr anderes übrig, als ihn hereinzulassen? Jedoch – allein mit ihm nach der ersten Bekanntschaft? Trotzdem drückte sie auf den Türöffner, und Habakuk stieg in den fünften Stock, einen Fahrstuhl gab es nicht. Ein merkwürdiger Anfang für eine Bekanntschaft … Was, wenn dieser Habakuk ein gemeiner Wäsche­fetischist war und lediglich ihr Leinenkleid erbeuten wollte? Immerhin hatte er sie als die Musikkritikerin Anna Schneider erkannt.

In der Zwischenzeit war Habakuk angekommen, weit weniger schnaufend als die Mehrheit von Annas Besuchern. Die Entscheidung war gefallen. Anna ließ den unerwarteten Gast ein. Strahlend streckte er ihr eine große flaschenförmige Geschenktüte entgegen. Was für einen Wein dieser Typ wohl mitbringt?

»Rotwein wäre ein wenig provokant gewesen.« Habakuk strahlte. »Waschbär-Cola – auch kein schlechter Tropfen«, scherzte er weiter.

Anna überlegte, wann sie jemals ein abgefahreneres Gastgeschenk erhalten hatte. Vermutlich hatte sie diese Edel-Cola mit ihrer gestrigen Getränkebestellung selbst provoziert. »Ich hole Gläser…«, sagte sie. Wenn er schon einmal da war, konnte man auch ein Glas Cola mit ihm trinken. Vielleicht gelang es ja einem Bratscher, sie aus ihrer festgefahrenen Kramer-Steinmüller-Text-Gedankenschleife zu reißen.

Leipziger Mörderquartett

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