Читать книгу Leipziger Mörderquartett - Tatjana Böhme-Mehner - Страница 9

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»Aaaaaahhhhhh!!« – »Ein Arzt! Ist hier ein Arzt??« – »Polizei!« – »Hilfe!!!«

Angesichts dessen, was jetzt geschah, erwies es sich als keine gute Idee, das Saallicht wieder einzuschalten. Der Anblick, der sich auf dem Konzertpodium bot, war auch für Hartgesottene nicht leicht zu ertragen, schien einem Horrorfilm entsprungen. Nicht nur, dass die Bratsche von Thorsten Steinmüller zu Kleinholz gemacht worden war, der Musiker selbst hatte den besagten Scheinwerfer mit einer so beachtlichen Wucht und Präzision auf seinen Kopf bekommen, dass es diesen wie einen Nagel in den Steinmüller’schen Rumpf geschlagen hatte und der Markenscheinwerfer der Firma Bero mit Logo jetzt an Kopfes Stelle zwischen den Schultern ruhte.

Wie eingefroren saßen die drei übrigen Musiker um das Opfer, während das Personal vom In-and-Out mit bemerkenswerter Effizienz eine Massenpanik verhinderte. Anna beobachtete die Szene wie durch eine Glocke und stellte fest, wie gut es war, dass der Scheinwerfer nicht mehr leuchtete, wobei sie sich die Absurdität der Szene vorstellte. Sie sah, dass erstaunlich wenig Blut im Spiel war, wohl, weil der Scheinwerfer wie eine Art Stöpsel oben auf Steinmüller saß. Steinmüller wiederum hatte – wenn auch etwas lasch – ebenfalls die Sitzposition beibehalten.

»Bitte bewahren Sie Ruhe und bleiben Sie auf Ihren Plätzen, ein Notarzt ist schon unterwegs!«

Als ob der noch etwas ausrichten könnte! Anna wunderte sich selbst über ihren kaltschnäuzigen Hintergedanken und schüttelte den Kopf, froh, dass sie das mit dem eigenen noch tun konnte.

Ein schrulliges spitzbärtiges Männchen sprang um den reglosen Steinmüller herum. Es hatte sich sofort bei dem Ruf nach einem Arzt mühselig, aber durchaus effizient durch die viel zu engen Sitzgelegenheitsreihen gequetscht. Man hatte für das Konzert nicht nur Stühle, sondern auch Sessel, Hocker und Sofas – Markenzeichen des In-and-Out – herangeschleppt. Das Männchen, offenbar Arzt, zählte zu den ebenfalls unpassend gekleideten Klassikfreaks – der Smoking wäre sogar für den Mendelssohnsaal zu dick aufgetragen gewesen. Besonders damit errang der bemühte Ersthelfer jedoch Annas unterbewusste Sympathien.

Das Männchen schüttelte den Kopf, nachdem es den Bratscher mehrere Male umrundet und am herabhängenden Bratscherarm keinen Puls mehr gefühlt hatte.

Den Notarzt brauchte eher Sebastian Mönkeberg. Der zweite Geiger war aus seiner Schockstarre direkt in eine Ohnmacht gefallen und wurde in bemerkenswerter Routine und Eile von den mittlerweile eingetroffenen Rettungskräften fortgetragen, zumindest verschwand er recht schnell aus dem Sichtfeld. Überhaupt ging man jetzt dazu über, die grausige Szenerie vor den Augen der Betrachter zu verbergen.

Mit den Rettungssanitätern war auch eine beachtliche Zahl an Polizisten in den Saal gekommen. Diese forderten abermals auf, Ruhe zu bewahren und auf den Plätzen zu bleiben.

Anna klebte im wahrsten Wortsinne in ihrem Sessel und ging zu etwas über, das sie so gut wie nie tat: Sie dachte gar nichts mehr. Nicht, dass sie nicht mehr in der Lage gewesen wäre, einen Gedanken zu fassen, vielmehr war es eine bewusste Entscheidung angesichts der bizarren Ereignisse, denen Anna an diesem Abend ausgeliefert war. Außerdem wäre sie ansonsten unwillkürlich in einen Modus verfallen, in dem die Journalistin bereits an Formulierungen und sprachlichen Bildern gefeilt hätte. Sollte sie in der Redaktion anrufen, um zu sagen, dass sich hier im In-and-Out ein spektakuläres Unglück ereignet hatte? Wahrscheinlich schon, mit Sicherheit sogar. Doch erstens wusste Anna Schneider aus einschlägigen Erfahrungen in diesem Club, dass sie hier keinen Handy-Empfang hatte, und zweitens war sie von Ordnungskräften ausdrücklich dazu aufgefordert worden, auf ihrem Platz zu bleiben – journalistischer Auftrag hin oder her. Jetzt war es ohnehin zu spät, der Polizeifunk dürfte längst seine Schuldigkeit getan haben. Den hörten die Kollegen im Lokalen mit großer Begeisterung ab, obwohl das illegal war. Die offensichtlich maroden Sicherheitsvorkehrungen im angesagten In-and-Out waren eindeutig ein Thema fürs Lokale. Im Lokalen wollte Anna auf keinen Fall landen. Da war ihr der intellektuelle Anspruch des weit weniger rezipierten Kulturteils lieber, auch wenn sie sich regelmäßig darüber aufregte, dass es genau an diesem Anspruch fehlte.

Anna hatte ihre Nicht-denk-Haltung also längst aufgegeben, um für sich einfallsreich zu rechtfertigen, warum sie die Redaktion nicht ins Bild gesetzt hatte. In dem Moment erklomm ein ansprechend unauffällig gekleideter, attraktiver Mittdreißiger die halb verdeckte Szene und richtete das Wort an die allmählich etwas enervierten Besucher.

Er sei Kriminalhauptkommissar Schmiedinger und bitte alle, so lange im In-and-Out zu bleiben, bis die Kollegen in Uniform die Personalien zum Zwecke etwaiger Zeugenbefragungen erfasst haben. Man möge ihnen gleich einige Fragen beantworten, das sei wichtig bei einem so dramatischen Unglücksfall, weil jetzt die Eindrücke noch frisch und unverfälscht seien.

Was sollte Anna gesehen haben? So traurig es war … Licht aus … Licht an … Scheinwerfer ab. Anna wurde langsam wieder Anna, und die hatte heute endgültig die Nase voll. Mehr Pietät machte den armen Thorsten Steinmüller auch nicht mehr lebendig. Anna wollte nur noch nach Hause. Den Terrassenplan hatte sie längst gestrichen – immerhin wartete das Publikum im sticki­gen In-and-Out mittlerweile schon so lange, dass man zwei Akte von Wagners »Götterdämmerung« hätte hören können.

Leipziger Mörderquartett

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