Читать книгу Nur wenn ich lebe - Terri Blackstock - Страница 11
6 Casey
ОглавлениеDie Anzeige, auf die ich reagiere, ist an eine Person gerichtet, die „bis zu $2000 im Monat von zu Hause aus“ verdienen will. Umso weniger Menschen mich täglich zu Gesicht bekommen, desto besser für mich. Ich habe bereits ein Telefongespräch mit der Frau des Anwalts geführt, der die Anzeige aufgegeben hat. Zwar hat sie mir nicht besonders viel über die auszuführenden Tätigkeiten verraten, mich aber darum gebeten, für ein Gespräch mit ihrem Mann in die Kanzlei zu kommen.
Ich gebe mir besonders viel Mühe für mein Make-up und trage die lockige Perücke. Hoffentlich erkennt mich niemand aus den Nachrichten. Wenigstens wird man meine Stimme nicht wiedererkennen können, da die Medien nur Bildmaterial von mir in Umlauf gebracht haben.
Die Kanzlei liegt in einer Einkaufsmeile. Auf einem bronzenen Schild neben der Tür lese ich „Billy Barbero, Hochwohlgeboren“. Offensichtlich handelt es sich um keine gehobene Anwaltskanzlei, eher um eine Ein-Mann-Show. Erst als ich eintrete, bemerke ich, wie heruntergekommen die Räume tatsächlich sind. Die Frau des Anwalts ist ungefähr fünfzig und trägt eine enge Jeggins, die ihren fleischigen Oberschenkeln nicht gerade schmeichelt. Das Metallica-Logo prangt auf dem sackartigen Pullover, den sie dazu trägt. Auf ihrem Schreibtisch stapeln sich Ordner und Papierhaufen und nur eine kleine Fläche ist frei geräumt, auf der sie sich Notizen machen kann.
„Hallo“, sage ich. „Mein Name ist Liana Winters. Ich habe eine Verabredung mit Mr Barbero?“
„Ja, ich habe mit Ihnen telefoniert“, antwortet sie und sieht sich auf ihrem Schreibtisch nach etwas um. Schließlich zieht sie unter ein paar Notizbüchern ein Klemmbrett hervor und reicht es mir. „Wenn Sie nichts dagegen haben, füllen Sie doch bitte dieses Formular aus, damit wir Ihre Informationen haben. Mr Barbero ist gerade im Gespräch mit einem Klienten, wird aber gleich fertig sein.“ Während ich das Klemmbrett entgegennehme und mich hinsetze, brüllt die Frau: „Billy, Liana Winters ist hier!“
Erschrocken blicke ich auf. Durch die Tür höre ich ihn zurückrufen: „Wer?“
„Das Mädchen, das wir einstellen!“, brüllt Mrs Barbero zurück.
Obwohl es sich offensichtlich nicht um eine typische Anwaltskanzlei handelt, ermutigen mich Mrs Barberos Worte, weil sie mich bereits als ihre neue Angestellte sieht. Das Formular fülle ich mit falschen Informationen über Liana Winters aus und füge sogar einen Überblick über meine bisherigen Beschäftigungen hinzu. Ich habe keine Ahnung, was mich in diesem Job erwartet oder welche Qualifikationen ich nachweisen muss. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie eine neue Empfangsdame oder einen Verwaltungsassistenten gebrauchen können.
Tatsächlich war ich Büroleiterin in meinem Beruf, bevor die Sache mit Brent passiert ist. Und ich war gut darin und so nehme ich diesen Punkt in meinen Lebenslauf auf. Wenn auch mit falscher Adresse. Hoffentlich überprüfen sie nicht meine Referenzen. Irgendwie bezweifle ich, dass sie organisiert genug dafür sind.
Kurz bevor ich fertig bin, öffnet sich die Tür zu Mr Barberos Büro und eine junge Frau mit einem Begleithund – einem Deutschen Schäferhund – kommt heraus. Ein wenig sieht sie aus wie Natalie Portmann, trägt allerdings eine Sonnenbrille. Sie muss blind sein. „Marge, könnten Sie mir meine Mitfahrgelegenheit anrufen?“, fragt sie.
„Aber natürlich, Liebling“, antwortet die Empfangsdame.
Hinter der jungen Frau verlässt ein Mann im Rollstuhl – einer von der schmalen Sorte, ohne Armlehnen – das Büro. Offensichtlich handelt es sich dabei um den Anwalt. Seine grauen Haare reichen ihm bis auf die Schultern und er trägt ein T-Shirt und eine Jeans mit einem Loch am Knie.
Während Marge eine Nummer wählt und sich den Hörer ans Ohr hält, verabschiedet sich die junge Frau von dem Anwalt. Ich sitze schweigend daneben und fülle den Fragebogen zu Ende aus. Als Marge den Telefonhörer zur Seite legt, sagt sie: „Es geht niemand ran, Süße.“
„Typisch“, antwortet das blinde Mädchen. „Er weiß aber, dass ich ihn brauche. Vielleicht ist er schon auf dem Weg hierher. Ich warte einfach draußen und versuche ihn immer wieder zu erreichen.“
Dann lässt sie sich von ihrem Hund zur Tür führen. Sobald sie verschwunden ist, stehe ich auf und gehe mit ausgestreckter Hand auf den Anwalt zu: „Hallo, ich bin Liana.“
Während er meine Hand nimmt und schüttelt, sagt Mr Barbero: „Kommen Sie mit in mein Büro. Bedienen Sie sich an der Kaffeemaschine, wenn Sie möchten.“
Ich möchte keinen Kaffee, daher lehne ich dankend ab und folge ihm ins Büro. Drinnen sieht es aus, als hätte ein Orkan gewütet. Ordner stapeln sich an den Wänden und füllen jeden Zentimeter hinter dem Schreibtisch aus. Die Hälfte des Schreibtisches ist mit Papierstapeln bedeckt. Nur ein kleiner Bereich ist frei geräumt. Dahinter parkt er seinen Rollstuhl.
„Also … Marge hat Sie eingestellt, nicht wahr?“, beginnt Mr Barbero.
„Ähm … Ich denke, das hat sie“, erwidere ich.
Der Anwalt sieht hinunter auf meine Bewerbung, nickt anerkennend und sagt: „Dann lassen Sie mich mal erklären, welche Aufgabe Sie übernehmen werden.“
„Okay“, nicke ich.
„Ich vertrete behinderte Klienten. Das Mädchen, das Sie vorhin gesehen haben, ist eine von ihnen. Wir verklagen Einrichtungen, die sich nicht an die amerikanischen Bestimmungen bezüglich behindertengerechter Ausstattung halten.“ Kurz hält er inne, kichert und fährt dann fort: „Bereits Hunderte Klagen sind überall im Land anhängig. Unglücklicherweise ist jedoch mein bester Ermittler vor Kurzem verstorben. Lungenentzündung, schlimme Sache. Hätte nie damit gerechnet.“
„Das tut mir leid“, sage ich.
„Jedenfalls müssen wir ihn ersetzen.“
„Was tut denn so ein Ermittler?“, frage ich.
„Ich brauche Sie, damit Sie solche Verstöße aufdecken. Vor allem Hotels, die keinen behindertengerechten Pool-Zugang haben. Das bringt am meisten Geld und ist am einfachsten zu finden.“
Ich nicke. „Das heißt, ich soll die lokalen Hotels abklappern?“
„Nein, Ma’am“, sagt er. „Nicht in echt. Sie können einfach Google Earth benutzen oder Google Maps. Suchen Sie sich einfach eine Stadt aus und zoomen Sie an jedes Motel heran, das in diesem Bereich verzeichnet ist. Wenn Sie keinen Poollifter daneben erkennen können, dann verklagen wir die Einrichtung.“
„Wirklich?“, frage ich. „Ist das wirklich so einfach?“
„Ja, in der Tat“, antwortet Mr Barbero. „Gesetz ist Gesetz.“
Er tippt etwas in seinen Computer, woraufhin sich auf Google Earth das Satelliten-Bild eines Hotels mit Pool öffnet. Dann zoomt er näher heran und zeigt mir, wie ein Poollifter aussieht. „Das Teil ist rechteckig, so wie hier. Sollten Sie so etwas in der Art sehen, gehen Sie direkt zum nächsten Hotel über. Sehen Sie jedoch keinen behindertengerechten Zugang, dann rufen Sie das Motel an und fragen, ob sie dort einen Poollifter haben. Anschließend geben Sie mir den Namen des Hotels, die Adresse und Telefonnummer, damit ich sie im Namen eines meiner Klienten verklagen kann.“
Ich erinnere mich an die Motels, in denen ich schon untergekommen bin. Nicht in einem davon habe ich einen Poollifter gesehen. Allerdings habe ich auch nicht darauf geachtet. „Das heißt … Sie müssen nicht unbedingt Besucher des Hotels sein, um es verklagen zu können?“
„Genau. Das Gesetz erlaubt uns, jedes Motel zu verklagen, ohne jemals auch nur einen Fuß hineingesetzt zu haben. Wir dienen damit allen Behinderten.“
Mein Blick bleibt an dem Satellitenbild hängen. „Ich glaube das schaffe ich.“
„Sie brauchen bloß eine ordentliche Internetverbindung. Bezahlung erhalten Sie nach der Anzahl der Hinweise, die Sie mir geben. Je zehn Dollar pro Hinweis.“
Es klingt wirklich einfach. Ob es das ist, werde ich wohl erst sehen, wenn ich es ausprobiert habe. „Ich kann sofort anfangen.“
„Dann herzlich willkommen in Ihrem neuen Job“, sagt Mr Barbero und streckt mir seine Hand entgegen. Wieder schüttle ich sie und stehe auf. „Sie können mir die Hinweise einfach per E-Mail schicken. Behalten Sie die Anzahl aber im Auge, um sicherzustellen, dass Marge Sie dementsprechend entlohnt. Sie ist sehr zerstreut. Sie können auch persönlich vorbeikommen, wenn Ihnen das lieber ist, und die Daten bringen.“
„Okay, das werde ich. Ich freue mich darauf, mit Ihnen zu arbeiten, Mr Barbero“, sage ich.
„Wenn Sie nichts dagegen haben, können wir uns einfach duzen. Mein Name ist Billy. Wir legen hier nicht besonders großen Wert auf Formalitäten.“
„Okay, Billy.“
Lächelnd rollt er hinter mir her in das Empfangszimmer. „Danke, Marge“, sage ich.
„Wann fängt sie an?“, fragt sie ihren Mann.
„Jetzt. Ich glaube, sie ist ein richtiger Draufgänger. Guter Fang.“
Ich fühle mich richtig gut, als ich das Büro verlasse.
Während ich auf mein Auto zulaufe, entdecke ich das blinde Mädchen und ihren Hund. Sie warten immer noch auf dem Bürgersteig.
Einer Eingebung folgend trete ich an sie heran und sage: „Entschuldigen Sie mich, ich habe vorhin mitbekommen, dass Sie Probleme mit Ihrer Mitfahrgelegenheit haben.“
Ihre Augen wandern zu mir herüber, blicken aber links an meinem Gesicht vorbei. „Ja, das stimmt … Wer sind Sie?“
„Mein Name ist Liana Winters“, sage ich voller Selbstbewusstsein, weil sie mein Gesicht nicht sehen kann. „Die Barberos haben mich eben als ihren neuen Ermittler eingestellt. Falls Sie noch immer auf eine Mitfahrgelegenheit warten, würde ich mich freuen, Sie mitzunehmen.“
„Wirklich?“, fragt sie. „Das wäre fantastisch. Ich kann Sie auch dafür bezahlen. Bei Uber kann ich mir keine Mitfahrgelegenheit bestellen, weil ich die App nicht sehen kann. Eigentlich sollte ich Billy sagen, dass er Uber verklagen soll. Jedenfalls wollte ich dann ein Taxi rufen, aber Siri will nicht so wie ich.“
Dann stellt sie mir ihren Hund vor, Butch. Er scheint friedlich zu sein, wenn auch hoch konzentriert. Ich führe die beiden zu meinem Auto, unsicher, wie viel Unterstützung sie dabei benötigen. Erst räume ich auf meinem Rücksitz auf und schmeiße meine Notfalltasche in den Kofferraum, damit Butch genug Platz hat. Anschließend öffne ich dem Mädchen die Tür. Sie scheint etwa in meinem Alter zu sein und ein freundlicher Ausdruck liegt auf ihrem Gesicht. Mir tut es leid, dass sie nichts sehen kann, aber gleichzeitig bin ich dankbar dafür, dass sie mich nicht sehen kann.
Erst lässt sie den Hund auf die Rückbank und gleitet dann ohne Probleme auf den Beifahrersitz. Ich lasse mich auf den Fahrersitz fallen und frage: „Wohin?“
Nachdem sie mir die Adresse genannt hat, fragt das Mädchen: „Wie war noch einmal Ihr Name?“
„Liana Winters“, sage ich. „Und ein Du reicht vollkommen.“
„Gerne. Mein Name ist Claire“, sagt sie.
„Und du bist also eine von Billys Klientinnen?“
„Jep. Er war ein Geschenk Gottes. Wir haben uns im Starbucks kennengelernt. Als er mich beim Kaffeebestellen gesehen hat, hat er mich angesprochen und gefragt, ob ich mir nicht etwas dazuverdienen möchte.“
„Also arbeitest du auch für ihn?“
„Nein, eigentlich arbeitet er für mich. Ich bin eine Klägerin. Das heißt, dass er manche Klagen in meinem Namen verfasst. Er hat eine ganze Liste mit Namen von behinderten Personen, deren Namen er verwenden kann. Dafür bezahlt er uns etwas.“
„Oh.“ Für einen Moment bin ich still, weil ich mir nicht sicher bin, ob das legal ist oder nicht. Ich hoffe sehr, dass Mr Barbero sie nicht ausnutzt.
„Ich kann mir vorstellen, dass wir damit überall behinderten Menschen helfen, weißt du? Die Prozesse machen es möglich, dass wir Zugang zu den unterschiedlichsten Dingen haben. Außerdem lässt es sich gut damit leben.“
Ich entscheide mich, ihre Motive und Absichten nicht zu verurteilen. Wenn es nicht legal wäre, dann würden sie es nicht tun, sage ich mir.
Claire wohnt in einer netten Gegend in einem recht neuen Haus. Nachdem ich in ihre Einfahrt eingebogen bin und angehalten habe, steigt sie aus. Dann öffnet sie die Hintertür, um Butch herauszulassen. „Tausend Dank für die Mitfahrgelegenheit. Manche Fahrten sind unangenehm und merkwürdig, die Fahrt mit dir war alles andere als das.“
„Gern geschehen. Jeder Zeit wieder“, sage ich.
„Wirklich?“, fragt Claire. „Ehrlich gesagt bin ich immer auf der Suche nach Menschen, die mich fahren können.“
„Na klar“, sage ich und gebe ihr meine Nummer.
Sie reicht mir ihr Handy. „Kannst du deine Nummer in meinen Kontakten speichern, damit Siri dich finden kann? Zumindest dann, wenn sie sich gerade in der passenden Stimmung befindet“, bittet sie mich.
Ich tippe meine Daten in ihr Handy. Bevor ich es an sie zurückgebe, greife ich nach einem Taschentuch und wische die Fingerabdrücke ab. Als ich es schließlich an sie zurückreiche, halte ich das Telefon immer noch mit dem Taschentuch fest. Claire bemerkt es nicht, als sie danach greift.
„Meine Nichte hat bald Geburtstag und ich muss unbedingt etwas dafür einkaufen. Vielleicht könntest du im Auto arbeiten, falls sich in der Nähe eine gute Internetverbindung befindet.“
„Ja, das könnte funktionieren“, sage ich. Dann zieht Claire einen Zehn-Dollar-Schein aus ihrer Tasche und reicht ihn mir.
„Du musst mich nicht bezahlen“, sage ich.
„Doch, muss ich. Wenn du mein Geld nicht nimmst, werde ich dich nicht noch einmal anrufen.“
Grinsend nehme ich das Geld entgegen und stecke es in meine Handtasche. „Also gut.“
„Ich melde mich bei dir wegen des Einkaufens.“
„Klingt gut“, erwidere ich. „Bis dann, Claire!“
Bevor ich meinen Wagen aus der Einfahrt lenke, beobachte ich Claire, bis sie im Haus verschwunden ist. Die gesamte Heimfahrt über lächle ich, weil ich eine neue Freundin gewonnen habe. Ich genieße Claires Gesellschaft und es gefällt mir noch besser, dass sie mich nicht in den Nachrichten sehen kann.
Wieder einmal merke ich, wie Gott für mich gesorgt hat. „Danke“, flüstere ich.