Читать книгу Nur wenn ich lebe - Terri Blackstock - Страница 6

1 Casey

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Es lohnt sich nicht, sein Leben für einen Teller gebratenen Reis aufs Spiel zu setzen.

Ich hätte dieses Restaurant überhaupt nicht betreten sollen. Wäre ich besser bei Fast Food geblieben. Dann hätte ich durch einen Drive-In fahren können und mein Essen in einer Tüte durch das Fenster gereicht bekommen. Dummerweise hatte ich das dringende Bedürfnis, das Klo zu benutzen und mein Gesicht nach der stundenlangen Fahrt zu waschen. Außerdem hatte ich Burger mit Pommes einfach satt. Also beschloss ich, vor einem Einkaufszentrum zu parken und in diesem China-Restaurant Rast zu machen.

Meiner Einschätzung nach würden zu dieser Tageszeit nicht besonders viele Gäste hier sein. Außerdem waren chinesische Restaurants normalerweise nicht sehr hell beleuchtet und ich dachte, dass ich es mit meiner langen, braunen Perücke und der dunklen Sonnenbrille wagen könnte. Aber sämtliche Medien hatten Bilder veröffentlicht, wie ich mich verkleidet haben könnte.

Am runden Tisch in der Ecke sitzen lauter Studenten. Ein Mädchen schaut mich an, flüstert ihrer Freundin etwas zu und jetzt starrt mich die ganze Gruppe an. Eine von ihnen greift zum Telefon.

Ich versuche ruhig zu bleiben, stehe langsam von meinem Tisch auf und gehe Richtung Ausgang. Die Bedienung kommt mir hinterher und sagt: „Das Essen ist fast fertig!“

„Ich komme gleich wieder“, erwidere ich, obwohl ich das nicht vorhabe.

Im Freien eile ich den Bürgersteig entlang. An einem Schlüsselgeschäft halte ich kurz an und drehe mich um. Zwei der Mädchen sind mir aus dem China-Restaurant gefolgt und sprechen aufgeregt in ihre Handys. Mein Blick schweift zu meinem Auto hinüber. Ich kann jetzt nicht einsteigen. Wenn mich eines der Mädchen dabei beobachtet, weiß sofort auch die Polizei, welcher mein Wagen ist, und dann müsste ich mir einen neuen besorgen. Dafür habe ich aber definitiv zu wenig Bargeld. Schon dieses Auto hätte ich ohne Dylans Hilfe nicht bekommen können.

In einem Klamottengeschäft versuche ich mich zu verstecken. Auf der linken Seite sehe ich das Schild für die Umkleidekabinen. Schnell schlüpfe ich in eine Kabine, die sich von innen verriegeln lässt. Ich schließe mich darin ein und setze mich kurz auf die Bank, um zu Atem zu kommen und meine Möglichkeiten durchzugehen.

Die Studentinnen haben gesehen, wie ich in diesen Laden gelaufen bin. Die Polizei wird gleich hier sein und mich verhaften. Mein Herz hämmert wild und die Wundnähte an meiner Schulter fühlen sich an, als würden sie gleich aufreißen. Ich frage mich, ob sie sich wohl entzündet haben. Erst versuche ich, die Armschlinge neu zu justieren, merke dann aber schnell, dass es nur Zeitverschwendung ist. Vermutlich haben die Studentinnen mich damit gesehen. Ich nehme sie also vorsichtig ab und stopfe sie in meine Tasche. Auch die Perücke ziehe ich mir vom Kopf und binde mein schwarz gefärbtes Haar zu einem Pferdeschwanz. Während ich meine Baseballkappe aus der Tasche ziehe, versuche ich meinen Arm nah an meinem Körper zu halten. Ich setze die Kappe auf, führe den Pferdeschwanz durch den Schlitz am Hinterkopf und nehme dann auch die Sonnenbrille ab. Anschließend ziehe ich meine Bluse aus, sodass ich nur noch ein Top trage, und betrachte mich eingehend im Spiegel. Tatsächlich sehe ich anders aus als noch fünf Minuten zuvor.

Erschöpfung macht sich in mir breit – vielleicht von dem Blutverlust, den ich durch die Schusswunde vor ein paar Tagen erlitten habe. Aber ich weiß, dass ich weitermuss. Den Riemen meiner Tasche lege ich mir über die gesunde Schulter und die Klamotten, die schon vorher in der Umkleidekabine gehangen haben, über den Arm. Es spielt keine Rolle, dass sie mir niemals passen würden und nicht mal ansatzweise aussehen wie etwas, das jemand in meinem Alter tragen würde. Hauptsache, ich sehe aus wie eine stinknormale Kundin.

Vorsichtig wage ich mich aus der Kabine, bedacht auf meinen verwundeten Arm. Während ich reges Interesse an einem Ständer mit heruntergesetzten Klamotten vortäusche, sehe ich mich nach den beiden Studentinnen um. Im Laden kann ich sie nicht sehen und so schaue ich aus dem Fenster. Blaues Licht leuchtet auf. Sie sind hier.

Ich eile zum hinteren Ende des Ladens. Dort entdecke ich eine Schwingtür mit der Aufschrift „Nur für Angestellte“. Die Klamotten auf meinem Arm lasse ich fallen und schlüpfe durch die Tür. Ich eile an Kisten, Klamottenständern, einer Besenkammer, einem Wischeimer und einem Angestellten-WC vorbei. Endlich entdecke ich die Tür für Warenanlieferungen.

Nachdem ich sie geöffnet habe, blicke ich die dahinterliegende Gasse auf und ab. Keine Polizei ist zu sehen. Hier ist überhaupt niemand.

Schwach und kurzatmig wie ein Herzpatient überquere ich die Gasse und schleppe mich durch ein kleines Waldstück einen Hügel hinauf, bis ich den Parkplatz überblicken kann. Inmitten einer Baumgruppe lasse ich mich auf einen Baumstumpf nieder und beobachte die Studenten, wie sie sich mit den Polizisten unterhalten. Manche von ihnen schießen Selfies von sich und der Polizei. Innerhalb von zwanzig Minuten werden die Fotos durch alle Medien gehen. In dieser Stadt kann ich mich jetzt nicht mehr blicken lassen. Ich muss weg.

Mein Weg führt weiter durch die Bäume. Der Wald lichtet sich und ich lande in einer zwielichtigen Gegend. An den Straßenecken lungern Männer herum und hier und dort nähern sich leicht bekleidete Frauen den langsam vorbeifahrenden Autos.

Ich entdecke ein Mädchen mit einer krausen, blonden Perücke. Ihre falschen Haare sind so voluminös, dass sie über ihre schmalen Schultern hinausreichen. Ich hatte schon schwarze Haare, braune und blonde Haare … außerdem eine rothaarige Perücke, eine blonde und auch eine brünette. Keine hatte so krause Locken wie diese. Niemand würde danach suchen.

Langsam schlendere ich die Straße entlang und warte darauf, dass das Mädchen zurück auf den brüchigen Bürgersteig kommt. „Entschuldige bitte“, sage ich. „Kann ich kurz mit dir sprechen?“ Sie sieht nicht so aus, als hätte sie Zeit für mich, und so füge ich hinzu: „Es geht um Geld.“

Bei diesem Stichwort wendet sie sich zu mir. „Was gibt’s denn, Schätzchen?“

„Ich mag deine Haare. Ist das eine Perücke?“, frage ich.

„Ja“, sagt sie, während sie ihren Haarschopf berührt. „Danke.“

„Ich habe mich gefragt, ob ich sie dir wohl abkaufen könnte.“

Die junge Frau lacht. „Was? Du willst meine Haare kaufen?“

„Ich gebe dir zweihundert. Bar.“

Sie zögert. „Vierhundert“, versucht sie zu verhandeln.

„Zweihundertfünfzig“, ziehe ich nach.

Wutschnaubend sagt sie: „Die hat ein Vermögen gekostet. Ich gebe sie nicht einfach so her.“

„Okay“, sage ich und suche nach meinem Geldbeutel. „Dreihundert. Mein letztes Wort.“

Sie entdeckt meine andere Perücke in der Tasche. „Sammelst du Perücken oder was?“

„Genau, ist so mein Ding. Ich bin Schauspielerin“, erwidere ich.

Grinsend zieht sie sich die Perücke vom Kopf, wodurch kurz geschnittenes braunes Haar mit blonden Strähnen zum Vorschein kommt. So wie sie jetzt aussieht, könnte sie locker die Mutter eines Fußball spielenden kleinen Jungen sein. Mit einer Hand fährt sie sich durch ihre Haare, damit sie nicht mehr so platt aussehen, und greift nach den Scheinen. „Ich habe die Perücke wirklich gemocht“, murmelt sie.

„Sicherlich weißt du, wo du für deutlich weniger Geld schnell eine Neue herbekommen kannst, oder?“

„Wenn es nicht so wäre, hätte ich die hier nicht verkauft“, gibt sie zu.

„Danke“, sage ich. „Echt nett.“

Ich nehme die Perücke an mich und stopfe sie in meine Tasche, die jetzt zum Bersten gefüllt ist. Als das Mädchen sich wieder umdreht, ziehe ich ab und laufe zurück in den Wald. Die Perücke klopfe ich ab, innen und außen, und setze sie dann auf. Es fühlt sich merkwürdig an, weil die Haare so ausladend sind. Ich schaue mir mein Spiegelbild auf dem Handydisplay an und finde, dass ich gar nicht mal so übel aussehe. Ehrlich gesagt, gefalle ich mir sogar recht gut. Wenn ich jetzt noch die Sonnenbrille aufziehe, wird mich niemand mehr erkennen.

Eine Zeit lang bleibe ich auf dem Boden sitzen und wünsche mir, dass ich wenigstens meinen gebratenen Reis hätte essen können, bevor ich fliehen musste. Ich bin ziemlich ausgehungert, aber es wird wohl noch eine Weile dauern, bis ich wieder etwas essen kann.

Nachdem ich mehrere Stunden gewartet habe, muss ich schon wieder auf die Toilette. Also gehe ich wieder in das Viertel zurück, in dem ich das Perückenmädchen getroffen habe, und entdecke einen kleinen Lebensmittelladen mit vergitterten Fenstern. Ich gehe hinein und versuche die Badezimmertür zu öffnen, aber sie ist verschlossen. Offenbar muss ich nach dem Schlüssel fragen. Hinter der Kasse ist ein Fernseher angebracht, auf dem bereits mein Gesicht aufleuchtet. Der Nachrichtensprecher sagt, dass ich zuletzt in dem China-Restaurant gesehen wurde und wohl immer noch in der Gegend bin. Außerdem wird gewarnt, dass ich gefährlich sei und bewaffnet sein könnte.

Die Kassiererin schaut mich nicht einmal an. Sie reicht mir einfach den Schlüssel und ich verschwinde im Frauen-WC. Im Kopf gehe ich die Informationen durch, die man über mich durch die Aufzeichnungen der Sicherheitskamera des Restaurants erfahren konnte. Sie kennen meine Tasche, das ist klar. Zwar ist sie einfach nur groß und schwarz, trotzdem gehe ich zum Waschbecken und schütte den Inhalt darin aus. Dann wende ich die Tasche, sodass der karierte Futterstoff außen ist, und stopfe alles zurück in die Tasche. Ich schaue hinab auf meine Schuhe. Graue Turnschuhe. Wahrscheinlich fallen sie genauso viel oder wenig auf wie meine Jeans. Erst jetzt bemerke ich, dass mein Verband an der Schulter sichtbar ist, seitdem ich die Bluse ausgezogen habe. Allerdings besitze ich kein anderes Oberteil mehr.

Jemand klopft an die Tür und ich rufe: „Gleich!“

Wieder sehe ich mich im Spiegel an und seufze. Meine Bluse, die ich vorhin ausgezogen und in die Tasche gestopft habe, ziehe ich nun wieder hervor und lege sie mir wie ein Handtuch über die verwundete Schulter.

Wieder höre ich Sirenen und durch das Glasfenster über meinem Kopf sehe ich blaues Licht blinken. Sind sie immer noch auf der Suche nach mir?

Schweißgebadet öffne ich die Tür und trete hinaus. Die wartende Frau grapscht nach dem Schlüssel in meiner Hand und verschwindet im Bad.

Die Kassierer sind immer noch abgelenkt von den vorbeifahrenden Polizeiwagen und den Nachrichten, die die Gegend in Aufregung versetzen. Ich sehe einen Ständer mit T-Shirts, nehme mir eins und greife auch nach einer Packung Erdnussbutterkeksen und lege alles auf den Tresen. Nachdem ich mich kurz geräuspert habe, sieht die Kassiererin auf, schaut aber nicht mich, sondern nur die Ware an. „Ist das alles?“, fragt sie.

„Ja“, sage ich.

Sie kassiert ab und reicht mir den Beleg. Ich werfe mir das T-Shirt ebenfalls über die Schulter und gehe nach draußen. Erst nachdem ich um die Ecke gegangen bin, ziehe ich mir das T-Shirt vorsichtig über den Kopf. Die Bluse und die lange braune Perücke versenke ich im nächsten Mülleimer. Mit einer Tüte, die im Mülleimer lag, bedecke ich meine Sachen.

Wenigstens kann jetzt niemand mehr auf den ersten Blick erkennen, dass ich die Gesuchte aus dem Restaurant bin. Die Polizeiwagen sollten nun auch vom Parkplatz des Einkaufszentrums verschwunden sein. Ob sie endlich aufgehört haben, nach mir zu suchen?

Geschwächt mache ich mich schließlich auf den Weg über den Hügel und um die Geschäfte herum, bis ich auf den vorderen Parkplatz gelange. Ohne zu zögern marschiere ich auf mein Auto zu und setze mich hinein. Nicht einmal jetzt sehe ich mich um, sondern warte, bis ich ausgeparkt habe.

Auf der anderen Seite des Parkplatzes steht ein Polizeiwagen, aber die Lichter sind aus. Nirgendwo sehe ich einen Uniformierten. Also fahre ich vom Parkplatz und reihe mich in den Verkehr ein.

Erst als ich weit genug weg bin, erlaube ich mir zu atmen.

Nur wenn ich lebe

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