Читать книгу Nur wenn ich lebe - Terri Blackstock - Страница 8

3 Casey

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Ich weiß nicht einmal, in welcher Stadt ich mich gerade befinde. Trotzdem checke ich in einem No-Name-Motel ein und wechsle meinen Verband. Während ich mich auf dem Bett ausstrecke, läuft nebenher der Fernseher. Etwa alle Viertelstunde gibt es Nachrichten vom aktuellen Stand der Ermittlungen. Langsam wird es langweilig.

Ich döse ein, bis mich eine Eilmeldung aus dem Schlaf reißt.

„…mögliche Anklage gegen Casey Cox. Hören wir, was der Staatsanwalt aus Caddo Parish in Shreveport zu sagen hat.“

Erschrocken starre ich auf den Bildschirm. Sofort schnappe ich mir die Fernbedienung und drehe den Ton auf. Die Kamera richtet sich auf einen Mann, der hinter den Mikrofonen am Funktisch steht. Wo habe ich den schon einmal gesehen? Vielleicht bei einer Wahl oder als die Nachrichten schon einmal über mich berichtet haben. Ehrlich gesagt weiß ich es nicht mehr. Seine Einleitung habe ich bereits verpasst.

„Die Untersuchungen darüber, was Casey Cox mit dem Mord an Brent Pace im Mai zu tun haben könnte, wurden soeben abgeschlossen. Das Geschworenengericht hat die Klage gegen Miss Cox bestätigt, da sie direkt nach dem Mord spurlos verschwand.“

Ich fühle mich, als hätte mich jemand in den Magen geboxt. So musste es ja kommen … Jetzt bin ich nicht nur als Verdächtige auf der Flucht vor der Polizei, sondern bereits Angeklagte in einem Mordfall.

„Wir vermuten, dass Miss Cox an jenem Tag in ihrer Mittagspause Mr Pace einen Besuch abstattete. Dann passierte wahrscheinlich Folgendes: Als er die Tür öffnete, stach sie mehrmals auf ihn ein.“

Es wundert mich nicht, dass sie das glauben. Aber ich habe gesehen, wie brutal Brent ermordet wurde. Traut mir tatsächlich jemand zu, meinem besten Freund so etwas Abscheuliches anzutun? Das verstört mich am meisten.

„Während er in seinem eigenen Blut lag, ging sie in sein Haus und hinterließ dort jede Menge Finger- und Fußabdrücke und andere DNA-Spuren. Anschließend nahm sie das Messer mit zu ihrem Auto. Dort wurde es später gefunden, mitsamt der Blutspuren, die sich noch an ihrer Hand befanden, als sie die Türen öffnete und das Auto startete. In ihrer Wohnung konnten die Blutspuren ebenfalls nachgewiesen werden. Erst wechselte Miss Cox ihre Kleidung, dann rief sie ein Taxi, um zum Busbahnhof zu kommen. Von dort aus fuhr sie mit einigen Zwischenstopps nach Durant, Oklahoma und später nach Atlanta, Georgia. Letztlich führte ihr Weg nach Shady Grove, wo sie einige Zeit lebte.“

Ich bekomme eine Gänsehaut, weil er meine einzelnen Schritte so genau kennt, und gehe ans Fenster. Eigentlich erwarte ich, dass es auf dem Parkplatz von Polizisten nur so wimmelt. Aber da ist keiner.

„Viele von Ihnen wissen über Miss Cox’ heldenhafte Taten in Shady Grove Bescheid. Dennoch dürfen Sie nicht vergessen, welchen grausamen Mord sie begangen hat, bevor sie nach Shady Grove kam. Nach diesen Vorkommnissen floh sie weiter nach Dallas, Texas. Dort wurde sie als Letztes gesehen, auch wenn sie ein weiteres Mal entkommen konnte. Wir sind überzeugt davon, dass Casey Cox bewaffnet, gefährlich und darüber hinaus eine meisterhafte Verwandlungskünstlerin ist. Ihre Augen haben einen hohen Wiedererkennungswert. Deshalb raten wir der Bevölkerung, nach den mandelförmigen Augen Ausschau zu halten und sich nicht von der Farbe ihrer Haare oder dem Make-up ablenken zu lassen, das sie eventuell trägt. Casey Cox ist etwa 1,68 Meter groß und wiegt um die 55 Kilo. Außerdem glauben wir, dass sie sich von einer Schusswunde an ihrer rechten Schulter erholt.“

Vorsichtig berühre ich meine Schulter und sehe in den Spiegel.

„Wir raten den Bürgern und Bürgerinnen, sofort die Polizei zu verständigen, sollten sie die Gesuchte zu Gesicht bekommen. Versuchen Sie auf keinen Fall, Miss Cox auf eigene Faust zu fangen oder sie zu verfolgen. Ich wiederhole: Sie könnte bewaffnet und gefährlich sein.“

Ich seufze. Ich habe weder eine Schusswaffe noch ein Messer. Nicht mal einen Nagelknipser habe ich dabei.

„Zu guter Letzt: Wenn Sie das hier hören, Miss Cox, dann rate ich Ihnen, sich bei der nächstgelegenen Polizeidienststelle zu stellen. Weiterhin vor dem Gesetz zu fliehen wird es nur noch schlimmer für Sie machen. Wir werden Sie finden und dann werden wir dafür sorgen, dass Gerechtigkeit geschieht.“

Es noch schlimmer für mich machen? Was kann denn noch schlimmer sein, als umgebracht zu werden, bevor ich die Wahrheit erzählen kann? Ich schaudere, weil er mich so direkt anspricht, und widerstehe dem Drang den Fernseher auszuschalten.

Immer wieder sage ich mir, dass er mich nicht sehen kann. Und dass er mein Fernsehsignal nicht zurückverfolgen kann. Er versucht einfach nur, sich in meinen Kopf zu drängen.

Ich höre, wie die Reporter den Mann mit Fragen bombardieren.

„Hatte Casey Cox etwas mit dem Tod von Cole Whittington in Dallas, Texas, zu tun?“

„Wir ermitteln noch in diesem Fall. Daher kann ich keinen Kommentar dazu abgeben“, erwidert der Befragte.

Laut stöhne ich auf. Sie wissen, dass es die Trendalls waren. Der Truck ist Beweis genug.

„Gibt es weitere Mordfälle an Orten, in denen Cox unterwegs war?“, fragt ein anderer.

„Ich bin nur hier, um über den Fall Brent Pace Auskunft zu geben“, weicht der Staatsanwalt aus.

„Was ganz klar Nein heißen soll“, stoße ich hervor.

„Haben Sie schon ein Motiv bei dem Mord von Brent Pace erkennen können? Zeugenaussagen zufolge waren die beiden gute Freunde und wir wissen, dass er Miss Cox am selben Morgen angerufen hat. Wissen Sie, ob Pace sie für die Mittagspause zu sich eingeladen hat? Und wissen Sie, ob ein Streit stattgefunden hat, der zu diesem Gewaltausbruch geführt haben könnte?“

„Noch haben wir das genaue Motiv nicht gefunden“, gibt der Mann knapp zurück. „Wie passt das zeitlich zusammen?“, fragt Macy Weatherow, eine bekannte Pressegröße aus Shreveport. „Die Spurensicherung ergab, dass Pace mindestens zwei Stunden vor Miss Cox’ Mittagspause ermordet wurde.“

„Das war nur eine Schätzung.“

„Aber wäre es nicht möglich, dass jemand anderes Pace umgebracht hat? Immerhin wissen wir, dass Cox den ganzen Morgen über an der Arbeit war.“

Ich halte die Luft an. Erleichterung durchströmt mich, weil wenigstens eine Person meine Schuld anzweifelt.

„Cox ist geflohen. Die Mordwaffe befand sich in ihrem Wagen.“ Als hätte er damit sämtliche Zweifel aus dem Weg geräumt, wendet sich der Mann der nächsten Reporterfrage zu.

Die Tatwaffe hatte man in meinem Auto platziert. Nicht ein einziges Mal habe ich sie zu Gesicht bekommen.

Macys Stimme übertönt alle Fragen, die von anderen Reportern in den Raum geworfen werden: „Freunde beschreiben Miss Cox als freundliche und ausgeglichene junge Frau. Ihre Taten in Shady Grove und auch in Dallas zeugen davon. Zuerst rettet sie ein entführtes Mädchen und ihr Kind, hindert einen Mann daran, sich das Leben zu nehmen … Wie können Sie sich so sicher sein, dass …?“

„Wie ich bereits sagte, befand sich ihre DNA überall am Tatort. Das Messer wurde in ihrem Auto gefunden und Mr Paces Blut befand sich sowohl an ihrem Auto als auch in ihrer Wohnung.“

„Es kann auch sein, dass sie lediglich die Leiche gefunden hat. Hätte sie ihn tatsächlich ermordet, so hätte sie mindestens versucht, die Tat zu vertuschen.“

„Wenn Cox nicht die Mörderin gewesen sein soll, wieso hat sie dann nicht die 110 gewählt, um die Tat zu melden? Stattdessen machte sie sich aus dem Staub und hat sich seitdem nicht einmal befragen lassen. Das war’s für heute“, schließt der Mann und tritt von den Mikrofonen zurück.

Allerdings zieht die Frage eines anderen Reporters ihn wieder heran: „Inwiefern ändert die Klage irgendetwas? Immerhin hilft sie Ihnen nicht bei der Suche nach Miss Cox.“

„Bis jetzt war Miss Cox von Interesse für uns, weil sie als wichtige Zeugin in einem Mordfall gesucht wurde. Jetzt allerdings ist sie die Hauptverdächtige. Durch diese Klage wird sie des Mordes beschuldigt. Vielen Dank, meine Damen und Herren.“

Der Staatsanwalt verlässt das Podium, obwohl ihm weitere Fragen zugeworfen werden.

Langsam rutsche ich mit dem Rücken an der Wand hinunter, bis ich auf dem Boden sitze. Mein Handy klingelt. Ich ziehe es aus meiner Tasche und sehe, dass es Dylan ist. Natürlich, wer sonst? Nur er hat diese Nummer.

Mir wird klar, dass auch Dylan sich in Schwierigkeiten befindet, weil ich angeklagt werde. Wenn er mir hilft, kann man ihm Mittäterschaft in einem Mordfall anlasten – und das spielt in einer ganz anderen Liga. Ich will nicht, dass er Probleme bekommt und so lasse ich das Handy klingeln, bis die Mailbox drangeht. Zwar hinterlässt Dylan mir keine Nachricht, schickt mir dafür aber eine SMS.

Du wurdest angeklagt. Hast du die Nachrichten gesehen?

Ich antworte nicht.

Geht es dir gut?

Das Handy schalte ich aus und nehme die Batterie heraus. Ich muss jede Verbindung zu ihm trennen, bevor sie ihm zum Verhängnis werden kann und er umgebracht oder eingesperrt wird. Schon zu viele Menschen haben unter den grausamen Konsequenzen leiden müssen, weil sie in irgendeiner Verbindung zu mir standen. Ich muss das beenden.

Es wäre so leicht, mich einfach zu stellen. Ich könnte in den Fernsehsender spazieren … oder in die nächste Polizeidienststelle. Und dann würde ich mich einfach einsperren lassen. Allerdings würden dann Keegan und Rollins auftauchen und mich in Verwahrung nehmen. Vermutlich wäre ich kurz darauf tot.

Es ist zum Verrücktwerden, wie gefangen ich bin. Bis zu meinem zwölften Lebensjahr war ich überzeugt, dass jedes Problem gelöst werden kann. Man findet immer einen Weg im Leben. Und Gerechtigkeit wird siegen. Dachte ich. Dafür haben Menschen wie mein Vater gesorgt.

Doch als ich meinen Vater tot aufgefunden hatte, mischte sich die Wahrheit allmählich mit Lügen. Was oben war, wurde nach unten geschoben, das Innere nach außen gekehrt und was eigentlich keinen Sinn ergab, wurde einfach angenommen. Grausamen Männern wurde mehr Glauben geschenkt als einem dummen zwölfjährigen Mädchen, das von dem mutmaßlichen Egoismus ihres Vaters traumatisiert war.

Zehn Jahre lang habe ich diese Gedanken mit mir herumgetragen, bis ich sie schließlich mit Brent teilte. Er stürzte sich auf die Geschichte wie ein Hund, der frischen Schinken wittert. Und das hat ihn sein Leben gekostet.

Einige Zeit später checke ich mein geheimes E-Mail-Postfach. Dylan hat mir ein paar Mails geschrieben.

Ich weiß nicht, ob es dir gut geht. Lass mich von dir hören. Vermutlich hast du von der Klage gehört. Ruf mich an, egal wann, tagsüber oder nachts. Wenn nicht, dann werde ich wohl dem Staatsanwalt alles zeigen, was wir herausgefunden haben. Wenigstens könnte das dem Ganzen ein Ende setzen.

Wir müssen uns etwas überlegen. Ich habe Neuigkeiten über unseren Erzfeind. Bitte ruf mich an. Ich kann nicht schlafen.

Ich presse meine Augen zusammen und lasse zu, dass die Tränen von meinen Wimpern tropfen und meine Mascara verschmiert. Ich hasse dieses übertriebene Make-up, das jedes Mal verläuft, wenn ich weine. Ich hasse diese Perücke, die jedes Mal auf und ab hüpft, wenn ich einen Schritt gehe. Ich hasse es, dass mir meine Jeans nicht mehr passen, weil ich schon so viel Gewicht verloren habe. Aber ich kann natürlich nicht shoppen gehen und mir neue kaufen. Ich hasse diese notdürftig genähte Wunde und den ständig ziehenden Schmerz in meiner Schulter.

Inzwischen ist es mir egal, was aus mir wird. Aber ich will, dass Keegan und Rollins für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden. Es muss einfach sein. Sonst wäre alles umsonst gewesen – der Tod meines Vaters, der Tod meines Freundes und die letzten Monate, in denen ich wie eine verängstigte Schwerverbrecherin leben musste.

Ich lasse mein Handy und die Batterie in meine Tasche gleiten. Als ich aufstehe, blicke ich in den Spiegel. Mein Spiegelbild blickt zurück und wirkt dabei so fremd, als wäre eine unbekannte Person mit mir im Raum.

Energisch reiße ich mir die Perücke vom Kopf – ich bin es leid, sie zu tragen –, schlüpfe unter die Bettdecke und ziehe sie mir über den Kopf. Ich will mich weder stellen noch mich selbst umbringen.

Am liebsten würde ich einfach einschlafen und nicht mehr aufwachen.

Nur wenn ich lebe

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