Читать книгу Nur wenn ich lebe - Terri Blackstock - Страница 9
4 Dylan
Оглавление„Hey, wenn du mir zeigst, was du schon hast, kann ich dir vielleicht helfen.“ Dex sitzt auf meinem Sofa und studiert die gesammelten Beweise, die ich auf dem Computer geöffnet habe. „Gibt es eine Möglichkeit, wie wir das alles vor uns ausbreiten können, um einen Überblick zu bekommen?“, fragt er.
Ich kann kaum still sitzen, so nervös bin ich. „Als ich bei der Kriminalpolizei war, war es üblich, große Tafeln mit sämtlichen Einzelheiten eines Falls zu erstellen. Darauf wurde jede Verbindung sichtbar, jedes kleinste Detail, das wir protokolliert hatten. Mit einem Blick konnte man sofort erkennen, was man bereits wusste. Und manchmal haben wir einfach darauf gestarrt, bis es irgendwann Klick gemacht hat“, erzähle ich.
Dex beugt sich hinab, um sich an seiner Beinprothese zu kratzen. Eine interessante Geste, wie ich finde. Er hat mir bereits von dem Phantomschmerz erzählt, den er in seinen amputierten Gliedmaßen spürt. Vermutlich hat er auch Phantomjucken.
„Hey, erinnerst du dich an den Fall mit dem vergifteten Unteroffizier, an dem du einmal gearbeitet hast?“, fragt er.
„Klar, Unteroffizier Mintz. Ein verhasster Mann. So viele Männer trachteten ihm nach dem Leben. Wir dachten schon, wir würden den Täter nie finden. Jeder Mann in seiner Einheit gab zu, schon einmal kurz davor gewesen zu sein …“
„Also, wie habt ihr das gemacht, all die Beweise zu sammeln und mit den Motiven der einzelnen Männer aufzulisten?“
Ich versuche mich zu erinnern und sehe die großen weißen Tafeln aus unserem Büro vor mir. „Für jede tatverdächtige Person hatten wir eine eigene Tafel. Darauf standen sämtliche Informationen über die jeweilige Person. Verbindungen, Übereinstimmungen. Streitereien, die sie mit dem Unteroffizier hatten. Dieser Fall war wirklich hart. Wir kannten zwar das Gift, mit dem er umgebracht worden war, aber wir befanden uns in einem fremden Land. So konnten wir nicht auf die Zusammenarbeit mit den dortigen Händlern vertrauen, um herauszufinden, bei wem das Gift erworben worden war. Trotzdem haben wir irgendwann ein Geschäft ausfindig gemacht, das nicht nur genau diese Substanz verkaufte, sondern sogar Überwachungskameras installiert hatte. Bis wir so weit waren, verging jedoch eine beträchtliche Zeit.“
„Aber ihr habt schließlich die Aufzeichnungen bekommen?“
„Ja, letztendlich schon. Der Mann, den wir darauf zu erkennen meinten, hatte ein hieb- und stichfestes Alibi. Zur Tatzeit befand er sich gerade im Einsatz.“
Gedankenverloren gehe ich auf die längste Wand in meiner Wohnung zu und stelle mir vor, wie ich überall Tafeln anbringe.
„Dass sich alles auf den Tafeln befand, hat uns enorm geholfen. Wir fanden heraus, welche der Soldaten undurchsichtig waren, welche sich zu dieser Tat zusammengeschlossen haben könnten und welche es nicht ganz genau mit der Wahrheit nahmen und sich von ihresgleichen angezogen fühlten.“
„Richtig“, stimmt Dex zu. „Daran erinnere ich mich. Es stellte sich sogar heraus, dass zwei Soldaten soziopathische Züge hatten.“
„Genau. Es gab mehrere Beschwerden, die beiden seien bei Einsätzen außergewöhnlich grausam vorgegangen. Wir behielten sie im Auge und fanden heraus, dass sie Heroin von einem einheimischen Dealer bezogen. Daraufhin haben wir ihre Privatsachen durchsucht und an ihren Betten Rückstände des Gifts gefunden, das für den Mord verwendet wurde. So haben wir sie beide geschnappt.“
„Und dann wurden sie vor das Kriegsgericht gestellt?“
„Darauf kannst du wetten. Sie sitzen noch immer ihre lebenslange Haftstrafe ab.“
„Warum hast du dann keine Tafeln, Mann?“
Seufzend lasse ich mich neben Dex aufs Sofa fallen. „Ich habe schon darüber nachgedacht, aber ich kann das nicht einfach hier herumstehen haben. Was, wenn Keegan oder Rollins hereinschneien? Ich hätte keine Möglichkeit, sie zu verstecken. Meine Wohnung ist einfach nicht groß genug. Und sollte einer von ihnen – Gott bewahre – herausfinden, was ich hier tue, dann könnten sie problemlos genug Beweise finden, um einen Durchsuchungsbefehl durchzubringen.“
„Wie wäre es mit irgendetwas, das du zusammenrollen kannst? Etwas, das du nur dann herausholst, wenn du daran arbeitest? Zum Beispiel Papierrollen?“
Wieder starre ich die Wand an. Könnte das funktionieren? „Ja, vielleicht“, sage ich.
„Außerdem könntest du Fotos davon machen und sie Casey zuschicken, damit auch sie das Material überprüfen kann. Es könnte euch beiden helfen, endlich herauszufinden, was ihr noch braucht. Umso schneller gelangt ihr ans Ziel und Caseys Name kann reingewaschen werden.“
Ich nicke. Mich nervt, dass meine Möglichkeiten für die Auflösung des Falls so eingeschränkt sind.
„Wie geht es ihrer Schulter?“, fragt Dex.
Wieder seufze ich und antworte: „Keine Ahnung. Sie nimmt meine Anrufe nicht entgegen.“
„Hey, ich habe getan, was ich konnte. Aber es war definitiv nicht meine beste Arbeit.“
„Du hast das großartig gemacht“, sage ich.
Mit seiner gesunden Hand stemmt sich Dex vom Sofa hoch und zeigt mit seiner Hakenhand auf mich. „Auf geht’s.“
„Wohin?“, frage ich.
„Zum Schreibwarenladen. Wir werden schon etwas Geeignetes finden. Du brauchst dein Werkzeug, Alter, damit du endlich den Fall abschließen kannst.“
„Okay. Lass uns gehen.“
Wir machen uns auf den Weg in den Schreibwarenladen und besorgen verschiedene Dinge, die ich für meine Übersicht verwenden könnte. Ich lasse mehrere Rollen weißes Papier in meinen Einkaufswagen fallen. Dann greife ich nach einer Packung mit mehrfarbigen Markern.
Dex hinkt mir hinterher. Während ich bezahle, fragt er: „Wirst du damit arbeiten können?“
„Bestimmt, das ist eine Superidee! Wenn ich sie nicht benutze, kann ich die Papiere einfach aufrollen.“
Dex grinst. „Junge, ich habe dich noch nie so begeistert über Bürokram gesehen.“
Er hat recht. Ich kann es kaum erwarten, endlich nach Hause zu kommen.
In meiner Wohnung beginne ich sofort damit, das Papier abzuwickeln und in lange Bahnen zu schneiden. Schließlich ist die gesamte Wand mit einer riesigen Arbeitsfläche bedeckt. Wenn ich aufhören will, kann ich die Papierbahnen zusammenfalten und in meinem Kofferraum verbergen. Dex ist ein Genie!
Ich mache mich an die Arbeit und sichte alle Notizen und Beweise, die wir bereits gesammelt haben. Auf dem Papier trage ich zusammen, gegen welche Personen wir Beweise haben und welche als Zeugen dienen. Statt der Namen von Alvin Rossi und Gus Marlowe, die sich vor Keegans Leuten verstecken, trage ich die Namen der Städte ein, in denen sie sich zurzeit aufhalten – Jackson und GR für Grand Rapids. Sollte Keegan jemals meine Papiere entdecken, wird er die beiden wenigstens nicht aufspüren können.
Nachdem Dex gegangen ist, arbeite ich noch den ganzen Tag weiter, sogar bis in die Nacht hinein. Ich liste auf, verbinde einzelne Punkte und kreise Überschneidungen ein. Ich drucke sogar Fotos aus und hefte sie mit Klebeband an die Stellen, wo ich sie brauche. Dann fotografiere ich die Wand und sende sie per E-Mail an Casey. Schließlich drehe ich mein Sofa und den Beistelltisch so um, dass sie auf die Wand zeigen, und setze mich hin. Die Füße lege ich auf dem Tisch ab und verschränke die Arme hinter dem Kopf. Ich starre auf die Wand. Mein Blick springt von einem Hinweis zum nächsten.
Wir brauchen einen unwiderlegbaren Beweis, der Keegan und Rollins mit einem der Morde verbindet. Ich schaue auf die Namen der drei Menschen, die umgebracht wurden – Andy Cox, Brent Pace und schließlich Sara Meadows. Gibt es irgendeinen versteckten Hinweis? Bevor ich den nicht gefunden habe, kann ich nicht damit rechnen, dass Keegan und Rollins für diese Morde zur Rechenschaft gezogen werden. Wenn man ihnen nur Erpressung und Geldwäscherei zur Last legen kann, werden sie sich höchstwahrscheinlich irgendwie herausreden. Das ist einfach nicht genug.
Mit dem neuen Ziel vor Augen mache ich mich wieder an die Arbeit. Ich gehe jeder Vermutung nach, die mir in den Sinn kommt. Casey verlässt sich auf mich. Also werde ich etwas finden. Ich muss!
Spät in der Nacht döse ich immer wieder ein und schwebe zwischen Wachzustand und Schlaf – an dem Ort, wo verdrängte Erinnerungen liegen und nur darauf warten, wie unkontrollierbare Sprengsätze in die Luft zu fliegen. Hier erinnert mein Gehirn mich daran, wieso ich immer wieder versagen werde.
Irgendwo an einem anderen Ort klingelt ein Telefon … Es ist das Zuhause meiner Kindheit, das wie ein Schlachtfeld aussieht. Was hat meine Mutter nun schon wieder getan?
Ich nehme ab und höre ihr zu. Dann werfe ich mir meine Klamotten über und eile aus dem Haus. Immerhin hat sie von einem Notfall gesprochen. Ich wünschte, ich hätte mir wenigstens einen Thermosbecher mit heißem Kaffee mitgenommen. Doch der Weg zu der genannten Stelle ist nicht weit.
Immer handelt es sich um einen Notfall. Ich habe zwei Explosionen überlebt, während meine Kameraden in Leichensäcken nach Hause gebracht wurden. Dennoch sind es die Dramen meiner Mutter, die mich in diesen Tagen auf Trab halten.
Ich biege um eine Ecke und sehe sie. Offensichtlich hat sie ihr Auto in den Graben gefahren und stiefelt vor ihrem Wagen auf der Straße auf und ab, während sie wild auf ihr Telefon einredet. Auf der anderen Seite des Grabens befindet sich ein Parkplatz. Ich bremse ab, bis ich den Eingang entdecke, und biege ab. Meinen Wagen stelle ich direkt hinter ihrem verunglückten Auto ab. Auch als ich aussteige, brüllt sie ohne Unterlass in ihr Handy.
„Mum!“, sage ich, doch sie hört mich nicht. „Mum!“, rufe ich jetzt. Sie wirbelt herum und lässt ihr Telefon fallen. Fluchend bückt sie sich danach und tritt dabei in den Matsch. „Warum hast du so lange gebraucht?“, fragt sie mich.
„Bist du verletzt?“, frage ich zurück.
„Sehe ich aus, als wäre ich verletzt? Hilf mir einfach mit meinem Wagen, damit ich so schnell es geht nach Hause fahren kann.“
Hilflos starre ich von der anderen Seite des Grabens auf ihren Wagen. Die Vorderseite ist zertrümmert, die Motorhaube sieht aus, als hätte jemand sie zur Hälfte gefaltet. „Er wird nicht mehr fahren. Wir müssen einen Abschleppwagen kommen lassen.“ Ich sehe mich um. „Hast du die Polizei verständigt? War ein anderes Auto in den Unfall verwickelt?“
„Keine Ahnung“, erwidert sie, ungenau wie immer. „Ich setze mich hinein und du schiebst von hinten, während ich Gas gebe.“
Ich mache mich auf den Weg zu der Parkplatzeinfahrt und überquere den Graben, um auf ihre Seite zu gelangen. Meine Mutter steht mitten auf der Straße. Autofahrer müssen auf die Gegenfahrbahn ausweichen.
„Mum, komm auf das Gras. Komm schon“, sage ich.
Sie wischt nur den Schlamm von dem Handy an ihrer viel zu großen Jeans ab und versucht, einen weiteren Anruf zu tätigen.
„Wen rufst du an?“, will ich wissen.
„Deinen Vater!“, brüllt sie, als wäre ich das einzige Problem weit und breit. „Aber wahrscheinlich ist er immer noch nicht bei Bewusstsein und wird nicht einmal abnehmen. Dabei würde er mich mit Sicherheit herausbekommen.“
„Mum, niemand kann deinen Wagen hier herausziehen, am allerwenigsten Dad. Ich rufe dir einen Abschleppwagen.“
Ich rieche ihren stinkenden Atem, als sie sich zu mir beugt und mich anschreit: „Ich brauche dieses verdammte Auto, Dylan! Hol es sofort aus dem Graben heraus! Ich habe kein Geld für einen Abschleppwagen!“
„Mum, sprich leiser!“
„Wenn du einfach ab und zu aus deinem Bett kommen und dir einen anständigen Beruf suchen würdest, dann hätte ich vielleicht genug Geld für einen Abschleppwagen. Aber nein, du hast ja PTBS und kannst nichts tun und ich muss das ausbaden! Kein Wunder, dass sie dich aus der Armee geschmissen haben.“
Mein Kiefer verhärtet sich und ich merke, wie ich mich versteife. Weißglühender Zorn überkommt mich. „Ich wurde nicht rausgeschmissen, sondern ehrenvoll entlassen“, korrigiere ich.
„Weil du ein psychisches Wrack bist!“
„Wer, bitte schön, hat denn gerade seinen Wagen in den Graben gefahren?“, presse ich hervor. „Mum, setz dich einfach in meinen Wagen und warte dort. Ich werde mich darum kümmern.“
„Wehe, du rufst die Polizei an“, sagt sie. „Ich warne dich, tu es ja nicht!“
Es ist nicht nötig, die Polizei zu informieren. Immerhin scheint kein weiteres Auto in den Unfall verwickelt zu sein. Ich sehe meiner Mutter hinterher, die sich schwankend auf meinen Wagen zubewegt und schließlich auf der Fahrerseite einsteigt … als würde ich jemals auch nur in Betracht ziehen, sie nach diesem Vorfall fahren zu lassen.
Auf meinem Smartphone suche ich bei Google nach einer Abschleppfirma und rufe an. Sie sind auf dem Weg, sagen sie mir.
Meine Mutter ist eingeschlafen. Ihr Kopf lehnt an der Kopfstütze und ihr Mund steht weit offen. Bedauerlicherweise werde ich sie aufwecken müssen, damit sie sich auf den Beifahrersitz begeben kann. Den ganzen Weg über wird sie mich dafür anschreien.
Ich lehne am Kotflügel meines Autos und warte auf den Abschleppwagen, während ihre Stimme in meinem Kopf immer wiederholt: Psychisches Wrack … dass sie dich rausgeschmissen haben …
Die Schwere in meiner Brust lässt mich aus dem Schlaf hochfahren. Ich japse nach Luft. Alles an mir klebt vor Schweiß. Trotzdem überkommt mich Erleichterung, als ich merke, wo ich mich befinde und dass die Worte meiner betrunkenen Mutter mich hier nicht erreichen können.
Ich bin kein psychisches Wrack.
Ich werde nicht versagen.
Und außerdem bin ich nicht allein. Gott ist dabei und er wird mit mir diesen Kampf ausfechten. Während ich mich an dem Bild seines Schwertes festhalte, das alles Böse um mich herum aus dem Weg räumt – und um Casey –, schlafe ich wieder ein. Diesmal träume ich vom Sieg.