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9 Casey

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Man sagt, dass ein Spaziergang im Wald irgendetwas in deinem Gehirn bewirkt. Glückshormone sollen dabei ausgeschüttet werden, die für Wohlbefinden sorgen. Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt, aber definitiv hat die Gesellschaft anderer Menschen denselben Effekt auf mich. Das Geräusch von Leuten, die miteinander reden, wenn jemand mein Lächeln erwidert oder in der Menschenmenge zufällig meine Schulter streift – all das trägt zu meinem inneren Frieden bei. Nur eins nicht: wenn Menschen mich anstarren, weil ich wie die Mörderin aus dem Fernseher aussehe.

Ich parke vor der Megachurch in der Nähe meines Motels und starre die großen Eingangstüren an. Das ehemalige Kino hatte man vor einiger Zeit in eine Kirche umgebaut. Das weiß ich nur, weil gestern während einer Folge von Andy Griffith eine Werbung geschaltet wurde, in der diese Gemeinde ihren Gottesdienst anpries. Es wurde ein dunkler Raum gezeigt, in dem lediglich die Bühne hell erleuchtet war.

Bestimmt falle ich in der Dunkelheit nicht auf, wenn ich einfach ein paar Minuten später komme. Im Rückspiegel überprüfe ich meine Perücke. Wenn ich mich beeile, kann ich meine Sonnenbrille vielleicht auflassen, bis ich in der Dunkelheit des Saals verschwunden bin.

Vor dem Gebäude stehen Leute, die die Besucher begrüßen. So schnell ich kann, laufe ich vorbei, werfe ihnen ein Lächeln zu und tue so, als würde ich hierher gehören.

Der Gemeindesaal sieht aus wie im Fernsehen. Kinosessel und gedimmtes Licht. Die Gottesdienstbesucher singen bereits. Nur die Bühne ist hell erleuchtet, weil eine Band den Gesang von vorne begleitet.

In einer der letzten Reihen suche ich mir einen Platz und lasse mich in den Sessel sinken. Der Text des Liedes wird auf einem Bildschirm angezeigt. Zwar kenne ich das Lied nicht, trotzdem verfolge ich jedes einzelne Wort und genieße dabei den Klang der mehreren Hundert Stimmen. Ich frage mich, ob es im Himmel so ähnlich sein wird wie hier: Tausende, ja Millionen von Stimmen, die alle Gott zur Ehre singen. Ob ich das wohl jemals zu hören bekomme?

Nach der ersten Strophe ist mir die Melodie vertraut und ich singe mit. Ein tiefer Friede durchströmt mich. Kein Vergleich zu dem Gefühl, das ich vielleicht mal in einem Wald verspürt habe.

Wie wäre es wohl, wenn ich zu dieser Gruppe dazugehörte? Wenn ich begrüßt würde wie ein Familienmitglied, wenn ich zur Tür hereinkäme? Aber das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

Zugleich frage ich mich, ob Dylan das wohl in seiner Kirche erlebt. Ich stelle mir vor, wie er Leute umarmt und ihnen zur Begrüßung die Hände schüttelt, wie er in seiner geöffneten Bibel mitliest, während die Predigt gehalten wird und sich dabei Notizen an den Rand schreibt. Vermutlich versuchen ständig irgendwelche Leute, ihn mit irgendeiner unverheirateten christlichen Frau zu verkuppeln. Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Wie komme ich überhaupt dazu, mir eine Zukunft mit ihm vorzustellen?

Der Prediger tritt ans Mikrofon und bittet die Zuhörer, die Personen rechts und links zu begrüßen. Zu meinem Entsetzen geht das Licht an. Überall beginnen Gespräche.

So schnell ich kann, verlasse ich meine Reihe und eile Richtung Ausgang. Die Begrüßungsleute sind nicht mehr zu sehen, wahrscheinlich sind sie jetzt selber im Saal. Niemand hält mich auf.

Erst an meinem Wagen werde ich langsamer. Hoffentlich hat mich niemand erkannt. Auf dem Weg zurück in mein Motel weine ich. Die Tränen hinterlassen wieder eine schmutzige Spur auf meinem Gesicht. Mit aller Kraft versuche ich, mich an den tiefen Frieden zu klammern, den ich ein paar Sekunden lang gespürt habe. Er wird noch eine Weile vorhalten müssen. Und ich werde dafür sorgen, dass meine Gedanken mir nicht im Wege stehen.

In meinem Zimmer öffne ich meine Bibel und lese die Stelle, über die der Pastor in der Kirche predigen wollte. Aber ich verstehe sie nicht. Was hätte er wohl gesagt? Schade, dass ich es nicht gehört habe.

Die Bibelstelle tippe ich bei Google ein und sofort werden mir verschiedene Seiten angezeigt. Als ich auf einen Link klicke, öffnet sich eine Seite mit der Predigt eines anderen Pastors. Ich lasse sie laufen und stelle mir dabei vor, dass ich selbst in diesem Gottesdienstraum sitze und gemeinsam mit den anderen Besuchern die Worte in mich aufsauge. Warum ist mir diese Idee nicht schon früher gekommen? Ich kann so viel über das Christsein lernen, wenn ich mir einfach YouTube-Videos ansehe.

Die nächsten Stunden verbringe ich damit, dem Pastor zuzuhören, während er über sechs verschiedene Themen spricht. Anschließend fühle ich mich besser und es macht mir nicht mehr so viel aus, dass ich bei dem Gottesdienst nicht dabei sein konnte. Selbst wenn das hier nicht das Haus Gottes ist, kann ich trotzdem seine Stimme hören.

Nur wenn ich lebe

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