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Prolog
ОглавлениеDer Tag, der alles verändern sollte, war ein Freitag. Obwohl die Sonne vom Himmel lachte, war es kühl geworden. Ein frischer Herbstwind durchstreifte die bayerische Landeshauptstadt, als Claudia Schuster an diesem Nachmittag in der Mitte des Monats Oktober nach Hause kam und die schweren Einkaufstüten auf die Ablage neben der Küchenzeile wuchtete.
Blätterteig, Backmischung, Mandeln, Erdbeeren, Himbeeren, Kerzen, Kerzenstecker, Süßigkeiten… Hoffentlich hatte sie an alles gedacht. Na ja, spätestens morgen würde sie es wissen, wenn die ganze Doppelhaushälfte unter Kindergeschrei und Herumtollen erbeben würden. „Nur ein paar Freunde“ hatte sich Hermine als Gesellschafter bei der Feier ihres zwölften Geburtstags gewünscht. Aber als sie gemeinsam eine Liste gemacht hatten, waren es am Ende stolze 22 Namen gewesen. Na, das konnte ja heiter werden.
Bis heute Abend, wenn Hermine vom Schulausflug zurückkehren würde, hatte Claudia nun Zeit für die Vorbereitungen. Sie begann erst mal mit einer guten Tasse Cappuccino aus dem Vollautomaten für sich selbst.
Claudia schaltete das DAB-Radio ein, das geschickt in die moderne Küchenzeile integriert worden war, und wählte ihren Lieblingssender, der rund um die Uhr Pop-Musik aus den achtziger und neunziger Jahren spielte. Dann heizte sie den Backofen vor und machte sich an den ersten der drei Kuchen. Wenn Claudia Glück hatte, dann kam Robert noch vor Hermine nach Hause und konnte ihr ein bisschen zur Hand gehen bei den Vorbereitungen.
Gerade als Claudia auf einem Zettel die Reihenfolge der morgigen Spiele notierte, läutete ihr Smartphone. „Mama“ stand auf dem Display, das außerdem eine herzlich lachende Frau in den Sechzigern zeigte. „Hi Mama“, sagte Claudia, nachdem sie auf das Rufannahmesymbol getippt hatte. „Hey Schatz, wie schaut’s aus für morgen? Alles bereit?“ Claudia entgegnete, dass man davon noch weit entfernt, aber doch auf einem guten Weg sei. Dabei fiel ihr Blick auf die beiden noch nicht mal halb fertigen Obstkuchen. Aber egal.
„Es reicht übrigens, wenn ihr gegen halb zwei kommt“, riet Claudia ihrer Mutter. Sie würde sich sowieso nicht daran halten und mindestens eine Stunde eher an der Haustür der Schusters läuten. „Und Mama“, fügte Claudia hinzu, „bitte nicht wieder so viele Geschenke wie beim letzten Mal. Hermine lässt momentan in der Schule ein bisschen nach. Es täte ihr ganz gut, wenn sie sich mehr ihren Hausaufgaben widmen würde.“ Ihre Mutter tat dies erwartungsgemäß ab: „Ach, sie ist ein Kind. Du warst in dem Alter auch nicht anders, Schatz. Wenn Du willst, such ich mal Deine alten Aufgabenhefte auf dem Speicher.“ Claudia schloss die Augen. War ja klar. Sie hörte sich noch ein paar Tipps für eine perfekte Geburtstagstorte an, dann beendete sie das Gespräch.
Claudia ließ gerade einen zweiten Cappuccino in die inzwischen leere Tasse laufen, als sich ein Schlüssel in der Haustüre drehte. „Mist, da bin ich wohl zu früh“, lachte Robert, als er die Küche betrat und das Chaos erfasste. „Nein, genau richtig“, entgegnete seine Frau trocken, gab ihm einen Kuss und machte dann eine ausladende Handbewegung: „Du kannst Dir Deinen Aufgabenbereich sozusagen noch selbst aussuchen.“ Robert winkte ab. „Ne, ne, lass mal. Wenn wir unsere Kleine morgen nicht vollends blamieren wollen, dann halte ich mich von den Kuchen besser ganz weit fern.“ Er deutete in die Ecke rechts neben der Küchenzeile, wo ein einzelner Kasten Gerolsteiner Sprudel stand. „Ich zieh mich schnell um, dann fahr ich zum Getränkemarkt und hol eine kleine Auswahl an Säften und Limonaden.“ Robert verschwand nach oben in Richtung Schlafzimmer. Zwei Minuten später hatte er den Anzug gegen Jeans und Sweatshirt getauscht. Er griff sich den Autoschlüssel, warf seiner Frau eine Kusshand zu und verließ das Haus.
Der Getränkemarkt war nur ein paar Kilometer entfernt. Robert Schuster lenkte den noch fast nagelneuen dunkelblauen VW Passat rückwärts aus der Garageneinfahrt hinaus auf die Zehntfeldstraße und fuhr Richtung Westen. Kurze Zeit später bog er links in die Bajuwarenstraße ein, ein paar Meter später wieder nach rechts auf die Heinrich-Wieland-Straße. Gut gelaunt wegen des bevorstehenden freien Wochenendes drehte Robert das Radio lauter, doch genau in diesem Moment war der gerade gespielte Song zu Ende, und das Intro einer Ballade erklang aus den Lautsprechern.
Roberts rechte Hand wanderte zum geschmackvoll in die Mittelkonsole integrierten Touchscreen, auf dem die Landkarte des Navigationssystems zu sehen war. Wo war gleich noch mal das Feld zum Umschalten auf die Radiobedienung? Rechts oben oder… Mann, bei seinem vorherigen Toyota war das einfacher gewesen. Aber da lagen auch gut 15 Jahre technischer Fortschritt dazwischen. Dennoch, Robert hatte echte „analoge“ Druckknöpfe immer zu schätzen gewusst. Jedenfalls fand er die Bedienung damit deutlich bequemer. „Ah ja, wusste ich es doch.“ Endlich hatte er gefunden, wonach er suchte, und das Display zeigte eine Liste der verfügbaren Radiosender an. Robert tippte auf „Antenne Bayern“, und „Shallow“ von Lady Gaga featuring Bradley Cooper flutete den mit Leder ausgekleideten Innenraum des Fahrzeugs.
Als Robert den Blick wieder auf die Fahrbahn vor sich richtete, war es bereits zu spät. Der junge Mann, der nur wenige Meter vor ihm auf die Straße getreten war, den Blick gedankenversunken auf das Smartphone in seiner rechten Hand gerichtet, war schon viel zu nah. „Scheiße!“ Robert trat das Bremspedal voll durch und drückte gleichzeitig auf die Hupe. Der junge Mann sah erschrocken auf und Robert direkt in die Augen, als der Kühlergrill des Passats ihm mit guten 45 Stundenkilometern Restgeschwindigkeit die Beine wegriss.
Der Mann wurde nach oben geschleudert, prallte mit voller Wucht gegen die Windschutzscheibe, deren Sicherheitsglas sich mit einem lauten Knall in ein engmaschiges Spinnennetz verwandelte und vom Blut des Unfallopfers rot färbte. Robert hörte einen erneuten Knall vom Dach des Passats her, dann endlich stand das Fahrzeug.
Im Rückspiegel sah Robert den jungen Mann etwa 30 Meter hinter sich auf der Straße liegen, den Körper merkwürdig verdreht.
Er rührte sich nicht mehr.