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Freitag 19. Oktober, 19.54 Uhr
ОглавлениеGerhard-Hauptmann-Ring 284, Neuperlach, München
Als Simpert Rader vor der Eingangstür des Wohnblocks Gerhard-Hauptmann-Ring 284 stand, wollte er am liebsten sofort wieder umkehren und nach Hause fahren. Es war genau jene Art von Gebäude, in der er niemals würde leben wollen: gute 25 Stockwerke hoch, Graffiti an den Mauern, ein grauer Block ohne Charme, hochgezogen Ende der 60er Jahre, als die Landeshauptstadt München aus allen Nähten zu platzen drohte und dringend neue Wohnungen notwendig waren.
Es war bereits dunkel geworden. Aus einem offenen Fenster im ersten Obergeschoß hörte Rader eine Frau schimpfen. Offenbar waren ihre Kinder mit der Qualität des Abendessens unzufrieden, womit wiederum die Frauenstimme unzufrieden war. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund.
Die Eingangstür besaß eine von einem Drahtgitter durchzogene Milchglasscheibe, auf die irgendein Scherzbold mit schwarzem Edding „Tor zur Höle“ gekritzelt hatte. Rader ging davon aus, dass es „Hölle“ heißen sollte, mit zwei „L“, aber eigentlich war es ihm egal.
Er nahm die Schlüssel des Unfallopfers zur Hand und probierte sie der Reihe nach durch. Der zweite Schlüssel ließ sich in den Zylinder einführen und nach rechts drehen. „Bingo“, sagte Rader zu sich selbst. Jetzt galt es nur noch, die zu einem der beiden anderen Schlüssel passende Wohnungstür zu finden. Die Ziffer „4“ auf dem roten Plastikanhänger konnte sowohl eine Wohnungsnummer als auch ein Stockwerk meinen. Raders Blick streifte die Türen im Erdgeschoß, aber auf keiner waren Zahlen zu sehen. Also war wohl die vierte Etage sein Ziel. Da der Aufzug schon von außen wenig vertrauenserweckend wirkte und Rader beim Öffnen der Lifttür beißender Uringestank in die Nase stieg, entschied er sich trotz seiner Rückenschmerzen fürs Treppenhaus.
Im vierten Stock angekommen, registrierte er, dass praktisch keine der insgesamt 18 Wohnungstüren ein Namensschild hatte. Anonymität wurde in diesem Block offenbar großgeschrieben. „Nun denn“, murmelte Rader und beschloss, sich von links nach rechts vorzuarbeiten.
Er näherte sich leise der ersten Tür und betrachtete den Schließzylinder, der – wie er im Vorbeigehen schon bemerkt hatte – an allen Türen vom selben Hersteller stammte. Dazu passen konnte nur einer der beiden übrig gebliebenen Schlüssel. Rader lauschte auf ein Geräusch von innen, dann steckte er den Schlüssel vorsichtig in den Schließzylinder. Er ließ sich problemlos bis zum Anschlag einführen, aber nicht drehen. Langsam, um kein Geräusch zu machen, zog der Polizist den Schlüssel wieder heraus.
Die klassische Methode wäre natürlich einfacher gewesen. An jeder Tür läuten, ein Foto des Unfallopfers zeigen und fragen, ob man diesen Mann kennt. Leider jedoch war das Gesicht der Leiche wegen des mehrfachen Aufpralls in einem dermaßen desolaten Zustand, dass die Foto-Methode diesmal keinesfalls in Frage kam.
Das grelle Deckenlicht flackerte kurz. Rader hörte, wie irgendwo, wahrscheinlich ein Stockwerk über oder unter ihm, eine Tür geöffnet wurde. Lautes Lachen drang durch den nach Abfällen stinkenden Flur. Dann war es wieder still.
An der nächsten Tür klappte es wieder nicht. An der übernächsten Tür ebenso wenig. Als Rader den Schlüssel in den Zylinder der vierten Türe steckte, wurde diese plötzlich aufgerissen. Ein kräftig gebauter Mittvierziger in Jogginghose und fleckigem weißen T-Shirt stand vor Rader und herrschte ihn an: „Was willst Du hier, Du Spacko!?“ Noch ehe Rader antworten konnte, bekam er einen heftigen Stoß vor die Brust, der ihn rückwärts an die gegenüberliegende Wand taumeln ließ. „Das ist nicht Deine Tür, Du versoffenes Schwein!“, schrie ihn der Mann an, „zieh Leine und such Deine Bude woanders.“ Dann knallte er die Tür zu.
Rader überlegte kurz zu läuten und dem blöden Kerl seinen Dienstausweis unter die Nase zu reiben, ließ es aber dann bleiben. Womöglich würde er nur unnötig Aufsehen erregen. Also ging er weiter zur nächsten Tür. Der Schlüssel ließ sich wiederum bis zum Anschlag einführen. Und als Rader die Hand vorsichtig nach rechts drehte, drehte sich der Schlüssel mit.
Weder am Türblatt noch am Klingelknopf stand ein Name. Langsam zog Rader den Schlüssel wieder aus dem Zylinder und ließ ihn in seine Jackentasche gleiten. Dann holte er seinen Dienstausweis hervor, richtete sich zu voller Größe auf, schnaufte einmal tief durch und drückte auf die Klingel. Nichts passierte. Er versuchte es ein zweites Mal, wieder ohne Ergebnis. Der Polizist legte sein Ohr an die Tür, vernahm aber keinerlei Geräusche. Erneut läutete er, diesmal deutlich länger, aber niemand öffnete.
Simpert Rader trat einen Schritt zurück und kratzte sich am Kinn. Sein Blick ging nach links, dann nach rechts. Die Wohnungstüren auf der linken Seite des Flures standen gute acht bis zehn Meter auseinander, was bedeutete, dass sich dahinter größere Wohnungen mit mindestens zwei oder mehr Zimmern befinden mussten. Auf der rechten Flurseite – also dort wo auch der Schlüssel passte – lagen nur circa fünf bis sechs Meter zwischen den Türen. Es handelte sich demzufolge höchstwahrscheinlich um kleine Ein-Zimmer-Apartments. Die Chance, dass hier eine ganze Familie oder auch nur jemand zusammen mit seinem Partner lebte, bestand zwar, war jedoch erfahrungsgemäß gering.
Simpert Rader griff zum Telefon. „Also, ich würde das Risiko eingehen“, meinte dann auch Franz Rettenbichler, einer von seinen Kollegen beim Kriminaldauerdienst, während er offensichtlich auf etwas herumkaute. „Ich trag den Zutritt ins System ein. Meld Dich dann gleich wieder, ja?“, forderte ihn sein Kollege auf. Rader bestätigte, legte den Finger auf den roten Beenden-Button des iPhone-Displays und ließ das Smartphone zurück in die Innentasche seiner Windjacke gleiten. Er schob den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn zweimal nach rechts.
Als er die Tür vorsichtig nach innen aufdrückte, schlug ihm abgestandene Luft entgegen. Offenbar nahm es der Bewohner mit dem regelmäßigen Lüften seiner Wohnräume nicht so genau. Rader tastete an der Wand nach einem Lichtschalter, fand ihn und drückte darauf. Eine müde 25-Watt-Glühbirne, die in einer Baufassung steckte, welche wiederum mittels einer Lüsterklemme mit den aus der Decke ragenden Stromkabeln verbunden war, flammte auf und tauchte den nur knapp drei Meter langen und etwa eineinhalb Meter breiten Flur in schummriges Licht.
Wie Rader erwartet hatte, handelte es sich eindeutig um eine Ein-Zimmer-Wohnung, die ihrem Bewohner aber wahrscheinlich gemäß den in der bayerischen Landeshauptstadt geltenden ungeschriebenen Mietpreisgesetzen für ein kleines Vermögen überlassen wurde. Selbst der Umstand, dass die Wohnung in einer sozial eher schwachen Gegend lag und sich das gesamte Gebäude in unbefriedigendem Allgemeinzustand befand, änderte hieran sicher nichts. München halt. Rader selbst zahlte für seine 75 Quadratmeter große 2,5-Zimmer-Bude im bürgerlichen Haidhausen schon runde 1000 Euro warm – ein Preis, für den man außerhalb der Stadt oft ein ganzes Haus mieten konnte. Mit Garten, wohlgemerkt.
Gleich nach der Wohnungstür ging es rechts ins Badezimmer. Simpert Rader warf nur einen kurzen Blick hinein. Das Bad, in dem sich neben einem Waschbecken und einer Toilette mit altmodischer Drucktasterspülung noch eine Dusche befand, wirkte ordentlich und aufgeräumt.
Eine weitere Tür am Ende des kurzen Flurs führte in den Wohnraum, der vollständig im Dunkeln lag. Rader drückte auch hier auf den Lichtschalter. Eine weitere Glühbirne, diesmal zum Glück deutlich stärker als die armselige Funzel im Flur, erhellte das Zimmer – und ließ den Polizisten staunen.
Rechts neben der Tür war die Küchenzeile – oder zumindest der hierfür vorgesehene Platz. Auf dreieinhalb Metern Länge waren gelbliche Kacheln an der Wand angebracht, darunter gab es mehrere Steckdosen und Anschlüsse für Warm- und Kaltwasser, ebenso für einen Elektroherd.
Am gegenüberliegenden Ende des Raumes gab es zwei große Fenster und eine Balkontür. Sämtliche Rollläden waren heruntergelassen, was die völlige Dunkelheit erklärte. Wände und Decke waren weiß gestrichen. Bilder oder ähnlichen Wandschmuck gab es nicht.
Das einzige Mobiliar bestand aus zwei in L-Form ausgerichteten Schreibtischen – billige Massenware aus dem Baumarkt, wie Simpert Rader sofort erkannte. Auf einem der Tische stand ein aufgeklappter, aber ausgeschalteter Laptop der Marke Lenovo, auf der rechten Seite war das Kabel einer Computermaus eingesteckt. Der zweite Tisch war vollständig bedeckt mit allerhand Papieren. Vor den Tischen standen zwei Klappstühle, einfach verarbeitete Baumarktware.
„Gemütlich hier“, murmelte Rader. Sein Rücken schmerzte wieder, und am liebsten hätte er sich auf einem der Stühle kurz niedergelassen, aber sein in vielen Jahren Polizeidienst geschulter Instinkt sagte ihm, dass dies möglicherweise keine gute Idee war. Stattdessen griff er in die linke Innentasche seiner Windjacke, zog ein paar Handschuhe hervor und streifte sie über. Dann verließ er den Wohnraum und warf erneut einen Blick ins Badezimmer, diesmal genauer als vorher.
Auf einmal wurde ihm klar: Der Raum wirkte nur deshalb so ordentlich und aufgeräumt, weil es überhaupt keine badezimmertypischen Gegenstände gab. Keine Handtücher, keine Zahnbürste, keine Deodorants, kein Shampoo, nichts, gar nichts. Lediglich eine angebrochene Rolle billigen einlagigen Toilettenpapiers aus Recyclingpapier baumelte am Halter neben der Schüssel. Die Staubweben zwischen Stange und Duschvorhang bezeugten, dass sich hier schon lange niemand mehr einer Körperreinigung unterzogen hatte. Das Waschbecken war mit Kalkrückständen durchsetzt.
Nachdenklich ging Rader zurück in den Wohnraum, stellte sich vor die beiden Schreibtische und ließ den Blick langsam rundum schweifen. Definitiv wohnte hier niemand. Aber für ein Büro war das Apartment auch irgendwie zu spärlich eingerichtet – abgesehen davon, dass es sich dann um Zweckentfremdung von Wohnraum handeln würde, aber das war jetzt eher nebensächlich. Wo also war Rader hier gelandet?
Sein Blick fiel auf die Papiere, die ohne erkennbares System bunt durcheinander auf dem Schreibtisch lagen. Es handelte sich hauptsächlich um Computerausdrucke. Irgendwelche Listen, Termine und… seltsame handgezeichnete Linienmuster. Der Polizist sah genauer hin. Und erkannte, dass es sich um eine Art Gleisplan handelte. Am Ende der einzelnen Linien standen zweistellige Buchstabenkombinationen, „MS“, „MO“ oder „LP“. Mit dem behandschuhten rechten Zeigefinger fuhr Simpert Rader die Linien nach – und hielt plötzlich inne. Natürlich! Er kannte diesen Linienverlauf. Was er hier vor sich hatte, war das Netz der Münchner U-Bahn, die er selbst täglich auf dem Weg zum Präsidium nutzte.
Vorsichtig schob er den Haufen ein bisschen auseinander. Technische Zeichnungen kamen zum Vorschein, die Rader aber nicht verstand. Weiter unten im Stapel fand der Polizist mehrere ausgedruckte Excel-Tabellen mit Zeitangaben und unverständlichen Abkürzungen wie „VM1“, „LST“ und UBZ“, die händisch mit blauem Kugelschreiber miteinander verknüpft worden waren. Ein weiterer Ausdruck offerierte mehrere Telefonnummern, die meisten davon in München, wie Rader anhand der Vorwahl erkannte. Einige Nummern waren mit Kugelschreiber unterstrichen, andere wiederum durchgestrichen oder am Ende der Zeile mit einem Fragezeichen versehen worden.
Ein Blatt Papier fiel zu Boden, als Simpert Rader sich weiter langsam durch den Stapel arbeitete. Er bückte sich, nicht ohne dafür sogleich mit einem stechenden Schmerz in der Lendenwirbelgegend abgestraft zu werden, und hob das Blatt auf. Unzählige Kalenderdaten waren darauf notiert, dahinter fünfstellige Zahlenwerte, einige davon mit einem Fragezeichen versehen. An der rechten unteren Ecke hatte jemand eine Art Haus gezeichnet, so wie Rader selbst es manchmal während eines langweiligen Telefonats machte.
Er zögerte noch einen Augenblick, beschloss dann aber, seinem Instinkt zu vertrauen, und holte sein iPhone aus der Innentasche seiner Windjacke hervor. Nur wenige Sekunden, nachdem Rader die Wahlwiederholung aktiviert hatte, meldete sich sein Kollege Franz Rettenbichler.
„Es gibt Arbeit“, sprach Simpert Rader ins Smartphone, „schick die Spurensicherung her. Das volle Programm. Ich kann’s Dir nicht so genau erklären, Franz, aber… hier stimmt was ganz und gar nicht.“