Читать книгу Störfahrt - Thomas Bosch - Страница 4
Lieber Brieffreund,
Оглавлениеheute habe ich Geburtstag. Ich mag diesen Tag nicht. Am liebsten würde ich ihn einfach vergessen. Ich übe schon fleißig. Seit vier Jahren. Und ich bin schon ganz gut darin. Heute habe ich es fast bis zur großen Pause geschafft. Dass ich dann doch wieder daran denken musste, war nicht meine Schuld. Denn in Elsas roter, ziemlich verbeulter Blechdose, die sie immer in ihrem Schulranzen bei sich hat, war ein riesiges Stück Schokoladen-Keks-Kuchen. „Kalter Hund“. Mein Lieblingskuchen. Und das heute, an meinem Geburtstag. „Kalten Hund“ hat meine Mama immer für mich gebacken. Immer einmal im Jahr. Immer am gleichen Tag. Bis vor vier Jahren.
Es war unser Ritual. An diesem Tag lief alles immer genau gleich ab. Sobald die Schulglocke erklang, rannte ich los. Ich rannte im Slalom zwischen den Kindern aus den anderen Klassen hindurch. Ich war so schnell wie der Wirbelwind. Im rasenden Galopp stürmte ich die schweren Steinstufen der alten Schultreppe hinunter, hinaus in den Vorhof. Weiter, immer weiter. Ich hörte erst auf zu rennen, als unser Haus in Sicht kam. Dann hielt ich an. Ich schwitzte.
Ich bin nicht so gut im Sport, musst Du wissen. Eigentlich hasse ich Sport. Und Mama mag es nicht, wenn ich zerzaust nach Hause komme. Schon gar nicht an einem so besonderen Tag. Ich kämmte mir also mit den Fingern die Haare und zog meine schwarze Jacke wieder gerade. Hoffte, so zumindest die offensichtlichen Spuren, die der Schultag an mir hinterlassen hatte, beseitigt zu haben. Jetzt war mein Schaal noch im Weg. Der besteht fast nur noch aus Löchern und musste deswegen verschwinden. Ich stopfte ihn in den Ranzen. Dann ging ich ganz langsam, als hätte ich alle Zeit der Welt, auf die Eingangstür unseres Hauses zu.
Ich wollte die Zeit ausdehnen. Das Gefühl der Vorfreude konservieren wie Mama die Gurken. Manchmal ging ich sogar soweit, dass ich noch den Alten aus der Wohnung ganz unten rechts von unserem Haus grüßte. Der alte Griesgram, so hat ihn Papa immer genannt, hatte mal wieder seinen Posten bezogen. Er saß immer in seinem Sessel ganz dicht am Fenster und glotzt hinter der Gardine hervor. Der denkt wahrscheinlich, niemand kann ihn sehen. Aber ich weiß genau, dass er da ist.
Klingeln musste ich an meinem Geburtstag nie. Wie von Geisterhand öffnete sich die Türe, sobald ich vor ihr stand. Als ich noch klein war, dachte ich wirklich, dass in unserem Haus Geister wohnen. Ich brauchte mich nur gegen die schwere Scheibe zu lehnen, und schon konnte ich die Türe aufschieben. Seit ich denken kann, öffnet sich einmal im Jahr die Tür ganz von alleine; nur für mich. Es ist der einzige Tag im Jahr, an dem ich nicht erst meinen Ranzen abstellen und zwischen all den Schulsachen nach der kleinen blauen Weltkugel mit dem braunen Lederband suchen muss, an der meine Schlüssel hängen.
Die Weltkugel war die Idee von Papa, weil ich mich früher manchmal ausgesperrt habe und sogar einmal vor dem Haus bis spät am Abend warten musste. Dabei habe ich mich so schlimm erkältet, dass Papa auf die Idee mit der Weltkugel kam. Die durfte ich mir ganz allein im Laden an der Ecke mit den vielen Spielsachen aussuchen. Der Laden ist wunderschön. Jeden Tag auf dem Weg zur Schule laufe ich an ihm vorbei. Was da alles im Schaufenster liegt. All die ganzen Bücher, Autos, Spielkarten und Kuscheltiere hinter der Scheibe würden nicht mal in mein Zimmer passen. Mein Zimmer ist nicht so groß. Aber es ist ok. Einmal habe ich den Laden betreten dürfen. Gemeinsam mit Papa. Er sagte ganz laut zu mir, sodass auch die schwerhörige Dame hinter der Kasse es verstehen musste, dass ich das Schönste nehmen soll, was ich finde, denn so würde ich nie wieder meinen Schlüssel vergessen. Das hat funktioniert.
Jetzt muss ich Schluss machen. Mama ist aufgewacht. Mamas schlimmster Albtraum ist das Wachsein. Ich kann sie hören. Ich glaube, sie weint.
Nur eine Frage noch: Wann hast Du Deinen Geburtstag vergessen?
Dein Brieffreund