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Freitag 19. Oktober, 18.25 Uhr

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Unfallstelle Heinrich-Wieland-Straße, München

Es passierte in dem Moment, als Simpert Rader sich vom Fahrersitz des Dienstfahrzeugs erheben wollte. Wie eine Feuerwalze brannte sich der Schmerz durch sein Rückgrat und breitete sich in Sekundenbruchteilen über seinen Körper aus. Stöhnend ließ sich der Kriminalhauptkommissar wieder in den Sitz zurückfallen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht saß er so eine ganze Weile da. Selbst das Atmen fiel ihm in solchen Momenten schwer.

„Alles ok?“, fragte ein uniformierter Kollege der Verkehrspolizei, der auf das Stöhnen Raders aufmerksam geworden und an den schwarzen Volvo V40 herangetreten war. Rader machte eine wegwerfende Bewegung mit der linken Hand, vermied aber den Blickkontakt zu dem besorgten Kollegen. „Passt schon“, presste er zwischen den Zähnen hervor, „ist nur meine Bandscheibe. Ich brauch einen kleinen Moment.“ Der Uniformierte nickte, hielt noch einen Augenblick unschlüssig inne, dann entschwand er aus Raders Blickfeld.

Mehr als zwei Jahre lag sein Bandscheibenvorfall inzwischen zurück. Einer der schwereren Sorte, wie ihm sein Freund und Stiefvater, seines Zeichens Orthopäde, damals erklärt hatte. „Ein Fünfer, damit ist nicht zu spaßen“, hatte Artur beim Blick auf die Röntgenbilder gesagt und eine besorgte Miene aufgesetzt. Eine Zeit lang stand zur Diskussion, dass sich Rader unters Messer legen sollte, aber dann entschied sich sein Stiefvater doch für eine andere Therapie. Rader hatte nichts dagegen einzuwenden. Auch er war nicht scharf aufs Krankenhaus gewesen. Heute jedoch fragte er sich manchmal, ob eine OP nicht doch die bessere Lösung gewesen wäre. Alle paar Monate meldete sich seine Bandscheibe zurück, und dann litt Rader gute ein bis zwei Wochen unter Schmerzen sowie stark eingeschränkter Bewegungsfreiheit. Mit seinen inzwischen 48 Jahren wirkte er auf Außenstehende dann immer wie ein 88-Jähriger. Tja, und jetzt war’s also wieder mal soweit. Großartig. Wie immer im unpassendsten Moment.

Rader atmete ein paarmal tief durch, dann startete er den nächsten Anlauf. Mit der linken Hand hielt er sich am Dach des Volvos fest und zog sich gleichzeitig mit dieser ein wenig in die Höhe, um die Wirbelsäule zu entlasten. Langsam setzte er erst den linken Fuß nach draußen, dann drehte er im Zeitlupentempo den Oberkörper nach links und zog das andere Bein nach. Erneut durchfuhr ihn ein stechender Schmerz, als er sich vorsichtig in die Höhe wuchtete. „Ich muss unbedingt mehr Sport treiben“, ermahnte er sich, als er endlich aufrecht stand. Oder zumindest annähernd aufrecht. Artur hatte ihn von Anfang an gedrängt, sein Muskelkorsett rund um die Wirbelsäule durch intensives Training aufzubauen. Andernfalls würde sich seine Bandscheibe immer wieder bemerkbar machen, mahnte er damals. Wie recht er doch gehabt hatte.

Eingetaucht in das zuckende Blaulicht des Streifenwagens, der ein paar Meter weiter quer über die Fahrbahn geparkt war, watschelte Rader hinüber zu der weißen Plastikplane, unter der – wie er bereits wusste – die Leiche eines jungen Mannes lag. Zwei Uniformierte, von denen einer gerade etwas auf einem Klemmbrett notierte, standen neben dem abgedeckten Körper. Als Rader nur noch ein paar Meter entfernt war, blickten die Beamten auf und nickten ihm zu. Rader hob grüßend die rechte Hand. Zehn Meter weiter packten die Sanitäter ihre Sachen zusammen und verluden sie im Rettungswagen.

Raders Blick fiel auf einen leicht querstehenden VW Passat mit eingeschlagenen Vorderrädern und zerborstener Windschutzscheibe. Ein Mitarbeiter der Spurensicherung war gerade dabei, jede Menge Fotos des Unfallwagens zu schießen. Ein paar Meter hinter dem Passat waren kleine Tafeln mit Zahlen auf der Straße aufgestellt worden. Etwas abseits des Geschehens erblickte der Kriminalhauptkommissar zerbrochenes Glas, was von einem Blinker zu stammen schien.

Eine Handvoll Schaulustiger hatte sich hinter dem rot-weißen Absperrband versammelt. Einer hielt ein Smartphone in der Hand, ließ es aber schnell in seine Jackentasche gleiten, als Raders grimmiger Blick ihn traf. „Blöder Wichser“, brummte der Kriminalhauptkommissar. Er hasste diese Gaffer, die sich am Leid und Unglück anderer ergötzten, aus ganzem Herzen.

In diesem Moment entdeckte der Notarzt Rader inmitten der Menschenmenge und kam zu ihm herüber. „Ich hoffe, Sie meinen nicht mich“, sagte der Mediziner, der Raders Schimpftirade gerade noch so aufgeschnappt hatte. Anstelle einer Antwort deutete der Polizist nur auf die Schaulustigen. „Ist nicht mein bester Tag heute“, nuschelte Rader entschuldigend und bemühte sich um eine einigermaßen bequeme Standposition. „Ja, das sehe ich.“ Der Notarzt legte den Kopf leicht schief und musterte Raders Körperhaltung. „Die Bandscheibe?“, fragte er. „Der Kandidat hat 100 Punkte“, erwiderte Rader. „Soll ich Ihnen was spritzen?“ Der Arzt deutete über seine Schulter hinweg auf den Rettungswagen. Rader schüttelte den Kopf: „Danke, nein, ich habe das leider öfter. Erzählen Sie mir lieber was über unseren Freund hier.“ Er zeigte auf die weiße Plastikplane.

„Tja, da gibt’s nicht viel zu sagen.“ Der Notarzt zuckte mit den Schultern. „Erst ein Aufprall mit 40 bis 50 Stundenkilometern. Dann noch voll mit dem Schädel auf die Windschutzscheibe geknallt. Hat ihm nicht gutgetan. War schon tot, als wir ankamen. Da war nichts mehr zu machen.“ Der Arzt deutete auf die Plane: „Ist auch kein wirklich schöner Anblick.“ Rader murmelte etwas Unverständliches, bedankte sich und schlenderte rüber zu den beiden Uniformierten.

Der Beamte mit dem Klemmbrett war etwa Mitte Fünfzig und wirkte abgeklärt – ganz im Gegensatz zu seinem deutlich jüngeren Kollegen, der eine recht ungesunde Gesichtsfarbe hatte und offensichtlich jeden Blick in Richtung der abgedeckten Leiche vermied. Der Kriminalhauptkommissar stellte sich als diensthabender Mitarbeiter des Kriminaldauerdienstes vor und schüttelte seinen beiden Kollegen die Hand. „Aus der Schnellmeldung weiß ich, dass der Mann überfahren wurde, als er die Straße überqueren wollte“, eröffnete Rader das Gespräch. „Was habt ihr dem noch hinzuzufügen?“

Der ältere Polizist warf einen Blick auf seine Notizen, dann ließ er das Klemmbrett wieder sinken. Er blies kurz die Backen auf, dann nickte er mit dem Kinn in Richtung der weißen Plastikplane. „Also, vor einer guten Dreiviertelstunde trat der Mann plötzlich zwischen zwei parkenden Autos auf die Fahrbahn. Wir haben einen Zeugen, einen älteren Herrn, der mit seinem Hund 20 Meter weiter stadteinwärts die Straße überqueren wollte und darauf wartete, dass die Autos vorbeifuhren. Er hat gesehen, dass das Unfallopfer weder nach links noch nach rechts geschaut hat, sondern nur auf sein Smartphone.“ Wie aufs Stichwort hielt der jüngere Uniformierte einen durchsichtigen Beutel in die Höhe, in dem Rader die Überreste eines Mobiltelefons erkennen konnte.

Das Klemmbrett wedelte in Richtung des Passats. Der Beamte der Spurensicherung hatte gerade die Fahrertür geöffnet und blickte sich im Innenraum um. „Der Fahrer, ein gewisser Robert Schuster, hatte wohl kaum eine Chance zu bremsen. Das Ganze hat ihn voll mitgenommen. Der Typ ist total durch den Wind. Sitzt im Sanka und weint.“ Der Beamte zeigte auf den Rettungswagen. „Der Notarzt hat ihm eine Beruhigungsspritze gegeben, soviel ich weiß.“ Rader griff sich mit der rechten Hand an den schmerzenden Rücken. „Also unschuldig?“, fragte er. Beide Uniformierten nickten. „Sieht ganz danach aus“, erklärte der ältere Beamte. „Schuster war auf dem Weg zum Getränkemarkt. Seine Tochter hat morgen Geburtstag.“

Rader rieb sich die Augen, dann sah er auf seine uralte Casio-Armbanduhr. Eigentlich wollte er schon lange zu Hause sein, sich beim Italiener nebenan eine Pizza holen und den Tag mit einer guten DVD ausklingen lassen. Zehn Minuten vor Feierabend hatte das Diensttelefon geläutet. Bis dahin war es eine ruhige Woche gewesen, und Simpert Raders Welt schien in Ordnung – seine Bandscheibe eingeschlossen. Nein, das war wahrlich nicht sein Tag heute. Aber das würde der Mann unter der Plane wahrscheinlich auch über seinen Tag behaupten, wenn er noch sprechen könnte.

„Und wer ist das Opfer?“, fragte Rader. Der ältere Beamte hob bedauernd die Schultern: „Wissen wir nicht. Er trug keine Papiere bei sich. In der Innentasche seiner Lederjacke hatte er einen 20-Euro-Schein, ein paar Münzen und einen Bund mit drei Schlüsseln. Aber“ – der Polizist hob zweimal kurz hintereinander die Augenbrauen – „wir wissen möglicherweise, wo er wohnt. Am Schlüsselbund ist ein Anhänger mit einer Adresse drauf.“ Wie auf Kommando hielt der jüngere Beamte einen weiteren Plastikbeutel in die Höhe, in welchem etwas Bargeld und ein Schlüsselbund zu sehen waren. Am Bund war deutlich ein roter Anhänger zu erkennen, in den die Zahlen-Buchstaben-Kombination „GHR 284/4“ eingeprägt war.

„GHR für Gerhard-Hauptmann-Ring“, meinte der junge Kollege, dessen Gesicht inzwischen etwas an Farbe gewonnen hatte. „Sind Sie Hellseher?“, fragte Rader. „Nein, das war geraten“, gab der Beamte zu, „allerdings passt die Buchstabenkombination. Außerdem ist die Straße nicht allzu weit entfernt, in Neuperlach. An der Kreuzung da hinten fährt der Bus ab, der hält am Gerhard-Hauptmann-Ring dann quasi vor der Haustür. Wir fahren da mal hin, sobald wir hier fertig sind.“ Wie aufs Stichwort hoben zwei weitere Uniformierte, die die Unfallstelle weiträumig absicherten, das rot-weiße Flatterband in die Höhe, so dass der Leichenwagen des städtischen Bestattungsdienstes hindurch fahren konnte.

Simpert Rader überlegte kurz, sah erneut auf seine Uhr, dann zuckte er mit den Schultern. Was soll’s, der Feierabend war ohnehin schon im Arsch, und zu Hause wartete sowieso niemand auf ihn. Familienangehörige über den Tod eines lieben Menschen zu informieren, zählte zwar nicht zu seinen bevorzugten Beschäftigungen, aber gehörte nun mal zum Job dazu.

„Geben Sie her“, sagte Rader zu dem jungen Beamten und zeigte auf den Bund mit den drei Schlüsseln in dem durch-sichtigen Beutel. „Ich fahr da noch vorbei. Hab am Sonntag sowieso Bereitschaft, da kann ich dann den Papierkram in Ruhe machen.“ Mit dankbarem Gesichtsausdruck fischte der Polizist die Schlüssel aus dem Beutel und überreichte sie dem zivilen Kollegen. Rader gab ihm im Gegenzug seine Visitenkarte des KDD, damit die Beamten in ihrem Bericht vermerken konnten, an wen sie die Schlüssel ausgehändigt hatten. Er registrierte, dass es zu nieseln begann.

Rader ging ein paar Schritte weiter zu den beiden Angestellten des Bestattungsdienstes hinüber und reichte ihnen die Hand. Routiniert entfernten die Männer die weiße Plastik-plane. Meine Güte, der Notarzt hatte nicht übertrieben, dachte Rader bei sich. Die Leiche sah tatsächlich ziemlich übel aus. Das Gesicht des Toten war, wohl durch den heftigen und gleich mehrfachen Aufprall auf den Passat, stark deformiert und zudem über und über mit Blut verschmiert. Der rechte Arm des Mannes stand merkwürdig verdreht ab, und das linke Bein wirkte auf Rader irgendwie so, als gehöre es gar nicht richtig zum Rest des Körpers.

Der Kriminalhauptkommissar registrierte zudem, dass der Tote eindeutig nicht europäischer Abstammung war. Das dichte schwarze Haar, das mit Schmutz und getrocknetem Blut durchsetzt war, sowie die kaffeebraune Hautfarbe des Mannes und seinen gepflegten schwarzen Bart ordnete Simpert Rader dem arabischen Raum zu. „Na großartig, warum zum Teufel konnte ich mein blödes Maul nicht halten“, murmelte Rader vor sich hin, während er sich vor seinem geistigen Auge bereits im Wohnzimmer einer arabischen Großfamilie sah und ihnen die Nachricht vom Tod eines lieben Cousins übermittelte.

Vor ein paar Jahren hatte er so etwas schon einmal gemacht. Die 15 anwesenden Familienmitglieder, die kaum der deutschen Sprache mächtig gewesen waren, hatten ihn fast tätlich angegriffen, weil sie seine Mitteilung für einen schlechten Scherz hielten. Noch in derselben Nacht wollten sich dann einige Familienmitglieder auch noch gewaltsam Zutritt zur Rechtsmedizin verschaffen, um den Leichnam ihres verstorbenen Onkels abzuholen und in die Heimat zu bringen.

Insgeheim hoffte Rader, dass „GHR“ vielleicht doch nicht für den Gerhard-Hauptmann-Ring stand und er sich so in aller Ruhe am Wochenende um die Angelegenheit kümmern konnte. Als er gerade in seinen Dienst-Volvo einsteigen wollte, machte sich erneut seine Bandscheibe schmerzhaft bemerkbar. Vorsichtig ließ sich Rader auf den Fahrersitz hinab gleiten, legte den Sicherheitsgurt an und drehte den Zündschlüssel herum.

Kurz darauf lenkte er seinen Wagen in Richtung des angrenzenden Stadtteils Neuperlach, während die Mitarbeiter des Bestattungsdienstes die Leiche des unbekannten Toten in einen grauen Kunststoffsarg hoben.

Störfahrt

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