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Samstag 20. Oktober, 13.30 Uhr

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Vorstandsbüro der Verkehrsbetriebe München AG

„Kaffee, „Kaffee, Tee, Wasser, Saft?“ Dr. Wolfgang Buchenwald schien äußerlich die Ruhe selbst zu sein. Nur wer den Vorstandsvorsitzenden der Verkehrsbetriebe München AG besser kannte, registrierte die typischen Anzeichen dafür, dass der 52-Jährige mehr als angespannt war. Das leicht zuckende rechte Augenlid. Oder das unauffällige Aneinanderreiben von Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand.

Die anderen fünf Männer, die etwas unschlüssig wirkend in Buchenwalds Büro im obersten Stockwerk der VBM-Zentrale im Münchner Stadtteil Sendling herumstanden, schüttelten die Köpfe. Der Vorstandschef legte einen Teebeutel in eine Tasse und goss heißes Wasser aus einer silbernen Thermoskanne darüber. Dann forderte er seine Besucher mit einer einladenden Handbewegung dazu auf, rund um den Besprechungstisch Platz zu nehmen.

Dr. Matthias Bofinger, operativer Geschäftsführer der VBM AG, hatte sich mit seinem Notebook ins unternehmensinterne Netzwerk eingeloggt, um sich während des bevorstehenden Gesprächs Notizen zu machen. Rechts von ihm hatte Markus Petzold Platz genommen, seines Zeichens Leiter Unternehmenskommunikation. Er sprach leise auf Johannes Haas von der Konzernsicherheit ein, der fortwährend nickte. Die Unterhaltung verstummte jedoch sofort, als Vorstandsvorsitzender Wolfgang Buchenwald die Besprechung eröffnete und zunächst den beiden Polizeibeamten seine Mitarbeiter vorstellte. Polizeidirektor Roland Schnittka und Leitender Polizeioberkommissar Bernd Heigelmann vom Landeskriminalamt erwiderten die Begrüßung freundlich, aber mit ernsten Mienen.

„Meine Herren“, sagte Buchenwald, „zunächst danke ich Ihnen dafür, dass Sie alle so spontan am Wochenende hierhergekommen sind. Aber ich denke, wir alle sind uns der Bedeutung dieser Zusammenkunft bewusst.“ Zustimmendes Kopfnicken. „Dann lassen Sie uns keine Zeit verschwenden und sofort zur Sache kommen. Herr Schnittka hat mich im Vorfeld bereits telefonisch über die wichtigsten Fakten informiert. Offenbar“ – Buchenwald blickte kurz ernst in die Runde – „hat die Polizei Grund zur Annahme, dass ein terroristischer Anschlag auf unser U-Bahn-System geplant ist.“

Polizeidirektor Schnittka berichtete über die Durchsuchung in Neuperlach und fasste die gewonnenen Erkenntnisse zusammen. „Wir haben heute Vormittag noch mal ein paar Fallanalytiker darüber schauen lassen, aber auch diese kommen zum selben Ergebnis wie wir schon in der vergangenen Nacht“, schloss Schnittka. „Eine aus mindestens zwei Personen bestehende Gruppe bereitet einen Anschlag auf die Münchner U-Bahn vor. Aber wir können zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder sagen, wann oder wo die Tat ausgeführt werden soll, noch auf welche Weise.“ Der Polizeidirektor breitete in einer Art entschuldigender Geste kurz die Arme aus, dann griff er zu einer der kleinen 0,2-Liter-Flaschen, die irgendwie zur Grundausstattung eines jeden Konferenzraums zu gehören schienen, und schenkte sich ein Glas Orangensaft ein.

Dr. Matthias Bofinger, als operativer Geschäftsführer der VBM Herr über sämtliche öffentliche Verkehrsmittel in der bayerischen Landeshauptstadt, lehnte sich langsam in seinem Stuhl zurück. „Nun ja“, meinte er mit gedehnter Stimme, „ich gebe Ihnen, was die Einschätzung über die Gefahr eines Anschlags angeht, grundsätzlich recht. Allerdings frage ich mich, was konkret wir jetzt mit dieser Information anfangen sollen.“ Bofinger erinnerte daran, dass man außer der Tatsache, dass verschiedene Dokumente über die U-Bahn gefunden wurden, eigentlich nichts in der Hand habe, um nun „großes Kino zu spielen“, wie er es formulierte. „Verstehen Sie mich nicht falsch“, fügte er hinzu, „ich bin genauso alarmiert wie Sie alle hier in diesem Raum. Aber“ – er drehte die Handflächen nach oben – „wo sollen wir ansetzen?“

Pressesprecher Petzold sprang ihm bei: „Wir befördern allein mit der U-Bahn rund 420 Millionen Menschen im Jahr, betreiben im Untergrund ein 95 Kilometer langes Streckennetz, auf dem acht Linien verkehren. Hinzu kommen Betriebsanlagen, ober- und unterirdische Abstellanlagen, Bürogebäude, verschiedene weitere infrastrukturelle Einrichtungen… Wie sollen wir das alles nun angesichts der äußerst spärlichen Informationen besonders schützen oder auch nur überwachen?“

„Zumal“, ergänzte Dr. Bofinger, „ja auch der ungefähre Zeitpunkt vollkommen unbekannt ist.“ Auf seinem Laptop rief er eine Excel-Datei auf, dann drehte er das Gerät so, dass alle in der Runde auf den Bildschirm sehen konnten. „Das hier“, deutete der VBM-Geschäftsführer auf den tragbaren Computer, „ist eine Liste aller Großveranstaltungen in den nächsten sechs Monaten. Und das sind nur solche, zu denen wir Sonderzüge im Einsatz haben. Schon morgen beispielsweise haben wir ein Fußballspiel in der Allianz-Arena und zeitgleich ein Konzert in der Olympiahalle, wo wir jeweils den An- und Abtransport der Besuchermassen stemmen müssen. In Kürze beginnt das Tollwood-Festival, wodurch der Bahnhof Theresienwiese täglich überfüllt sein wird. Nicht so schlimm natürlich wie während der Wiesn, aber doch deutlich.“

„Das ist uns natürlich bewusst“, ging der Mitarbeiter des Landeskriminalamts auf Dr. Matthias Bofingers Ausführungen ein, „aber unsere erste Pflicht ist es zunächst, Sie über die Erkenntnisse des Einsatzes in der vergangenen Nacht zu informieren. Dass wir nicht ab sofort und für unbestimmte Zeit täglich hunderte Polizeibeamte in der U-Bahn patrouillieren lassen können, dürfte klar sein.“

Der Vorstandsvorsitzende der Verkehrsbetriebe München AG folgte Heigelmanns Worten aufmerksam, musste ihm aber natürlich recht geben. Die Situation war im Augenblick schlichtweg noch zu abstrakt – von einer „abstrakten Gefahr“ sprach man, wenn eine Gefährdung zwar grundsätzlich gegeben war, man aber keine konkreten Details kannte, wie Buchenwald wusste.

„Was genau unternimmt denn die Polizei jetzt“, wollte der Vorstandschef wissen. Polizeidirektor Schnittka hatte mit dieser Frage gerechnet: „Zur Stunde wird das Apartment ein zweites Mal quadratzentimeterweise untersucht. Außerdem sind unsere eigenen sowie zur Unterstützung hinzu geholte externe Experten dabei, dem gefundenen Computer seine Geheimnisse zu entlocken. Hiervon erhoffen wir uns die wichtigsten Informationen, wenngleich“, dämpfte Schnittka die Erwartungen sogleich, „die Verschlüsselung des Systems im Augenblick noch nahezu unüberwindbar zu sein scheint. Aber wir bleiben am Ball.“

Parallel hierzu versuche die Polizei, mehr über die letzten Stunden des tödlich verunglückten Mannes herauszufinden, fügte Bernd Heigelmann an. „In unmittelbarer Nähe des Unfallorts an der Heinrich-Wieland-Straße befinden sich neben einem Getränkemarkt fast nur Wohngebäude, Ein- und Mehrfamilienhäuser. Was hat der Mann dort gewollt? Vielleicht hat er irgendjemand besucht oder besitzt selbst dort irgendwo eine Wohnung“, meinte der LKA-Beamte. Seit 12.00 Uhr mittags sei deshalb eine Hundertschaft der Bayerischen Bereitschaftspolizei aus Dachau dabei, an sämt-lichen Türen zu läuten und ein Foto des Verunfallten herum zu zeigen. „Wir haben die Leiche in der Rechtsmedizin natürlich ein bisschen aufgehübscht, bevor wir sie fotografiert haben.“ Heigelmann zog ein Farbfoto aus der Innentasche seines Sportsakkos hervor und legte es in die Mitte des Konferenztisches. Interessiert blickten alle anderen Anwesenden auf das Bild. Der Tote hatte die Augen geschlossen, und sein Gesichtsausdruck wirkte beinahe friedlich, fand Schnittka. Das Foto war jedenfalls durchaus an den Haustüren vorzeigbar.

„Wir verstärken außerdem ab sofort die polizeiliche Präsenz im U-Bahn-Bereich“, ergänzte Schnittka. Vorrangig Zivilstreifen würden deutlich mehr im Einsatz sein als bislang.

Der Polizeidirektor erwähnte noch, dass LKA und Landespolizei aktuell eine rund 40-köpfige Sonderkommission zusammenstellten, die voraussichtlich am späten Nachmittag die Arbeit aufnehmen würde. Spezielle Terrorfahnder des Bundeskriminalamts seien ebenfalls auf dem Weg nach München, um die Ermittlungen zu unterstützen. „Von unserer Seite aus wird alles getan, um schnellstmöglich konkretere Informationen über das geplante Attentat zu bekommen“, versicherte Bernd Heigelmann. „Aber wir brauchen dazu auch die Unterstützung der Verkehrsbetriebe.“

„Nun, außer unseren U-Bahn-Sicherheitsdienst zu verstärken und noch aufmerksamer als sonst zu sein, können wir nicht viel tun im Moment“, gab der Leiter der Konzernsicherheit zu bedenken. „Das Betriebsmanagement und die Leitstelle werde ich selbstverständlich im Anschluss an unser Treffen informieren. Aber sonst sollten wir mit den bisherigen Erkenntnissen nicht unbedingt hausieren gehen“, warnte Johannes Haas. Vorstandsvorsitzender Buchenwald gab ihm Recht: „Wir alle kennen das Spiel mit der stillen Post. Einer weiß was, erzählt es weiter, der nächste weiß dann schon bisschen mehr, erzählt es weiter – und dann steht’s ganz schnell in der Presse oder eine Panik bricht aus.“ Egal ob Unruhe in der Bevölkerung oder beim Fahrpersonal, beides könne man definitiv nicht gebrauchen.

Heigelmann hob beide Hände. „Natürlich haben Sie recht. Deshalb geht von unserer Seite aus derzeit auch nichts an die Öffentlichkeit.“ Er bat die Vertreter der VBM AG jedoch, sich Gedanken zu machen über mögliche potenzielle Anschlagsziele und wie man diese sichern könne. „Wir helfen natürlich dabei“, bekräftigte Polizeidirektor Schnittka.

Es wurde vereinbart, dass die Verkehrsbetriebe München AG zwei Mitarbeiter aus der Führungsebene des Betriebsmanagements U-Bahn benennt, welche ab sofort rund um die Uhr für die Polizei erreichbar seien und die eventuell notwendig werdenden Maßnahmen intern koordinieren würden. Zudem werde man sich gegenseitig über alle neuen Informationen auf dem Laufenden halten.

Vor dem Gebäude der VBM-Zentrale stieg Bernd Heigelmann in den Dienst-BMW des Landeskriminalamts, mit dem sie eine Stunde zuvor gekommen waren. Er bemerkte Schnittkas Zögern. „Wollen Sie nicht mitkommen ins Präsidium?“, fragte er, doch Roland Schnittka lehnte dankend ab. „Ich geh kurz auf einen Sprung nach Hause und informiere meine Familie, dass das gemeinsame Wochenende gestrichen ist. Ein paar Minuten Bewegung werden mir gut tun, um die Gedanken zu ordnen. Wir treffen uns dann in einer knappen Stunde wieder in der Ettstraße.“ Heigelmann nickte und stieg ins Auto. Er startete den Sechs-Zylinder-Motor, setzte den Blinker und fuhr in Richtung Innenstadt davon.

Der Polizeidirektor sah dem BMW noch ein paar Sekunden lang nach. Dann wandte er sich ab und machte sich zu Fuß auf den Weg zu seiner nur wenige hundert Meter entfernt gelegenen Eigentumswohnung.

Als er dabei am U-Bahnhof „Westpark“ vorbeikam, hielt er inne, steckte sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Lungenzug und murmelte: „Was zum Teufel habt ihr Bastarde bloß ausgeheckt…“

Störfahrt

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