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Ich bekam es zu meinem elften Geburtstag. Ich hätte weinen können, so schön fand ich mein erstes Rennrad. Es war schwarz-weiß lackiert – dieselben Farben wie die Rennmaschinen, mit denen das niederländische Profiteam PDM seit Jahren fuhr. Concorde stand auf dem Unterrohr. Die Rahmengröße war so gewählt, dass das Rad mit mir mitwachsen würde: Der Sattel war so tief wie möglich eingestellt, vorerst verschwand die Sattelstütze komplett im Sitzrohr. Es hatte zwölf Gänge: Um zu schalten, musste man Hebel am Unterrohr hin- und herbewegen. Es hatte Pedale mit Lederriemen, die man strammziehen konnte. Ich bekam ein Paar Radschuhe dazu. Schwarz, mit Plastiksohlen.
Die allerersten Meter auf meinem neuen Rennrad fuhr ich vom Wohnzimmer in die Speisekammer. Ganz vorsichtig vorbei am Esstisch und am Fernseher, im wackligen Bogen um eine Vase mit Blumen herum. Mein Vater lachte, meine Mutter schaute ein wenig besorgt.
Mein Vater hatte es bei Hans Langerijs gekauft, einem Fahrradgeschäft in der Nachbarstadt Schagen. Mit einem eigenen Rennrad würde ich auch in den Sommermonaten mit dem Eisschnelllaufverein mittrainieren können, mit dem ich im Winter meine Runden auf dem Eis drehte. Auf Schlittschuhen war ich nicht sonderlich gut: Mir mangelte es an der richtigen Technik. Und zugegebenermaßen auch an der nötigen Kraft. Ich war klein und schmächtig. Meine Beine waren so dünn, dass sie aussahen wie Drähte, die aus meiner Hose herausragten. Auf der Eisbahn rauschten die größeren Jungs an mir vorbei, als würde ich gar nicht existieren. Es war eher Harken, was ich da tat – mühselig schleppte ich mich übers Eis. Aber Aufhören war auch keine Option. Daran habe ich nicht einen Gedanken verschwendet. Alle Jungs aus Nordholland gehen im Winter zum Eislaufen. Ich auch.
Radfahren klappte besser als Eislaufen. Ich unternahm Touren mit meinem Vater. Dreißig, fünfunddreißig Kilometer, in Richtung der Dünen, am Meer entlang und über den Seedeich bei Camperduin. Meistens mit Gegenwind auf dem Hinweg und mit Rückenwind zurück. Freitagabends drehten wir eine Trainingsrunde mit dem Schlittschuhverein; mein Vater fuhr auch mit. Anderthalb Stunden auf dem Rad, mehr nicht. Es waren alles Jungs und Mädchen aus der Gegend.
Der Radsport zog mich geradezu magisch an, wie ein mächtiger Magnet. Der allgegenwärtige Geruch von Massageöl, wenn ich mir mit meinem Vater ein Kriterium anschaute, das Glänzen der Räder, wenn das Peloton vorbeiflog… Es war ganz anders als Eislaufen oder Fußball. Es war rauer, heroischer. Atemlos sah ich zu, wie erwachsene Männer sich völlig verausgabten und verbissen dem Schmerz trotzten, während ihnen Rotzfäden vom Kinn hingen.
Im Vergleich zu Radrennen waren alle anderen Sportarten nur ein Spiel.
Mir gefielen gerade auch die Duelle Mann gegen Mann, die ich im Fernsehen sah. Gut erinnere ich mich an die Tour de France 1996, in der Miguel Induráin unterging. Ich war für ihn, ich wollte so sehr, dass er gewann. Ich war sicher, dass er Bjarne Riis schlagen würde. Aber es kam anders. Induráin brach am Port de Larrau ein – ausgerechnet bei einer Etappe nach Pamplona, seinem Heimatort. Kopfschüttelnd saß ich vor dem Fernseher. Ich verstand es nicht. Es war, als ob er plötzlich ein anderer Fahrer geworden wäre. Er war zu groß für sein Fahrrad, sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt, die ich nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Er war von einem Tag auf den anderen alt geworden. Ich erinnere mich, dass er abends im Hotel um einen Kommentar gebeten wurde. Überall Menschen, überall Kameras. Aus seinen Worten sprachen Zweifel, und man sah die Verzweiflung in seinen Augen. Er wusste nicht mehr weiter. Er sagte: »Ich weiß nicht, wie meine Zukunft aussieht. Aber besser als früher werde ich bestimmt nie mehr werden.« Es klang wie Abschiednehmen.
Ich fing an, selbst Rennen zu fahren. Wilde, lose organisierte Rennen im Norden von Nordholland, meistens im Rahmen der örtlichen Kirmes. In Dörfern, die Wervershoof hießen oder Hippolytushoef. Gegen Altersgenossen aus der Region fuhr ich so schnell wie möglich im Kreis, mit hochrotem Kopf. Oft endete es im Sprint. Darin war ich nicht sehr gut. Ich verlor auch gegen Mädchen. Die waren in diesem Alter viel stärker. Das ärgerte mich maßlos.
Mein Vater kaufte mir Klickpedale für mein Rennrad. Violette, von Look. Ich übte erst bei uns in der Straße, bevor ich damit zum Training aufbrach. Mein Vater warnte mich noch: Fahr lieber aufmerksam und pass auf, dass du nicht umfällst, wenn du an einer Kreuzung anhalten musst. Ich wischte seine Warnungen achtlos beiseite. Aber an der erstbesten Kreuzung lag ich auf dem Rücken, weil ich mit den Schuhen nicht aus den Pedalen gekommen war. Ein Mann eilte herbei und fragte mich, ob ich in Ordnung sei. Ich stammelte: »Ja, ja, geht schon.« Es tat mir vor allem leid um meine Ausrüstung. In meiner Radhose war ein Loch. »Bekomme ich eine neue?«, fragte ich meine Mutter, als ich nach Hause kam. Meine Mutter schüttelte den Kopf und sagte nur: »Nein. Das Sitzpolster hat nichts abbekommen.« Ich fuhr ständig mehr und mehr. Aus zwei Mal in der Woche wurden drei Mal, aus drei bald vier Mal. Gemeinsam mit meinem Vater unternahm ich immer längere und weitere Touren.
Im Sommer 1998 waren wir im Urlaub auf einem Campingplatz in Frankreich. Vormittags fuhren wir selbst Rad, am Nachmittag sahen wir uns auf einem kleinen Fernseher im Essenssaal die Tour de France an. Mein Vater mit einem Bier vor sich, ich mit einem Glas Limonade. Der niederländische Radsport war in jenen Jahren keine große Nummer, aber bei dieser Tour fuhr Michael Boogerd fantastisch. Er trug das rotweiß-blaue Trikot des Niederländischen Meisters und kam mit den besten Fahrern der Welt die Berge hoch. Ich war vierzehn und fand es großartig, was er tat. Ich brüllte den Fernseher an, um ihn anzufeuern, und hoffte mit allem, was ich hatte, dass er die Gruppe der Klassementfahrer nicht würde ziehen lassen müssen. Nachts, wenn ich im Zelt auf meiner Luftmatratze lag, sah ich in meiner Vorstellung, wie ich eines Tages selbst die Tour de France fuhr. Wie ich gewann. Wie ich das Gelbe Trikot holte. Wie ich an der Spitze das Tempo verschärfte, mit einer Gruppe von Konkurrenten am Hinterrad, die einer nach dem anderen abreißen lassen mussten.
Als wir aus dem Urlaub wieder nach Hause kamen, entdeckte ich ein Poster von Michael Boogerd in einem Magazin. Ich nahm es heraus und hängte es direkt über mein Bett.
Ich wusste es sicher. Ich wollte auch Radrennfahrer werden.