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Wir standen unter der Dusche. Ich schaute mich um, betrachtete die Jungs, gegen die ich kurz zuvor eines meiner ersten offiziellen Rennen gefahren war. Sie brüllten herum, sie rissen Witze und sie erzählten Geschichten vom Radsport. Einige hatten auf dem Rad nicht viel drauf, zu anderen schaute ich auf. Das waren oft die größeren Jungs, die bereits einen Wachstumsschub gemacht hatten. Ein paar von ihnen hatten schon Haare am Sack. Ich schaute an mir herunter. Kein Haar zu sehen. Nicht einmal Flaum.
Ich erinnere mich, dass ich in den ersten Rennen, die ich bestritt, nichts reißen konnte. Viele dieser Rennen endeten in einem Sprint und dabei wurde ich, da ich nur 45 Kilo wog, regelmäßig verblasen. In jener Zeit gewann Wim Stroetinga praktisch jedes Rennen – er konnte so schnell sprinten, dass es aussah, als würde man ihn mit einem Revolver abfeuern. Auf der Bahn war Niki Terpstra schon ziemlich gut. Er war damals noch ein wenig mollig, aber sobald der Startschuss fiel, konnte er irrsinnig schnell ums Oval jagen.
Jedes Wochenende fuhr ich einen anderen Wettkampf. Wir reisten im ganzen Land herum: Papa, Mama, Floor und ich. Es war jedes Mal eine Art Umzug. Die Rückbank lag voll mit Radklamotten und Milchbrötchen, und im Kofferraum stand eine Kühlbox mit Trinkjoghurt und Cola neben meinem neuen Rennrad – es war ein blaues Simon, eine Fahrradmarke aus Zaandam. Um alles im Auto unterzubekommen, kaufte mein Vater einen VW-Bus. Das war auch notwendig, erst recht, als Floor beschloss, ebenfalls Radrennen zu fahren. Sehr lange blieb sie nicht bei der Stange, aber sie besaß Talent im Überfluss. Bei den niederländischen Jugendmeisterschaften im Zeitfahren ist sie noch Zweite geworden, vor Marianne Vos. Es muss für sie manchmal schwer gewesen sein, dass sich oft alles um mich drehte, aber sie hat sich nie darüber beschwert. Zumindest mir gegenüber nicht.
Langsam, aber sicher wurde ich besser. In der Tour de Achterveld, einer Art einwöchigem Etappenrennen für Jungen und Mädchen, wurde ich Zweiter. Meine Eltern konnten nicht jeden Tag dabei sein, um zuzuschauen. Also schlief ich bei einer Gastfamilie. Es war das erste Mal, dass ich allein von zu Hause weg war. Ich war so nervös, dass ich nachts kaum schlafen konnte. Nicht, weil ich allein war, sondern eher, weil das Ganze nun richtigem Radsport ähnelte, komplett mit Zeitfahretappen, Podiummädchen, Rennjury und Absperrgittern, hinter denen die Zuschauer standen.
Ich pflügte durch die Jugendkategorien, jedes Jahr mit noch ein wenig mehr Ehrgeiz und noch größeren Träumen. Meine Eltern ermutigten mich zwar, zwangen mich aber nie zu etwas. Mein Vater war durchaus fanatisch bei der Sache, aber er stand nie schreiend am Straßenrand und er war auch nicht enttäuscht, wenn ich mal die Spitzengruppe verpasste. Am wichtigsten war für ihn, dass ich Einsatz zeigte. In meinen Augen war das nur logisch: Ich gab sowieso immer mein Bestes. Damals zumindest. Für meine Mutter spielte es ohnehin keine große Rolle, ob ich Erster, Zweiter oder Dreihundertsiebenundvierzigster geworden war: Wenn es nach ihr ging, hätte ich meine Zeit auch mit Tennis verbringen können oder den ganzen Tag mit meinen Freunden auf dem Spielplatz herumhängen.
Ein Mal habe ich es erlebt, dass mein Vater nach einem Rennen wütend war. Das war nach dem Omloop van de Maasvallei für »Nieuwelingen«, wie die U17-Kategorie in den Niederlanden heißt. Das Rennen fand in Süd-Limburg statt, dreihundert Kilometer von Dirkshorn entfernt. Mein Vater und ich waren schon am Tag vorher angereist. Wir übernachteten in einer Pension in Elsloo. Ich dachte, es wäre ein Rennen, das mir liegen müsste, mit all den südlimburgischen Hügeln – und sei es nur, weil ich insgeheim hoffte, ein guter Kletterer zu sein. Aber am Fuße des ersten Anstiegs war ich bereits abgehängt. Die Straßen waren ein bisschen nass, und kurz nach dem Start ging es auf einer Kopfsteinpflaster-Abfahrt den Maasberg hinab. Ich hatte Angst. Mit Schiss in der Buchse, die Hände fest in die Bremsen gekrallt, eierte ich nach unten. Schnell fuhr mir das Peloton davon. Wir hatten noch nicht mal acht Kilometer zurückgelegt. Ich habe sie an diesem Tag nicht mehr wiedergesehen. Ich fuhr zurück zum Start, mutterseelenallein. Da stand mein Vater und war gerade in ein Gespräch mit anderen Eltern vertieft. Er fluchte leise, als er mich kommen sah. »So ein Sch…dreck« – etwas in der Art. Die Rückfahrt nach Dirkshorn dauerte ein Jahrhundert. Fast die ganze Zeit saßen wir schweigend nebeneinander, mein Vater und ich. Ich war enttäuscht und beschämt zugleich. Mein Vater verstand die Welt nicht mehr. Dass ich nicht mit den Besten mithalten konnte: So was konnte immer passieren. Aber dass ich bereits geschlagen war, noch ehe das Rennen richtig begonnen hatte, fand er unbegreiflich. Als wir irgendwo in der Nähe von Utrecht waren, sagte er: »Tja, Junge, wenn man auch bergab an den Bremsen reißt…« Dann gab er mir einen Klaps auf den Hinterkopf und murmelte, dass es im nächsten Rennen bestimmt wieder besser laufen würde.
Am Ende meiner ersten Saison in der U17 lag eines Tages ein Brief für mich auf der Fußmatte. Auf dem Umschlag prangte das Logo von Rabobank, dem großen niederländischen Radrennstall. Es war eine Einladung zur »Rabo Ardennen-Prüfung« – einem Mini-Trainingslager, in dem sie allerlei junge Burschen testeten. Der Plan dahinter war, die allerbesten jungen Rennfahrer des Landes schon früh an das Team zu binden und dann praktisch mit einer Mehrstufenrakete ganz an die Spitze zu katapultieren: über das Junioren-Team (unter 18 Jahren) und das Nachwuchsteam (unter 23) bis zum Profi-Team. Ich war im siebten Himmel, so sehr freute ich mich über die Einladung von Rabobank. Auf einer rosa Wolke schwebend brach ich ein paar Wochen später zum Hotel in Spa auf: Mein Vater brachte mich zum Treffpunkt in De Meern, dort bestieg ich einen Reisebus, der noch andere Haltestellen ansteuerte und uns schließlich in die Ardennen brachte. Es waren eine Menge andere gute Fahrer meines Alters dabei. Marc de Maar, Reinier Honig, Jos Harms. Der frühere Straßenweltmeister Jan Raas, Teammanager von Rabobank, hieß uns höchstpersönlich willkommen. Unsere Räder wurden mit Rabobank-Trinkflaschen bestückt, es gab Betreuer, die alle möglichen Dinge für uns regelten, und wir trainierten unter Leitung von Ex-Profi Adri van der Poel. Es war fantastisch. Für mich war Rabobank das Nonplusultra. Das Allergrößte.