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Plaine des Joncs

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Die Ebene der Binsen

Diese Angelegenheit kann in drei Monaten geregelt werden oder in dreißig Jahren. Wenn ihr uns zum Krieg zwingt und ihr tötet zehn meiner Männer und ich töte einen von euch ... zu diesem Preis bleibe ich immer noch der Gewinner. Ho Chi Minh, September 1946.

Cochinchina, Kambodscha. 07. Juni, 1949. Es gab mehr als ein Dutzend Anzeichen dafür, dass das auf einem aufgeschütteten Hügel gelegene Dorf bewohnt war. Aus jeder der mit Stroh bedeckten Canhas (Bauernhütten), stieg Qualm empor. Schweine räkelten sich in den Schlammkuhlen, ein Hund kläffte und eine Obstplantage wartete nur darauf, dass man sich um sie kümmerte. Es war ein idyllischer Ort, in dem es nach Reis, Kaffee, Bohnen und gegarten Süßkartoffeln roch.

Und nach dem Tod.

»Eine Falle. Die verdammten Schweine planen einen Hinterhalt.«

Sergent Bouger rief sich den Auftrag in Erinnerung, den er aus dem Mund von Leutnant Caillaud persönlich erhalten hatte. Er war einfach, eine Interpretation kaum denkbar: Aufklären, aufstöbern, vernichten! Karlheinz Montag suchte vergeblich nach Anzeichen der Vietminh, doch alles war erstarrt. Alles war ruhig. Der sergent, der hinter Montag kniete und der angestrengt durch das Fernglas starrte, nickte.

»Die Einwohner verkrümeln sich, wenn Vietminh in der Nähe sind. Entweder das oder man zwingt sie, sich normal zu verhalten, als ob nichts wäre. Doch man sieht es ihnen an. Die Augen. Es sind die, gehetzter Tiere.«

Sergent Bouger wusste, von was er sprach. Er war ein alter Hase, dies hier bereits sein zweiter Aufenthalt in Indochina. Einen wie ihn konnte man nicht so einfach hinters Licht führen. Mit leiser Stimme gab er seine Befehle an die Gruppe. Er hatte beschlossen, zwei Scharfschützen und das MG unter der Obhut Montags zu lassen. Sie sollten den Angriff decken. Er legte Montag seine Hand auf die Schulter.

»Siehst du die Blende aus Bambus? Links von der ersten Hütte?«

Montag sah hinüber und bekam eine Gänsehaut. Er wusste sofort, was der sergent meinte. Es handelte sich um eine Art Pferch, hinter dem die Nhà Quês, die Bauern, normalerweise ihre Vorräte aufbewahrten. Auf Bodenhöhe und etwa in der Mitte konnte Montag einen Schatten, eine dunkle Stelle ausmachen, in der man, wenn auch nur mit Mühe, die Mündung eines Maschinengewehres erkennen konnte. Hätte Montag einen Blick durch das Fernglas getan, so hätte er bemerkt, dass die Stelle vor der vermeintlichen Mündung des feindlichen Maschinengewehrs feucht schimmerte.

Jemand hatte den Boden unmittelbar um die Mündung herum mit Wasser besprengt. Bei der Schussabgabe würde so der aufwirbelnde Staub die Position nicht verraten und dem Schützen wurde dadurch nicht die Sicht genommen.

Da waren erfahrene Guerilla am Werk!

Unmittelbar neben der Blende erhob sich die Fassade mehrerer abgelegener Hütten aus Bambus. Genau dort, so vermutete der sergent, hatte sich der Rest der feindlichen Guerilla, von deren Präsenz es außer dem vermeintlichen MG keinerlei Anzeichen gab, verschanzt.

»Gesehen«, sagte Montag und nickte.

»Gut. Wenn ich es dir sage, schießt du eine Gewehrgranate genau mitten rein. Wechsel danach sofort die Stellung und vergiss das Nachladen nicht, denn ich verspreche dir, es wird nach dem ersten Zusammenstoß richtig losfetzen. Gleichzeitig soll das MG Dauerfeuer schießen.«

Zum Zeichen, dass er verstanden hatte, streckte Montag seinen Daumen in die Höhe und zielte zwei Handbreit über dem Boden genau in die Mitte des Pferches. Dann wartete er mit angehaltenem Atem auf das Zeichen. Doch noch zögerte der sergent. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er schob sich den chapeau de brousse, den von der Sonne ausgebleichten Dschungelhut tief in den Nacken und wirkte recht unentschlossen. Am liebsten hätte er sich eine Zigarette angesteckt, doch aus Erfahrung wusste er, dass dies seine Letzte hätte sein können. Ein feindlicher Scharfschütze konnte überall stecken. Der Qualm hätte nur seine Position verraten und vielleicht den ganzen Auftrag infrage gestellt. Normalerweise hätte er nicht gezögert, das Dorf einfach anzugreifen, doch an seinen Unterarmen sträubten sich die Haare, was für ihn ein deutliches Zeichen war, dass dieser Tag noch einige Überraschungen bergen sollte. Nguyen Van Day, ein freiwilliger vietnamesischer Fallschirmjäger, ging lautlos neben den beiden in Stellung. Montag hatte ihn weder kommen hören, noch hatte er eine Bewegung gesehen.

»Was denkst du, Nguyen?«

Der kleine Vietnamese zuckte mit der Schulter.

»Sie sind da! Sie beobachten uns!«

»Und was werden sie tun?«

Nguyen grinste. »Wenn wir uns nicht beeilen, werden sie das tun, was sie bisher immer getan haben. Sie liefern ein kurzes Feuergefecht und weichen dann aus. Sie nehmen den Kampf nicht an, weiß der Teufel warum, aber ...«

»Aber was? Sag schon.«

»Irgendwie hab ich das Gefühl, dass etwas geschieht. Heute. Hier. Kann ich nicht weiter erklären.«

Irritiert schaute der sergent auf seine Uhr. Es war genau Mittag, Zeit also, an die leeren Bäuche seiner Legionäre zu denken. Er blickte zurück, auf die von der Sonne gebräunten, ungeduldigen Gesichter, dachte daran, wie alles begonnen hatte. Sie waren am 02. Juni, 1949 in der Plaine des Joncs südöstlich von Phnom-Penh abgesprungen. Es war der erste Gefechtssprung einer Kompanie des 2. BEP im Extrême-Orient überhaupt. Die Plaine des Joncs, die Ebene der Riedgräser oder Ebene der Binse, lag teils trocken, teils schwammig in der rasch untergehenden Sonne. Nur einigen wachsamen Legionären fiel auf, dass ein Schwarm Saruskraniche sie dabei beobachtet hatte. Ihre blutroten Köpfe verhießen nichts Gutes. Saruskraniche waren Symbol für Glück und Langlebigkeit.

Glück und Langlebigkeit?

Sicher, aber nur für die Vietnamesen.

Fremdenlegionäre wurden in diesem Land scheinbar nicht alt. Nach dem Sprung ging alles sehr schnell. Man sammelte sich am Boden: die eigentliche Operation, die darauf abzielte Ausbildungslager und Waffen- und Munitionsdepots ausfindig zu machen und die Basiscamps der Vietminh im zugewiesenen Sektor zu zerschlagen, konnte beginnen. Das Gebiet, in dem der Feind lauerte und jede ihrer Bewegungen beobachtete, lag etwa fünfunddreißig Kilometer südwestlich von Saigon und war nur einen Katzensprung von Kambodscha entfernt.


Vorbereitung für einen Hinterhalt.

So marschierten sie die ganze Nacht und den Morgen darauf. Die Nerven gespannte wie Drahtseile, hatten die Legionäre nichts oder nur ganz wenig zu sich genommen, denn die Rationen, die man ihnen gegeben hatte, waren verfallen. Das ganze Zeug war verdorben, ungenießbar. Bis zum 07. Juni war es jeden Tag dasselbe Spiel. Wecken vor Sonnenaufgang. Ein schneller Kaffee, etwas trockenes Brot mit Hartkäse in Dosen und schon waren sie wieder unterwegs. Signalisierten ihnen die vietnamesischen Fallschirmjäger ein Dorf, schwärmte die Kompanie sofort aus. Ein Zug umging im Laufschritt weitläufig den Ort und sicherte Zufahrtswege und Pisten, die dem Feind dazu dienen könnten, sich zu lösen. Innerhalb von Minuten wurden in diesen Abschnitten Hinterhalte angelegt. Ein weiterer Zug brachte sich in Schussweite zum Dorf in Stellung und der Rest der Kompanie drang in dieses ein. Alles geschah ohne Hektik, schnell und lautlos. Die Kompanie funktionierte wie ein Mann, wie eine gut geölte Maschine. Aber der Vietminh wusste Bescheid. Bestens über ihr Kommen informiert, spielte er Verstecken. Da, wo gerade eben noch ganze Banden von Vietminh gemeldet waren, fanden sich nur noch vage Spuren. Der Feind löste sich jedes Mal in Luft auf, sobald man sich den Dörfern näherte. Man fand Karten, schwere Waffen und ganze Kisten mit Munition, Material also, dass den Vietminh auf seiner Flucht nur behindert hätte, doch bis dato war die Operation ein Schlag ins Wasser. Erst spät, als die Nacht längst fortgeschritten war, kamen die Legionäre zur Ruhe.


Legionäre des 2. BEP bei Kämpfen an der RC 6, (Kolonialstraße 6).

Des Nachts wurden rund um das Biwak Sonettes, vorgezogene Alarmposten ausgelegt, die gespannt in die Dunkelheit lauschten. Es war eine nervenaufreibende Angelegenheit, weil der Feind immer und zu jeder Zeit plötzlich vor einem stehen konnte und weil nachts sich alles zu bewegen schien. Nur man selbst durfte sich kaum von der Stelle rühren. Dann plötzlich änderte der Vietminh seine Taktik, fiel Tag und Nacht wie ein gereizter Wasserbüffel über die Kolonnen der Legion her, nur um dann doch wieder auszuweichen. Bereits bei den ersten Kämpfen in der Gegend um Cay-Vong gab es Tote und Verwundete. Die Toten wurden noch vor Ort begraben, jedoch mussten für die Verwundeten Tragbahren angefertigt werden. Das Vorankommen in den Sumpfgebieten erwies sich als extrem schwierig. Teilweise reichten das Wasser und der braune Schlamm den Legionären bis über die Hüften. Im Nachhinein konnte niemand sagen, für wen die Strapazen größer waren. Für die Träger, die mühsam das Letzte aus sich heraus holten um keinen Kameraden zurückzulassen oder für die Verwundeten, die mit dem Schmerz, hervorgerufen durch die teils schrecklichen Verletzungen zu kämpfen hatten. Hinzu kam die Ausrüstung. Die musetten, das kleine Sturmgepäck, vollgepackt mit Munition, Gewehr- und Handgranaten, die Waffen, Stahlhelme und Wasserflaschen, Verbandszeug, Zeltplanen, Funkgeräte und, und, und. Alles musste getragen werden. Dazu war es drückend heiß und die Moskitos waren Tag und Nacht eine Plage. Ganze Kolonnen roter bissiger Ameisen fielen über die Legionäre her und überall wuchs Schilfrohr, überall war Morast und Wasser, Wasser, Wasser. Am besagten 07. Juni wandte sich das Blatt. Unweit von Cai-Lay und das spürte der drahtige sergent, der so viel von Montag hielt, dass er ihn zum Gewehrgranatenschützen auserkoren hatte, waren sie da. Zwischen dem Kanal Tong-Doc-Loc und dem Ort Cai-Lay dominierten Reisfelder die Landschaft bis zum Horizont. Sumpf, Kanäle, weites offenes Gelände. Es war eine Affenhitze. Schwül, feucht drückend brachte auch der ständig wehende Ostwind nicht die erhoffte Erleichterung. Die Legionäre, noch nicht richtig akklimatisiert, waren erschöpft müde und hungrig. Wenn alles gut ging, würde wohl bald eines der Schweine die es im Dorf sicherlich gab, ihre Töpfe und danach die Bäuche füllen. Dann konnte man auch etwas Schlaf bekommen.

Der sergent stieß einen Pfiff aus, hob seine Hand und ließ sie im Bruchteil einer Sekunde wieder sinken.

»Vorwärts. À l'assaut!«

Karlheinz Montag riss am Abzug, während die beiden Scharfschützen nach jeder noch so kleinsten Bewegung Ausschau hielten und das MG losratterte. Gleichzeitig erhob sich der Sturmtrupp und sprang los. Caporal Koesiling hatte Pech. Sein Gewehrriemen verhedderte sich und noch während er versuchte, sich loszureißen, indem er an dem Strauch zerrte, an dem er hängengeblieben war, wurde er von einer Maschinengewehrsalve fast in zwei Teile zerrissen. Er war sofort tot, der Krieg, der noch gar nicht richtig begonnen hatte, für ihn zu Ende. Noch im Laufen warf sergent Bouger eine Handgranate und schoss dann eine Garbe aus seiner Mat-49 genau auf die Stelle, von der ihm plötzlich Mündungsfeuer entgegenschlug. Die Legionäre stürmten von Deckung zu Deckung, drangen gewaltsam in die Hütten ein, wo sie von einer brüsk eingetretenen Stille empfangen wurden. Die Gebäude waren leer, nur am Boden der Zimmer direkt unter den Fenstern sah man leere Patronenhülsen, Zeugen, dass nicht alles nur ein Traum war. Und überall diese Blutspuren. Ein Schrei, dem ein trockenes Würgen folgte, ertönte vom Hinterhof. Man stürmte hinaus, wollte sehen, was geschehen war. Der belgische Legionär, der draußen stand, hatte einen Gummizug um seinen Stahlhelm US-M1, doch anstatt des üblichen Verbandpäckchens war dort eine blaue Schachtel Gauloises de troupe zu sehen – schwarzer, starker Tabak, gerollt in gelben Papier, nach der er nun mit zitternden Fingern griff.

»Fuck it. Schaut mal da hin.«

Er nickte in eine dunkle Ecke, die im Schatten hoher Bäume lag. An Pfählen, die der Vietminh in den Boden gerammt hatte, standen aufrecht zwei Soldaten. Die Arme weit über ihren Köpfen hatte man sie mit Lederriemen festgebunden. Sie waren nackt und blutüberströmt. Die weit aufgerissenen Augen, in denen kaum ein Funke Leben mehr zu erkennen war, sprachen von unmenschlichen Qualen, von einer Barbarei ohnegleichen. Ihre Füße bis hoch zu den Oberschenkeln waren eine einzige zerfleischte Wunde, aus der zerfetztes Fleisch, zerrissene Venen und scharfe Knochensplitter hervorragten. Nguyen deutete auf ein halbes Dutzend schwarz-gelb gefleckter Schweine, die etwas weiter entfernt standen und neugierig zu ihnen herüber äugten.

Sergent Bouger dämmerte es.

»Sie haben die Schweine an ihren Füssen fressen lassen?«

Ein Legionär übergab sich ohne Scham, während der sergent seine Maschinenpistole auf die Tiere richtete und das Feuer eröffnete. Später sollten sie feststellen, dass zwei der gefleckten Vierbeiner jeweils eine Erkennungsmarke an einer Schnur um den Hals trugen. Wie zum Hohn.

Bouger trat näher und erkannte an der Gravur, dass es sich bei den Opfern um Soldaten der französischen Marine handelte. Die beiden galten bereits seit einigen Tagen als vermisst, gefangen während einer anhaltenden blutigen Operation in der Nähe des Vaico Oriental Flusses, 25 Kilometer westlich von Saigon. Ihr Landungsboot hatte während der Kämpfe die Granate einer Bazooka abbekommen. Die beiden Soldaten, noch jung und relativ unerfahren, waren vor lauter Angst in den Fluss gesprungen, wo die Vietminh sie nur noch herausfischen mussten.

Bouger rümpfte die Nase. »Dieser Krieg wird mir langsam unheimlich. Bindet sie los und begrabt sie.«

Eine gutturale Stimme ließ Montag, der neben Bouger getreten war, herumfahren. Die MAS-36 im Anschlag, den Finger am Abzug, schlug sein Herz heftig in der Brust. Die Frau war halb nackt. Hinter ihr drängten andere Frauen und Kinder aus ihrem Versteck, einer überdeckten gut getarnten Kuhle im Boden. Aus großen Augen starrten sie den Legionären entgegen. Sie hatten Angst, zitterten am ganzen Leib.

»Wo sind die Männer?«, fragte Bouger gereizt.

Als der sergent keine Antwort erhielt, zeigte er auf ein Mädchen von höchstens fünfzehn Jahren und gestikulierte wild.

»Du. Die Männer. Wo sind sie hin?«

Er dachte an die beiden toten Marinesoldaten und verzog hasserfüllt sein Gesicht. An Montag gerichtet, sagte er.

»Hey Boche, erschieß das Mädchen.«

Er hatte, während er dies sagte, seine Stimme kaum erhoben, meinte es jedoch ernst. Montag war, als hätte ihm jemand einen Schlag ins Gesicht versetzt. Er riss seine Augen weit auf und schüttelte schließlich ganz energisch den Kopf.

»Augenblick, sergent. Ich führe keinen Krieg gegen Weiber. Lieber fünf Jahre Toiletten schrubben oder mit zentnerschweren Rucksäcken Kreise drehen, als jemals Hand an eine Frau legen.«

Er wich keinen Zentimeter von seiner Position ab, auch dann nicht, als der sergent nach seinem Colt griff, diesen durchlud und sich damit vor den Saarländer aufbaute. Einige Legionäre hatten sich inzwischen genähert. Auch sie trauten ihren Augen und Ohren kaum. Schließlich war es Nguyen der die Lage entspannte.

»Sergent, zeigen Sie Großmut. Die Frauen wissen nicht, wo ihre Männer sind. Und wüssten sie es, würden sie es uns nicht auf die Nase binden.«

Seine Stimme drückte unmissverständlich aus, was alle dachten.

»Man wird uns alle nach Colomb Béchar schicken, wenn wir anfangen, Frauen zu erschießen«, meinte Karlheinz Montag, der den Lauf seiner Waffe inzwischen gesenkt hatte. »Wir sollten lieber nach Spuren suchen. Vielleicht…«

Er hielt inne und legte den Kopf weit in den Nacken. Zwei Maschinen der Luftwaffe donnerten über ihre Köpfe hinweg. Einige Kilometer weiter entfernt ertönten gewaltige Explosionen, die Erde bebte. Nguyen schüttelte langsam den Kopf.

»Sie brechen aus. Die Angst sitzt ihnen im Nacken. Niemand kann sie mehr einholen.«

Nguyen sollte Recht behalten. Unter heftigen Gefechten löste sich der Vietminh vor der Flut der heranrückenden Paras der Legion. Enorme Verluste einsteckend, brach er aus und verschwand im Nirgendwo. Nach Osten, wie man später besser wusste. Sämtliche Versuche, den Feind zu stellen, waren vergeblich und auch ein weiterer Gefechtssprung nahe Bao-Cong, am 16. Juni, brachte nicht den gewünschten Erfolg, den der französische Stab sich von dieser groß angelegten Operation mit dem klangvollen Namen Tan-My erhofft hatte. Nach der Operation folgte für das Bataillon eine Phase, die etwas ruhiger war. Eigentlich konnte man damals von einem Bataillon im herkömmlichen Sinn kaum reden, denn die Kompanien des 2. BEP operierten räumlich wie zeitlich voneinander getrennt. Untergebracht waren sie in Orten mit so klangvollen Namen wie Kompong-Speu, Kompong-Luong, Ta-Khmau oder Kep. Sie alle befanden sich im Großraum Phnom-Penh, Sihanoukville oder an den Ufern des Tonlé-Sap, eines fischreichen Sees nahe bei Ankor Wat, einer der größten Tempelanlage von Kambodscha. Diese südliche Region, ein einziges gewaltiges Gewächshaus, war das Einzugsgebiet des Mekong. Weiße, knorrige Ochsen mit Höckern grasten auf saftigen Weiden, bunte, auf Stelzen errichtete Hütten mit farbigen Geisterhäusern verzierten die Landschaft. Plantagen mit diversen orientalischen Früchten sowie auch Zuckerrohr und Kokospalmen waren omnipräsent, vermischten sich mit sanft grünen Hügeln. Die Hauptverkehrswege bildeten die Flüsse. Rachs, künstliche Kanäle prägten weit verzweigt die Landschaft. Auf stillen Seen wuchsen lilafarbene Lotusblumen, während an ihren Ufern teils noch unbekannte Vögel brüteten. Doch diese Idylle war irreführend, denn der immer brutaler werdende Guerillakrieg draußen in den Reisfeldern nahm wöchentlich zu. Ein Hinterhalt hier, ein Handstreich dort, den Legionären blieb kaum Zeit, ihre Kantinen und Seesäcke richtig auszupacken. Neben den Kampfeinsätzen stand auch der langweilige aber notwendige Dienst in den verschiedenen Garnisonen an: Wache, Aufräumarbeiten, Einrichten der Unterkünfte, O.S. (Ordre Serré, Marsch mit Gesang). Alte Mauern wurden hier abgerissen, andere dort neu hochgezogen und weiß angestrichen. Man schliff Ecken und Kanten rund, bediente sich der fast unerschöpflichen menschlichen Qualität und der verschiedenen Berufe und Erfahrungen der Legionäre. Es folgten fein ausgeklügelte Manöversprünge und Ausbildung an Waffen und Gerät. War die taktische Gefechtsausbildung aufgrund der Erfahrung der Gruppen- und Zugführer - viele hatten sich bereits im Zweiten Weltkrieg oder auf anderen Schlachtfeldern ihre Sporen verdient, zwar ein wichtiges Element, so sollte man nicht vergessen, hinzuzufügen, dass vor allem die jungen Legionäre sich ihre Erfahrungen doch fast ausschließlich im Einsatz holten und dies fast auf einer täglichen Basis. Sport wurde in den Einheiten betrieben, wann immer es ging. Im Gelände und um die kleinen Außenposten der Franzosen, sowie im Laufe der unzähligen Patrouillen tauchte der Vietminh immer dann auf, wenn man ihn am wenigsten erwartete. Er schlug blitzartig zu und verschwand ebenso schnell wieder im Gewirr der Kanäle, der Wälder und der bis zum Horizont reichenden Reisfelder. Dabei hinterließ er jedes Mal einen bitteren Nachgeschmack, Tote und Verletzte und das wiederum schürte Hass.


Das 2. BEP marschiert an zwei Aufklärungsflugzeugen ´Fieseler Storch` vorbei.

Es ist bitter zu sagen, doch für die Legionäre des 2. BEP war es im Grunde ein Segen, denn im Rhythmus, in dem die Zeit verging und die Zahl der Toten und Verletzten stieg, schmiedete sich eine homogene, im Kampf erprobte und solide Einheit zusammen. Man vertraute einander, wusste, es gab immer einen Kameraden, der einen aus einer verfahrenen Situation heraushaute. Und was noch wichtiger war: Es entstanden Freundschaften, die ein Leben überdauern würden. Die Solidarität unter Fallschirmjägern der Legion, dieses blinde Vertrauen und die enge Verbundenheit einer ganz speziellen Truppe, das waren plötzlich nicht nur mehr Worte, die einige verkalkte Stabsoffiziere gar nicht gerne aussprachen: Nein! All das wurde peu à peu Realität. Auch der Mantel der gemütlichen Gediegenheit alter Zeiten einer alternden Truppe wich, verdrängt von einer extremen Mobilität und einer Führergilde, die schnelle und richtige Entscheidungen traf. Was blieb, war eine Truppe, die den Feind überraschte. Die Kompaniechefs, durch die Bank erfahrene auch im Kampf erprobte Offiziere, hatten so viel Charisma, dass man nur von der Kompanie Caillaud, Cazaumayou oder der Kompanie Verguet sprach. Das war wahrhaftig ein Phänomen. Diese Offiziere, Leutnant Cabiro nicht vergessend, hauchten den Paras der Legion des 2. BEP einen dynamischen Geist ein, der schon bald darauf überall in Indochina von sich reden machen würde.

Anm. d. A: Es gab im Bataillon im Laufe der Jahre einige Umgruppierungen. 1951 wurde das 2. BEP zum ersten Mal reorganisiert. Weitere Umgruppierungen oder Reorganisationen folgten. Namen tauchen plötzlich auf und verschwinden wieder. Letzteres ist ein normaler, wenn auch bedauernswerter Prozess. Ein Legionär - egal welchen Dienstgrad er innehat - fällt, der Nächste rückt nach, füllt die entstandene Lücke.


Flughafen Tan Son Nhut, Saigon 1951.

Die ersten Aufträge des 2. BEP waren vielseitiger Natur und so kam es, dass die Kompanien teils in Saigon Dienst taten, teils nach Phnom-Penh als Eskorte für diverse Konvois abgestellt wurden oder zum Schutz der Kolonialstraße-1 beitrugen. Mindestens eine der Kompanien, zu Beginn war es die ´Dritte`, war ständig auf dem Gelände des nahen Flughafens Tan Son Nhut in der Hauptstadt untergebracht. Eine nach der anderen unterstanden die Einheiten der Halbbrigade der kolonialen Fallschirmjäger als Interventionstruppe, was hieß, sie befanden sich in ständiger Alarmbereitschaft: Die Feuerwehr für Kambodscha und Cochinchina! Es herrschte eine angenehme, wenn auch manchmal angespannte, Ruhe. Doch der Schein trog. Keiner mochte es wahrhaben, aber eines zeichnete sich unter der Nase der Kolonialherren deutlich ab: die Zeit des Vietminh war gekommen!

INDOCHINA. Der lange Weg nach Dien Bien Phu

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