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Der Tambour - Honneur et Fidélité

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Russland unweit von Stalingrad. Todeslager Beketowka, Anfang 1947. Joachim Wegener fror. Wie all seine Kameraden aß er Gras um zu überleben. Vor dem Fleckfieber, dem die Gefangenen zu Tausenden erlagen, schützte das kaum. Doch er war am Leben, konnte sich glücklich schätzen. Tausend andere hatten dieses Glück nicht. Sie waren bereits bei den brutalen Märschen durch die vereiste Steppe gestorben. Kein deutscher Soldat kommt hier jemals wieder weg. Beketowka wird euer Grab sein. Er dachte an das Versprechen des Kommandanten des Lagers. Es waren gleichzeitig die ersten Worte, die er zu hören bekommen hatte, bevor sich die Tore hinter ihm wieder schlossen. Nun starrte er an die Decke, die kaum fünfzig Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war. Um ihn herum war es dunkel, eiskalt und trostlos. Sein Atem ging schwer. Er schloss die Augen, verfluchte sich innerlich. Ihr Fluchtversuch war gescheitert. Sie hatten Kamerad Hellwig und ihn zu einem Zeitpunkt erwischt, an dem sie sich längst schon in Sicherheit wiegten. Daraufhin folgte die übliche Prozedur. Sie wurden beleidigt, geschlagen und bespuckt und dann, als ob dies nicht genug wäre, auch noch ausgelacht. Doch dieses Mal war es anders. Hellwig, der bereits zum zweiten Mal bei einem Fluchtversuch erwischt wurde, hatte einen der Verfolger getötet. Man stand generell gut mit dem russischen Wachpersonal, besser zumindest als damals unmittelbar nach der Kapitulation vor Stalingrad. Doch für nicht korrigierbare Flüchtlinge und Mörder konnte es nur eine Strafe geben. Unweit des Erdlochs, in das man Wegener zur Strafe gesteckt hatte, fiel ein Schuss. Ein leises Wimmern folgte. Ein zweiter Schuss bereitete dem Jammern ein Ende.

Beketowka wird euer Grab sein!

Wegener hätte verzweifelt sein müssen, doch er verzog das Gesicht zu einem bitteren Grinsen. Er war jung, dachte nicht im Traum daran, sich von solchen Parolen von seiner Grundidee zu entfernen: dem absoluten Willen, frei zu sein! Sollte er in Russland sterben, dann bei einem weiteren Fluchtversuch. Doch ans Sterben dachte Joachim Wegener noch lange nicht. Darüber hingegen, wohin seine Flucht ihn führen sollte, falls sie ihm, woran er keine Sekunde zweifelte, eines Tages gelang, hatte er noch keinen einzigen Gedanken verschwendet. Ihn fröstelte es bei der Idee, nach Deutschland zurückzukehren. In ein Deutschland, das ihn belogen und das seine totale Entmachtung durch einen Verrückten zugelassen hatte. Zurück in ein Land, in dem Begriffe wie Treue und Pflichterfüllung nur in den Zeiten Sinn machten, in denen es den Verantwortlichen gut ging. Wieder schloss er die Augen während Hunger und Durst in seinen Eingeweiden wühlten und die Kälte ihm mit ihren eisigen Fingern langsam den Verstand raubte.

Treue und Pflichterfüllung.

Seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit. Sie verweilten bei einem alten bärtigen nach Schnaps und Tabak stinkenden Mann, dem er einst im Hafen von Marseille begegnete. So geschehen im Jahr 1935. Seine Eltern machten mit der Familie Urlaub in der Provinz, der Abstecher in den Hafen war seit langem geplant. Joachim Wegener, damals knapp dreizehn Jahre alt, gab sich höchst interessiert über Land und Leute. Als er den Mann sah, richtete er voller Neugier seinen Blick auf den Tambour, den dieser behutsam in den Händen hielt. So behutsam, als wäre er zerbrechlich. Der Fremde grinste ihn an.

»Kannst wohl kein Französisch, hm?«

»Doch, oui, bien sure«, entgegnete Joachim und trat von einem Bein aufs andere. Er hatte Französischunterricht, war darin der Beste seiner Klasse. Dem alten Soldaten - denn es war ein alter Soldat, das sah man an seinen Narben im Gesicht und an den verschlissenen Uniformteilen die er versteckt, doch nicht versteckt genug trug, entging Joachims voller Neugier erfüllte Blick nicht. Mit einem Ruck stand er auf, nahm das Musikinstrument und streckte es dem Jungen entgegen.

»Le Maroc, c'est fini«, sagte er erleichtert. »Nimm, aber halt ihn in Ehren, genauso wie ich es die ganzen Jahre über gemacht habe. Mit Ehre und Treue, mein Junge, mit Honneur et fidélité.«

Honneur et fidélité!

Dieselben Worte standen auch auf dem grün-roten Wimpel, der sich um den Tambour schlang. Détachement du 2. Bataillon, Beni-Ounif avec Honneur et Fidélité! Der Mann stand auf, warf noch einmal einen Blick über seine Schulter hinunter zum Hafen, wo eine lange Reihe von Soldaten mit weißen Képis sich anschickte, ein Frachtschiff zu verlassen. »Fini«, sagte er noch einmal erleichtert und trat auf die Straße. Augenblicklich wurde er von einem Lastwagen erfasst. Zum ersten Mal in seinem Leben erlebte Joachim den Tod aus nächster Nähe. Was blieb, waren die Erinnerungen und der Tambour des alten Legionärs. Warum Joachim Wegener gerade jetzt, zwölf Jahre später an den Tambour dachte, der wohl noch im zerbombten Berlin auf seinem Schrank im Keller lag, das wusste er ganz genau. Er sehnte sich dorthin, wo Werte wie Treue, Ehre und Pflichterfüllung eben nicht nur Worte waren. Und dann dachte er daran, dass er bei seinem nächsten Fluchtversuch die Kräfte sparen musste, denn er hatte noch einen weiten Weg vor sich.

INDOCHINA. Der lange Weg nach Dien Bien Phu

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